Das Porzellanzimmer von Sunjeev Sahota

 

Abwechslungsreich erzähltes Familien-Liebes-Drama im ländlichen Indien der 30er Jahre

 

Inhalt: 1929 lebt die junge Mehar nach ihrer Hochzeit mit einem der Söhne der Witwe Mai auf deren Hof. Dort wohnt sie zusammen mit Harbans und Gurleen, die die anderen beiden Söhne von Mai am gleichen Tag wie Mehar geheiratet haben, im Porzellanzimmer. Keine der jungen Frauen weiß, welcher der Brüder Jeet, Mohan oder Suraj ihr Mann ist. Mehar hat nicht nur mit dieser Ungewissheit zu kämpfen, sondern muss sich auch an ihr neues Leben, das von der harten Arbeit auf dem Hof geprägt ist, gewöhnen. Von früh bis abends muss sie an der Seite von Harbans und Gurleen nicht nur in der Küche schuften. Bei nächtlichen Zusammenkünften, deren Termine Mai diktiert, muss sie in nahezu absoluter Dunkelheit ihrem Mann zu Willen sein. Und wenn sie nicht bald einen Sohn bekommen wird, ist ihre Stellung im Haus nicht garantiert.

Zu Hauptfigur Mehar und ihrem Urenkelsohn

Abwechslungsreich erzählt Sunjeev Sahota seinen Roman aus Sicht seiner Hauptfigur Mehar und weiterer Personen. Diese umfassen etwa verschiedene von Mais Söhnen, aber auch Mehars Urenkelsohn. Letzter wird viele Jahrzehnte später wegen seiner Drogenabhängigkeit von seinen Eltern nach Indien geschickt wird und kommt dort der Geschichte seiner Urgroßmutter auf die Spur. So erzählt der Autor seine Geschichte auf mehr als nur einer Zeitebene. Eine davon fokussiert sich auf das Jahr 1929, indem die erst fünfzehn Jahre alte Mehar geheiratet hat. Zum anderen wird die Zeit geschildert, in die der Aufenthalt von Mehars Urenkelsohn als Student in Indien fällt, nachdem er in die Drogensucht abgerutscht ist. Diesen Nachfahren Mehars habe ich aber auch erlebt, als er zwanzig Jahre älter ist und Verantwortung für seine Eltern zu übernehmen hat, weil sein Vater nach einer Operation am Knie sogar auf Hilfe beim Treppensteigen angewiesen ist und das Haus verkaufen muss, das er sich nicht mehr leisten kann. Zudem wird aus Mehars Kindheit berichtet, wenn diese erst fünf Jahre alt ist. Denn da ist die zukünftige Hochzeit mit Mais Sohn vereinbart worden.
Das Porzellanzimmer beginnt als beinahe schon leichtfüßig erzähltes Drama. Erst sträubt sich die junge Mehar, die ein wildes Kind gewesen ist, das in Spielen besser als jedes andere Mädchen gegen die Jungen angekommen ist, gegen die arrangierte Ehe. Sie fügt sich dann aber rasch in ihre neue Rolle und lebt sich wegen der anderen Bräute Harbans und Gurleen bald auf Mais Hof ein. Mehars Urenkelsohn ist als indischer Junge in seiner englischen Heimatstadt schlimmen Erfahrungen ausgesetzt gewesen. So erinnert er sich an die traumatischen Erlebnisse, die mit der Einladung zur Geburtstagsfeier eines Freundes einhergingen. Aber nach ein wenig Kuchen und ein paar Runden um den See, bei denen er sich an den gefleckten Fischen erfreute, ist schon wieder alles gut. Auch das Drama, dass die Eltern von Mehars Urgroßenkel ihr Haus verlieren lässt, nachdem sie sich ihr Leben lang in ihrem Laden abgerackert haben, bleibt auf eine skurrile Szene beschränkt, in der der Vater den Rücken der Kaufinteressenten mit der Krücke droht. Zudem beginnt das im Kern dieses Romans erzählte Drama, das um die Liebesgeschichte von Mehar mit einem von Mais Söhnen kreist, als klassische Verwechslungsgeschichte, die sich so auch in jeder RomKom finden könnte.

 

Zu leichtfüßig erzählte Tragödie, die den beinhalteten Dramen wenig Raum gibt
Obwohl sich dieser Roman von Beginn an für mich flüssig und gut gelesen hat, hätte ich diesen als stärker empfunden, wenn Sunjeev Sahota sich auf die darin enthaltenen Dramen konzentriert und diese auserzählt hätte. Dabei hätte ich mir gewünscht, dass sich dies nicht nur auf das Liebesdrama von Mehar beschränkt hätte, sondern das der Autor den anderen Dramen im Leben von Mehars Urgroßenkel und seinen Eltern mehr Raum gegeben hätte. So sind für meinen Geschmack dessen Kampf gegen die Drogensucht, seine traumatischen Kindheitserlebnisse und der drohende Verlust seines Elternhauses aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten zu schnell abgehandelt worden.
Denn dadurch dass diese problematischen Situationen nach ein oder zwei Kapiteln abgehandelt gewesen sind, wenn der Autor zum nächsten Thema übergegangen ist, hat sich bei mir der Eindruck eingeschlichen, dass das alles nicht so schlimm gewesen ist. Der Roman hätte meiner Ansicht nach aber eine weit stärkere Wirkung entfaltet, wenn sich die darin erzählten Dramen von Episode zu Episode verschlimmert hätten, indem der Autor der Tragödie aus Mehars Leben und auch den anderen Dramen mehr Zeit und Raum in einer intensiveren Auseinandersetzung eingeräumt hätte. Denn so hätte dieser Roman zu einer Abwärtsspirale aus Dramen werden können, die seine Figuren immer weiter in den Abgrund zieht, um eine sogartige Wirkung zu entfalten.

 

Abrupte Entwicklung der Figuren und weitere Kritikpunkte
Die junge Mehar, die als Sympathieträgerin dieses Romans angelegt ist, konnte mich zwar mit ihrer lebensfrohen Art für sich einnehmen. Da sie noch so jung ist, hat sie aber auch ziemlich naiv und unbedarft auf mich gewirkt, was ihre Charakterisierung eher eindimensional hat ausfallen lassen. Leider habe ich nicht nur Mehar, sondern auch die meisten der anderen Figuren als recht blass empfunden. Zu Beginn des Romans habe ich Mehars Schwiegermutter Mai noch als interessanteste Figur wahrgenommen. Mai fällt zwar nicht gerade in angenehmer Weise auf. Ich hätte aber gern mehr darüber erfahren, wie Mai zu der durchsetzungsstarken Witwe werden konnte, die ihren Hof so fest im Griff hat, und auch vor brutalen Bestrafungen oder übergriffigem Verhalten nicht zurückschreckt, um ihren Willen durchzusetzen.
Teilweise hat mir die Schilderung von Zeiträumen gefehlt, die die Figuren in Sahotas Roman zu denen haben werden lassen, die sie dann sind. Teils sind Entwicklungen der Charaktere zu rasch erfolgt, so dass diese zwar zu für mich überraschenden Wendungen und unerwarteten Enthüllungen gefüht haben, leider aber auch den eher schwach angelegten Figuren den letzten Rest an Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit ihrer Handlungen genommen haben.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: China Room
  • Herausgeber: Hanser
  • Erscheinungsdatum: 23. Januar 2023
  • Seitenzahl: 240
  • ISBN-10: 3446273883
  • ISBN-13: 978-3446273887
  • Preis: 23 €