Rezensionen im Dezember 2023

 

Im Dezember habe ich mich in der von Anders de la Motte ausgelegten "Stillen Falle" verloren, atemlose Spannung in der Parry Institution von Helen Fields genossen, mich im erst idyllisch anmutenden Küstenort Hithechurch dank Jen Williams gegruselt ("Die Totenbraut") und mich von Lehane in die Abgründe, die sich im Boston der 70er Jahre auftun, entführen lassen ("Sekunden der Gnade").

 

28. Dezember 2023: Stille Falle von Anders de la Motte

21. Dezember 2023: The Institution von Helen Fields

14. Dezember 2023: Die Totenbraut von Jen Williams

7. Dezember 2023: Sekunden der Gnade von Dennis Lehane

 

  

28. Dezember 2023: Stille Falle von Anders de la Motte

 

Abgründiger erster Fall für eine besondere Ermittlerin

 

Zum Inhalt: Die junge Smilla und ihr Freund Malik Mansur, genannt MM, planen ein besonderes Abenteuer, bevor sie für ihr Studium nach Paris zurückkehren wird. Die beiden interessieren sich für Urban Exploration und lassen sich so von der Aussicht auf einen Höhlenregen, bei dem sich Feuchtigkeit unterirdisch in derart hohem Maße sammelt, dass diese wie Regentropfen nach oben steigt, in einen lange vergessenen Bunker locken. Denn dieser stellt ein extrem seltenes Phänomen dar. Doch in der alten Bunkeranlage wartet nicht nur der erhoffte Höhlenregen auf sie, sondern auch das Grauen.

 

Zur Charakterisierung von Leo Asker als ungewöhnlicher Heldin und Hauptfigur

“Stille Falle” ist der erste Fall für Kriminalinspektorin Leonore Asker, die Gruppenleiterin in der Abteilung für Kapitaldelikte ist. Als solche übernimmt sie die Ermittlung im Fall des Verschwindens von Smilla und Malik, bis ihr diese durch eine Intrige ihres ehemaligen Vorgesetzten und ihrer Mutter aus der Hand gerissen wird, als sie in die Abteilung für hoffnungslose Fälle und verlorene Seelen zwangsversetzt wird. Deren Arbeitsräume sind in einem unteren Stockwerk gelegen, von dessen Existenz Asker zuvor nicht einmal etwas geahnt hat. In diesem Kriminalroman, der kunstfertig aus unterschiedlichen Perspektiven auf mehr als einer Zeitebene erzählt wird, die sowohl in der Gegenwart als auch der Vergangenheit angesiedelt sind, ist Hauptfigur Leo das Highlight. Ihr Äußeres besticht durch ihre zweifarbigen Augen, mit deren ungewohnten Blick sie jeden Kontrahenten niederstarren kann. Geprägt wurde sie jedoch durch ihre besondere Jugend, in der ihr in hartem Training eine Vielzahl einzigartiger Fähigkeiten angeeignet wurden.

 

Zur Bandbreite der Nebenfiguren und deren Gewichtung im Roman

Im Vergleich zu Asker fallen die anderen wesentlichen Figuren dieses Kriminalromans deutlich blasser aus, obgleich es Anders de la Motte gelingt, auch deren Gedankengänge glaubwürdig zu vermitteln und damit deren Handlungen nachvollziehbar werden zu lassen. So hätte ich mir gewünscht, dass der Autor sich mehr auf Leo konzentriert hätte und damit die in “Stille Falle” erzählte Geschichte primär aus ihrer Perspektive wiedergegeben hätte. Statt etwa Askers Jugendfreund und Urban Exploration Experte Martin Hill derart viel Raum zu geben, hätten zusätzliche Sichtweisen von Nebenfiguren eingebunden werden können. Dafür hätten sich beispielsweise die Mitglieder von Askers neuem Team in der Abteilung für hoffnungslose Fälle oder auch sein ehemaliger Leiter, dessen Stelle von Leo übernommen worden ist, angeboten. Denn De la Motte besitzt ein Talent, wenn es um die Charakterisierung von schrägen oder zumindest speziell zu nennenden Figuren geht, die er in seiner aufmerksamen Beschreibung nie zur Karikatur verkommen lässt. Das hat der Autor etwa bereits in seiner Österlen-Reihe, in der Peter Vinston im ländlichen Schweden Morde aufklärt, unter Beweis gestellt. Erstaunlicherweise kommt dies jedoch in der düster gehaltenen “Stillen Falle” besser zur Geltung als in der genannten Cozy Crime-Reihe.

 

Ungewöhnliche Themen von Urban Exploration bis hin zu einem Miniatur Wunderland

Die Abgründe, die sich in diesem Kriminalroman auftun, liegen in der Schilderung von Askers traumatischer Kindheit und den Kapiteln, die die Sichtweise des Täters, der sich selbst “Der Troll” nennt, wiedergeben und die seine Entwicklung beginnend in seiner Kindheit verfolgen, begründet. Darüber hinaus ist die Gegenwart von der fieberhaften Suche nach der aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Smilla geprägt. Diese reichert De la Motte in passender Weise um ungewöhnliche Themen an. Dabei bildet neben der Modelleisenbahn Landschaft, die vom Verein in jahrzehntelanger Arbeit gebaut wurde und damit beeindruckende Maße abnimmt, die Erforschung von Lost Places einen thematischen Schwerpunkt. Doch sogar da gelingt es dem Autor, dieser märchenhaften Heile-Welt-Szenerie, die an das real existierende Miniatur Wunderland in Hamburg erinnert, einen unheimlichen Touch zu geben.

 

Mein Fazit

Dieser Kriminalroman, der es auf mehr als fünfhundert Seiten bringt, hatte zwar keine Längen für mich. Weil teilweise durch die Beschreibung unterschiedlicher Blickwinkel oder auch der Schilderung von Vergangenheit und Gegenwart Punkte doppelt wiedergegeben wurden, wie etwa die Enthüllung einer von Askers besonderen Fähigkeiten, die sie durch ihr hartes, ungewöhnliches Training entwickelt hat, hat das nur beim erstmaligen Erzählen für einen Überraschungsmoment bei mir gesorgt, der beim zweiten Mal nicht mehr vorhanden gewesen ist. Da hätte es meiner Ansicht nach ausgereicht dies nur einmalig zu beschreiben, um stattdessen zum Schluss hin zumindest ein längeres Kapitel aus Sicht eines unerwarteten Täters einzuschieben, das in der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit angesiedelt ist, um dessen Entscheidungen im Speziellen und Verhalten im Allgemeinen nachvollziehbarer werden zu lassen.

4,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Bortbytaren
  • Herausgeber: Droemer
  • Erscheinungsdatum: 1. Dezember 2023
  • Seitenzahl: 528
  • ISBN-10: 342630953X
  • ISBN-13: 978-3426309537
  • Preis: 16,99 €

 

21. Dezember 2023: The Institution von Helen Fields

 

Stimmungsvolle Kulisse trifft auf abgründige Psychopathen und ein grausames Verbrechen

 

Zum Inhalt: Die hochschwangere Krankenschwester Tara, die in der Abteilung H in der Charles Horatio Parry Institution for the Rehabilitation of the Criminally Insane tätig gewesen ist, ist brutal ermordet aufgefunden worden. Auf dieser Station sind die gefährlichsten Insassen dieser psychiatrischen Spezialklinik für Hochsicherheitspatienten untergebracht. Doch die Zeit drängt nicht nur auf der Suche nach dem Täter. Denn Taras ungeborenes Baby wurde geraubt. Die verzweifelte Familie schaltet Profilerin Dr. Connie Woolwine ein, die undercover zu ermitteln beginnt.

 

Beschreibung von Profilerin Dr. Connie Woolwine und Einordnung in die Reihe

“The Institution” ist nach “The Shadow Man” der zweite Band der Reihe von Helen Fields um Dr. Connie, wie sie sich in der Parry Institution nennt, um ihre wahre Identität nicht zu verraten. Für mich ist es das erste Buch gewesen, in dem ich diese Profilerin kennengelernt habe. Dabei konnte ich diesem Thriller gerade in dessen erster Hälfte gut folgen, weil die Autorin relevante Hintergrundinformationen zu Connies bisherigem Leben und den zuvor von ihr gelösten Fällen nebenher hat mit einfließen lassen. Im weiteren Verlauf dieses Romans hat Connie jedoch in immer stärkerem Ausmaß mit ihrer eigenen belastenden Vergangenheit zu kämpfen gehabt, als sie fälschlicherweise als junge Frau in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden ist, da sie aufgrund eines physischen Problems, das sich später operativ beheben ließ, nicht mehr sprechen konnte. So hat sich Connie in "The Institution" nicht nur mit einem grausamen Verbrechen auseinanderzusetzen, eine Gruppe psychopathischer Serienmörder zu analysieren, von denen jeder einzelne als potentieller Täter für den brutalen Mord in Frage kommt, ein entführtes Baby zu finden, das aufgrund der frühen Geburt schnellstmöglich medizinisch behandelt werden muss, um sein Überleben zu sichern, sondern sich auch den Dämonen zu stellen, die in den von ihr erlittenen Traumata begründet liegen. In diesem Zusammenhang hätte ich mir jedoch gewünscht, dass Helen Fields der Entwicklung von Connie mehr Zeit und Raum gegeben hätte, um diese für mich nachvollziehbarer werden zu lassen. Vor diesem Hintergrund ist "The Institution" möglicherweise aber weniger gut als Einstieg in die Reihe geeignet und es lohnt sich Connie, die in ihren Eigenheiten und ihrer besonderen Arbeitsweise schon unter normaleren Umständen ein sehr spezieller Charakter ist, in "The Shadow Man" kennenzulernen.

 

Zur Parry Institution als stimmungsvoller Schauerkulisse für diesen Thriller

In diesem Thriller ist die einzige Person in der Parry Institution, die über den Undercover-Einsatz von Connie, bei dem sie von ihrem Partner begleitet wird, Bescheid weiß und ihre wahren Identitäten kennt, deren Direktor Kenneth Le Fay. Neben dem hohen Erzähltempo in diesem Roman, das durch dessen enge Taktung gegeben ist und damit die Spannung hochtreibt, ist dessen Schauplatz das Highlight. Denn die abgeschieden zwischen See und Bergen gelegene Parry Institution stellt als trutziges Bauwerk fast schon einen Affront gegen die Natur dar, wenn sie als ehemalige Festung mit ihren Türmen das Bergmassiv zu imitieren sucht. Diese Anstalt bildet eine perfekte Kulisse für diesen Thriller, die dessen unheimliche Atmosphäre unterstreicht. Das gilt gleichermaßen für Szenen, die draußen spielen, wie bei deren erster Sichtung im Anflug durch Connie oder bei einem einsamen Spaziergang am Wasser im Sturm, aber auch in ihrem Inneren, wenn Connie etwa durch deren ausufernde Kellergewölbe auf der Suche nach Hinweisen irrt.

 

Kleine Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge

Längen haben sich bei mir in “The Institution” auch aufgrund der dichten Taktung von Ereignissen keine eingeschlichen. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass Helen Fields die Beschreibung der in der Abteilung, für die die ermordete Tara tätig gewesen ist, eingewiesenen psychopathischen Serienmörder, die im weiteren Verlauf des Thrillers einzeln von Connie befragt werden, stärker variiert hätte. So wirkten diese Gespräche ab einem gewissen Zeitpunkt eher repetitiv auf mich, da sie einander zu sehr geähnelt haben. Stattdessen hätte ich gern mehr über einen überraschend zum Schluss enthüllten Täter erfahren, den ich tatsächlich früh im Verdacht gehabt habe. Dabei hätten mich mehr Hintergrundinformationen zu dieser Figur und insbesondere zu deren Motiv interessiert. In diesem Zusammenhang wäre für mich zumindest ein Kapitel, das unmittelbar vor dem Finale und der damit einhergehenden Auflösung die begangenen Verbrechen aus Tätersicht beschreibt, ideal gewesen.

 

Mein Fazit

“The Institution” hat etwas von der Profiler-Serie Criminal Minds und der französischen Fernseh-Produktion Profiling Paris. Damit ist dieser Roman zwar definitiv nicht für Zartbesaitete geeignet, aber ideal für Fans der Psychologin Chloé Saint-Laurent, an die mich Connie tatsächlich ein wenig erinnert hat. Was “The Institution” von der Masse anderer Thriller abhebt, ist jedoch die Kombination aus stimmungsvoll düsterer Schauerkulisse und hohem Spannungslevel, das auf ungewöhnliche Täter trifft.

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Institution
  • Herausgeber: dtv
  • Erscheinungsdatum: 16. November 2023
  • Seitenzahl: 448
  • ISBN-10: 3423263768
  • ISBN-13: 978-3423263764
  • Preis: 17 €

Dr. Connie Woolwine-Reihe:

  • Band 1: The Shadow Man
  • Band 2: The Institution

 

14. Dezember 2023: Die Totenbraut von Jen Williams

 

Ruhig erzählter, durch seine unheimliche Atmosphäre bestechender Thriller über die Abgründe in einem malerischen Küstenort

 

Zum Inhalt: Der an der britischen Küste gelegene Ort Hithechurch birgt mehr als nur ein dunkles Geheimnis, nachdem erst vor wenigen Monaten die Teenagerin Cherryl spurlos vom Strand verschwunden ist. Sie hatte sich am helllichten Tag nur ein wenig von ihrer Familie entfernt, um Ruhe vor ihren jüngeren Cousins und Cousinen zu haben. Auf dessen Campingplatz kehrt Charlotte Watts, die Charlie genannt wird, nach jahrzehntelanger Abwesenheit zurück. Denn in ihrer Kindheit und damit längst vergangenen Zeiten hat sie dort den Sommer mit ihrer großen Familie verbracht, bis ein schreckliches Ereignis ihr Leben für immer verändert hat.

 

Abwechslungsreiche Erzählweise auf verschiedenen Zeitebenen

Abwechslungsreich wird “Die Totenbraut”, die im englischen Original den passenderen Titel "Games for Dead Girls" trägt, von Jen Williams aus mehr als einer Perspektive auf verschiedenen Zeitebenen erzählt. Dazu zählen neben der Sichtweise von Hauptfigur Charlie, die in der Vergangenheit und Gegenwart wiedergegeben wird, in der sie sich Sarah nennt, damit sie unerkannt nach Hithechurch zurückkehren kann, auch die Lebensgeschichte von Derek, der der Sohn eines angesehenen Chirurgen ist. Ursprünglich hatte Charlie für Sarah als Vorwand für ihren Aufenthalt dort ersonnen, dass sie Schriftstellerin ist, die ein Buch über die Volkssagen von Hithechurch verfassen will. Dass Charlies Recherchen in diesem Zusammenhang im weiteren Verlauf des Romans jedoch mehr und mehr Raum einnehmen, hat diesem Thriller gut getan. Denn Jen Williams hat dabei die Gelegenheit genutzt, eine Vielzahl von unerwarteten alten und modernen Legenden zu erzählen, die sich in diesem Küstenort zugetragen haben sollen. Diese reichen von Geister- und Piratengeschichten über Mafia-Morde im Stil der Sopranos bis hin zu einem Höhlensystem, in dem Einwohner, die dort im Krieg Schutz und Zuflucht gesucht haben, verschüttet und lebendig begraben worden sein sollen.

 

Von der düsteren Legende um Stitch Face Sue

“Die Totenbraut” ist erst über weite Strecken durch die ruhige Erzählweise der Autorin geprägt, wenn für lange Zeit recht wenig passiert. Intensität wird dabei jedoch durch die  Integration der Abgründe, die sich in der Vergangenheit des malerischen Ortes Hithechurch auftun konnten, durch Charlies eigene Ängste und ihre sie belastende Vergangenheit erzeugt, mit der sie zu kämpfen hat. Auf diese Weise wird eine unheilvolle Atmosphäre aufgebaut, die Ungutes erahnen lässt und die im weiteren Verlauf dieses Thrillers immer unheimlicher wird. Dafür lässt Jen Williams ihre Protagonistin Charlie im Januar nach Hithechurch zurückkehren, so dass sich von Beginn an das eindringlich beschriebene, unwirtliche Wetter mit eisigen Klauen beim Lesen bei mir eingegraben hat. In stimmiger Weise wird das von der Legende um Susan Cartwright ergänzt, die eines der Highlights in diesem Roman darstellt. Für diese sagenhafte Gestalt, die auch als Stitch Face Sue bekannt ist und deren Jahrestag im Sommer mit großen Feierlichkeiten begangen wird, konnte Charlie sich als Kind begeistern und dabei ihre Leidenschaft ausleben, Geschichten zu erzählen, wenn sie Legenden in freier Variation weitergesponnen hat.

 

Inspiriert von einem wahren Verbrechen aus dem Jahr 2015

Im Finale “Der Totenbraut” zieht Jen Williams deutlich die Spannungsschrauben an, wenn sich die Ereignisse überschlagen und der Blutzoll steigt. Damit ist dieser Thriller nicht gut für Zartbesaitete geeignet, die dessen ruhiger Beginn darüber hinwegtäuschen kann. Zwar wartete die Autorin zum Schluss mit einer schlüssigen Auflösung auf, die sich zuvor schon von mir erahnen ließ. Jedoch habe ich den Übergang zwischen atmosphärischen Psychothriller, der von der Frage nach Wahn und Wirklichkeit dominiert wird und damit spielt, welche der Schrecken sich nur in den Köpfen der beteiligten Personen abspielen, bzw. der um die Vielzahl von modernen Legenden kreist, die in Hithechurch hinter vorgehaltener Hand weitererzählt werden und bei denen lange von der Autorin in der Schwebe gelassen wird, welche nur Gerüchte und welche tatsächlich begangene, nie aufgeklärte Verbrechen darstellen, und dem spannenden Showdown, den Jen Williams dafür als Abschluss findet, als nicht besonders harmonisch empfunden. Da hätte ich mir gewünscht, dass sich die Autorin für nur eine Art, ihre Geschichte zu erzählen, entschieden und diese dann konsequent in ihrem Thriller umgesetzt hätte. Möglicherweise liegt dieser Schwachpunkt in den verschiedenen Teilen dieses Romans, die von mir primär aufgrund ihrer Tonalität, aber auch der darin geschilderten Ereignisse als nicht zueinander passend angesehen worden sind, in dem Korsett begründet, dass sich Jen Williams dadurch auferlegt, dass einer ihrer zentralen Handlungsstränge von einem realen Verbrechen aus dem Jahr 2015 inspiriert worden ist. Vor diesem Hintergrund hätte “Die Totenbraut” wohl stärker ausfallen können, wenn die Autorin sich nicht dieser Einschränkung unterworfen hätte, um die von ihr erzählte Geschichte zu einem stimmigen Ganzen zusammenzuführen.

 

3,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Games for Dead Girls
  • Herausgeber: FISCHER
  • Erscheinungsdatum: 6. Dezember 2023
  • Seitenzahl: 416
  • ISBN-10: 3596001935
  • ISBN-13: 978-3596001934
  • Preis: 16 €

 

7. Dezember 2023: Sekunden der Gnade von Dennis Lehane

 
"May you be in heaven half an hour before the devil knows you're dead."
(alter irischer Trinkspruch)

Inhalt: Seitdem Mary Pat Fennessy von ihrem zweiten Mann Ken Fen verlassen worden ist, sind es nur noch ihre Tochter Jules und sie. Ihr Verhältnis ist angespannt, da Jules mit Beginn des neuen Schuljahres nicht mehr ihre bisherige Highschool in South Boston besuchen darf. Denn ab September 1974 werden auf richterlichen Beschluss hin Bustransfers umgesetzt, durch die die Highschool mit der größten weißen Schülerschaft mit der entsprechenden Highschool, die den höchsten afroamerikanischen Anteil aufweist, vermischt werden soll. Damit soll die vorherrschende Rassentrennung durchbrochen werden. Als Jules eines Abends am Ende des Sommers mit ihren Freunden Brenda Morello und Rum Collins ausgeht, taucht sie am nächsten Morgen nicht wieder auf. Und obwohl Mary Pat alle von ihren Freunden abklappert, die sie anruft oder persönlich aufsucht, um sie nach dem Verbleib ihrer Tochter zu befragen, bleibt Jules verschwunden.

“Sekunden der Gnade” wird von Dennis Lehane aus der Perspektive von Mutter Mary Pat sowie Detective Michael Coyne geschildert. Trotz ihrer Arbeit als Krankenhaushelferin im Meadow Lane Manor wird der Alltag von Mary Pat und ihrer Tochter von Armut dominiert. So kann sie seit letzter Woche nicht mehr kochen, weil das Gas wegen ihrer unbezahlten Rechnungen abgestellt worden ist. Auch muss sie sich entscheiden, ob sie von dem in zusätzlichen Schichten verdienten Lohn das Gasunternehmen bezahlen oder Jules die für das neue Schuljahr benötigten Sachen kaufen will. Neben ihrer Geldnot ist das Leben von Mary Pat durch den bereits erlittenen Verlust geprägt. Ihr erster Mann Dukie, der ein begnadeter Dieb und Einbrecher gewesen ist, ist verstorben und ihr zweiter Mann Ken Fen, mit dem sich seine Stieftochter Jules gut versteht, hat Mary Pat verlassen. Ihr Sohn Noel ist zwar von seinem Einsatz in Vietnam zurückgekehrt, dann aber süchtig geworden, da sein bester Freund seit Kindheitstagen ihm Drogen verkauft hat, bis er an einer Überdosis zugrunde gegangen ist.
Detective Michael David Coyne, der von allen Bobby genannt wird, hat einen neun Jahre alten Sohn. Nach seiner Scheidung hat seine Frau das Sorgerecht erhalten, sodass Bobby sein Kind nur am Wochenende sehen darf. Der Detective lebt mit seinen fünf unverheirateten Schwestern und seinem stillen Bruder, der früher einmal Priester werden wollte, in einem viktorianischen Haus in der Tuttle Street zusammen. Bobby, der von seinen Erlebnissen in Vietnam traumatisiert wurde, während er dort vor Ausbruch des Kriegs als “Berater” eingesetzt war, ist nun seit fast zwei Jahren clean. Obwohl er seine Drogensucht überwunden hat, besucht er immer noch Treffen der Narcotics Anonymous, wann immer es ihm in den Fingern juckt.

An "Sekunden der Gnade" hat mich die gelungene Integration tatsächlicher historischer Ereignisse aus dem Jahr 1974 in die fiktive Handlung dieses Romans überzeugt. Dazu zählt etwa das Ölembargo der OPEC. Im Mittelpunkt steht aber die Schulbus-Anordnung, die von Dennis Lehane in einer vorangestellten “Historischen Notiz” erläutert wird. Mary Pat engagiert sich gegen diesen richterlichen Beschluss, indem sie für eine anstehende, groß angelegte Demonstration von Tür zu Tür geht, um Flyer zu verteilen, und Schilder bastelt. Denn Jules, die kein Losglück hatte, wird bald die Highschool wechseln müssen. Mary Pat zweifelt aber daran, dass ihre Tochter, deren Zartheit einen Kontrast zu ihrer eigenen Robustheit bildet, dieser Herausforderung gewachsen ist.
Wenn dann die besagte Kundgebung mit ihrer Suche nach Jules zusammenfällt, taucht Mary Pat dort nur gezwungenermaßen auf und erlebt diese Veranstaltung inklusive des Auftritts von Teddy Kennedy, dem Bruder des toten Präsidenten, hautnah mit. Ihr Blick darauf ist jedoch distanziert, da sie sich ganz auf das Verschwinden ihrer Tochter konzentriert. Die Southie beherrschende, intensiv angespannte Stimmung, die von der glühend fibrigen Hitze des Sommers unterstrichen wird, wird gekonnt von Dennis Lehane eingefangen. Auch entwirft der Autor ein stimmiges Porträt von den Projects, die von ihrer für Außenstehende eigenwillig erscheinenden, schlecht nachvollziehbaren Lebensweise geprägt werden und deren strikte Regeln, an die sich alle halten, keiner in Frage stellt. Dabei liegt der Fokus auf dem kultivierten Kriminellen Marty Butler, der in den Projects unterstützt von seiner Bande das Sagen hat. Und Marty, der in seinem Viertel für Ordnung sorgt, setzt sich gegen die Schulbus Transfers ein.

Schwächen zeigt "Sekunden der Gnade" bei der im Kern dieses Krimis erzählten Geschichte, die recht vorhersehbar ausfällt und so kaum wirklich überraschende Wendungen zu bieten hat. Das schließt etwa die Antwort auf die diesen Roman erst über weite Strecken dominierende Frage mit ein, ob und falls ja, wohin Jules verschwunden ist oder ob ihr nicht doch etwas zugestoßen ist. In diesem Zusammenhang stehen auch die Kapitel, die die Sicht von Detective Bobby Coyne wiedergeben. Obwohl Bobby als Sympathieträger angelegt ist, fallen diese deutlich gegenüber den Kapiteln von Mary Pat ab, neben der Bobby erstaunlich blass geblieben ist. Denn Mary Pat, die für mich das Highlight dieses Romans gewesen ist, ist eine Naturgewalt. Angetrieben wird sie von einer Wut, die sich nur mit der Wucht eines Vulkanausbruchs vergleichen lässt. Mit roher Gewalt, teilweise aber auch mit Raffinesse prügelt sie sich auf der Suche nach ihrer Tochter durch die Straßen von Southie. Um Verluste schert sie sich dabei nicht, wenn sie weder Rücksicht auf andere noch sich selbst nimmt. Solange Dennis Lehane an Mary Pat in der Schilderung seiner Handlung dran bleibt, nimmt er nicht einmal den Fuß vom Gas, da seine Protagonistin keinen Aus-Knopf besitzt. Sogar als sie in ihrer Jugend eine Gehirnerschütterung davon getragen hat, nachdem sie von ihrer Schwester einen Ziegelstein an den Kopf bekommen hat, hat sie nicht aufgehört, weiter zu kämpfen. Lediglich durch die Kapitel von Bobby werden das hohe Tempo und die dadurch bedingte steile Spannungskurve zeitweise ausgebremst.
In "Sekunden der Gnade" ist dem Autor ein ungewöhnliches, dafür nicht weniger intensiv geratenes Porträt einer besonderen Mutterliebe gelungen. Dabei ist der Roman aber kein intellektuell angehauchtes Drama, sondern erinnert etwa in seiner polarisierenden Wirkung eher an den Berlinale-Gewinner “Tropa de Elite”. Denn Mary Pats brutales Vorgehen führt immer wieder zu unerwartet blutigen Gewaltspitzen, die weniger gut für zu Zartbesaitete geeignet sind. Einen leichteren Zugang zu seiner Hauptfigur bietet Dennis Lehane auch über die Beschreibung von Mary Pats Vergangenheit nicht an. Schon als kleines Mädchen hat sie, als sie von einem Rowdy geärgert wurde, gelernt, ihre Probleme durch Zuschlagen zu lösen, statt weiter mit ihrer Puppe zu spielen.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Small Mercies
  • Herausgeber: Diogenes
  • Erscheinungsdatum: 23. August 2023
  • Seitenzahl: 400
  • ISBN-10: 3257072589
  • ISBN-13: 978-3257072587
  • Preis: 26 €