Der Eindringling von Jeffery Deaver

 

Erst ruhig erzählter Kriminalroman um Schlösser und mehr mit wissenschaftlichem Touch, dann Actiongeladener Thriller voller Twists

 

Inhalt: Als die junge Influencerin Annabelle Talese nach einem Abend mit ihren Freundinnen, bei dem sie höchstens ein oder zwei Gläser Wein zu viel getrunken hat, aufwacht, merkt sie, dass etwas nicht stimmt. Das Fenster, das sie stets geschlossen hält, steht einen Spalt weit offen. Ihre Hausschuhe findet sie nicht an ihrem angestammten Platz und als die Erkenntnis sich Bahn bricht, dass sie nicht selbst in angetrunkenem oder schlafwandelndem Zustand diese Gegenstände umgestellt hat, ist es beinahe zu spät, um an eine Flucht und damit ein Entkommen aus ihrer Wohnung zu denken. Der forensische Experte Lincoln Rhyme nimmt an der Seite von seiner Frau, Detective Amelia Sachs, die Ermittlungen in diesem rätselhaften Fall auf.

 

Zur Einordnung in die Lincoln-Rhyme-Reihe

“Der Eindringling” stellt den bereits 15. Fall dar, den Deaver für Lincoln Rhyme und Amelia Sachs ersonnen hat. Obwohl dies nicht mein erster Lincoln Rhyme-Krimi gewesen ist, sind mir die unmittelbaren Vorgänger “Des Eindringlings” nicht bekannt gewesen. Insofern ist mir entgegengekommen, dass Deaver für seinen Roman einen ruhigen Einstieg gewählt hat, der es ihm gestattet hat, wesentliche Figuren wie Lincoln Rhyme, seine Frau Amelia und das gesamte Team, mit dem sie gemeinsam ihre Fälle bearbeiten, ausführlich vorzustellen. Das schließt deren Verhältnis zueinander sowie relevante Details aus ihrer Vergangenheit, um deren Hintergrund zu erläutern, mit ein. Damit ist “Der Eindringling” meiner Ansicht nach sogar für den Einstieg in die Reihe geeignet, sofern der Leser bereit ist, sich auf eine längere Einleitung einzulassen, die insbesondere Ereignisse aus den vorherigen Bänden um Lincoln Rhyme erwähnt.

 

Beschreibung der Hauptfiguren Rhyme und Sachs

Rhyme, der seit einem Unfall auf einen Rollstuhl angewiesen ist, sieht sich selbst als Wissenschafts-Cop im Gegensatz zu seiner Frau Amelia an, die für ihn ein Polizist ist, der seinen Job von der menschlichen Seite her angeht. Denn Amelia ist das Schicksal der Opfer wichtig und auch das Leid von ihren Angehörigen geht ihr nahe, in die sie sich hineinzuversetzen vermag. Die Stärke von Rhyme bei der Aufklärung von Fällen liegt in der Kombination seiner forensischen Expertise, seiner Deduktionsfähigkeiten sowie seiner detaillierten Kenntnis der Spezifika der Stadt New York begründet. Dabei ist Deaver in Rhyme eine moderne Variante der klassischen Sherlock Holmes-Figur gelungen, was sich etwa darin zeigt, dass Rhyme, der ganz auf seine Arbeit fokussiert ist und lediglich damit in Zusammenhang stehendes Wissen anhäuft, nicht weiß, was eine Influencerin ist. Die attraktive, hoch gewachsene Amelia hingegen ist neben ihrer Hingabe für den Beruf eine ausgezeichnete Schützin, die an Wettbewerben teilnimmt, und hat eine Leidenschaft für Autos wie ihren Ford Torino.

 

Forensische Expertise trifft auf die Kunst des Schlösserknackens in fast schon wissenschaftlichen Kontext

Dass die Spannung im ersten Teil des Eindringlings, der den ersten Tag beschreibt, nicht zu kurz gekommen ist, liegt darin begründet, dass Deaver zu Beginn recht ausgewogen aus Täter- bzw. Ermittler-Sicht erzählt, wenn er von Kapitel zu Kapitel die Perspektive wechselt. Auf diese Weise bietet der Autor tiefe Einblicke in die Gedankenwelt des Einbrechers, der sich selbst der Schlosser nennt und der sich etwa Zutritt zur Wohnung von Annabelle Talese verschafft hat. Durch seine außerordentliche Kunstfertigkeit im Knacken von Schlössern hebt er sich von anderen Verbrechern ab. Der wissenschaftliche Ansatz, den Deaver in seiner Lincoln-Rhyme-Reihe verfolgt, beschränkt sich damit in diesem Krimi nicht allein auf die Ermittler-Seite, sondern schließt ebenso die des Täters mit ein. Denn der liefert in seinen zur Schau gestellten Gedankengängen ausführliche Erklärungen zu Schlössern wie unter anderem zu deren Geschichte, zu besonderen Schlössern und den unterschiedlichen Arten, auf denen sich diese überlisten lassen, um sie zu öffnen. Dabei spielt der Autor seine Stärke aus, die in präzisen Recherchen des wissenschaftlichen Hintergrundes der in seinen Roman integrierten Bestandteile besteht und die im vorliegenden Fall beispielsweise Schlösser in ihrer ganzen Vielfalt betreffen.

 

Durch das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem überaus vorsichtigen Täter, der zwar keine forensische Ausbildung besitzt, aber sehr bemüht ist, keine Spuren zu hinterlassen, und Rhyme sowie seinem Team, wird von Deaver zu Beginn Spannung aufgebaut, obwohl an sich erst einmal so wenig passiert, dass der Roman wohl nicht einmal die Betitelung Thriller verdient hat. Denn der Schlosser begeht quasi keinen Fehler und so gelingt es Rhyme trotz aller Anstrengungen nicht, verwertbare Spuren zu finden, um dem Täter auf die Schliche zu kommen. Das passt zu der konzentrierten Erzählweise, für die der Autor sich in seinem Roman entschieden hat, der sich auf einen Zeitraum von wenigen Tagen beschränkt.

 

Zum Spannungsaufbau im weiteren Verlauf dieses Kriminalromans

Im weiteren Verlauf “Des Eindringlings” schaltet Deaver dann ein paar Gänge hoch, indem er seine Handlung rund um die kriminalistische Ermittlung um mehr als nur eine spannungsgeladene Action-Szene anreichert. Die Entwicklung von einer klassischen Kriminalhandlung, die durch ihre eher ruhige, da wissenschaftlich orientierte Erzählweise geprägt ist, hin zu einem Action-Thriller geht dabei erstaunlich harmonisch vonstatten. Das gelingt dem Autor unter anderem durch Einführung neuer Figuren, denen dann eine größere Bedeutung im weiteren Verlauf zugestanden wird. Die Twists im letzten Drittel dieses Romans konnten mich überraschen, weil sie für mich unerwartet gekommen sind, obgleich sie in sich schlüssig sind.

 

Mein Fazit

“Der Eindringling” stellt für mich einen gelungenen Band der Lincoln-Rhyme-Reihe dar, der jedoch über weite Strecken des ersten Teils der Bezeichnung Thriller nicht gerecht wird. Stattdessen bietet sich dieser Kriminalroman wegen seiner recht ausführlich geratenen Einleitung aber als Einstieg in die Reihe um Lincoln Rhyme an, sofern ein gewisses Interesse beim Leser für Schlösser und deren Geschichte oder für eine wissenschaftliche Herangehensweise in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themen vorhanden ist.

 

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Midnight Lock
  • Herausgeber: Blanvalet
  • Erscheinungsdatum: 15. November 2023
  • Seitenzahl: 496
  • ISBN-10: 3764508418
  • ISBN-13: 978-3764508418
  • Preis: 22 €