Rezensionen im Oktober 2023

 

An Halloween habe ich die um phantastische Elemente angereicherte Dystopie "Ein Fluss so rot und schwarz" von Anthony Ryan gelesen. Darüber hinaus habe ich mich im Oktober von Walter Isaacson in das faszinierende Leben des visionären, doch ambivalent anzusehenden Unternehmers Elon Musk, von Silvia Moreno-Garcia auf die mexikanische Halbinsel Yaxaktun im Ausklang des 19. Jahrhunderts ("Die Tochter des Doktor Moreau") und von Leila Slimani ins ländliche Marokko der 40er Jahre in einem Roman, der von ihrer eigenen Familiengeschichte inspiriert ist, entführen lassen ("Das Land der Anderen"). In fast schon nüchternen Beschreibungen gibt Slimani dabei dem Drama Raum, das in persönlichen Beziehungen, aber auch in Fragen nach Identität, Heimat und Kultur begründet liegt, wenn unterschiedlicher Weltanschauungen und Weltbilder darin aufeinandertreffen.

 

31. Oktober 2023: Ein Fluss so rot und schwarz von Anthony Ryan

22. Oktober 2023: Elon Musk von Walter Isaacson

15. Oktober 2023: Die Tochter des Doktor Moreau von Silvia Moreno-Garcia

7. Oktober 2023: Der Kaninchenstall von Tess Gunty

1. Oktober 2023: Das Land der Anderen von Leila Slimani

 

31. Oktober 2023: Ein Fluss so rot und schwarz von Anthony Ryan


Um phantastische Elemente angereicherte Dystopie mit gelungenen Kampfszenen und wenig überzeugender Figurenzeichnung

Inhalt: Ein Mann wacht auf einem Boot auf, das sich inmitten des Ozeans befindet. Da er nur das offene Meer sieht und das Schiff aus der Ferne gelenkt und gesteuert wird, weiß er nicht, wo er ist. Auch kann er sich nicht erinnern, wer er ist. Seine Vergangenheit hat er vergessen, ebenso wie seinen Namen. Doch nachdem er von einem Geräusch geweckt worden ist, das ihn aus dem Schlaf gerissen hat, sucht er dessen Ursache und muss eine grausige Entdeckung an Bord des Schiffs machen.

 

Zur Beschreibung wesentlicher Figuren in Zusammenhang mit der ungewöhnlichen Ausgangssituation
Mehr zum Inhalt von “Ein Fluss so rot und schwarz” zu sagen, würde nur die ersten Twists in dieser von Anthony Ryan erzählten Geschichte verraten. Im weiteren Verlauf nennt der zu Beginn namenlose Mann sich Huxley, was wohl nicht sein richtiger Name ist, den er jedoch eintätowiert auf seinem Arm vorgefunden hat. Auf dem Boot ist er nicht allein, da mit ihm fünf andere Personen reisen. Jeder von ihnen kennt weder ihre Route bzw. ihr Ziel noch den Zweck ihrer Mission, die erst nach und nach enthüllt wird.
Die Gruppe, die aus diesen sechs besteht, stellt die zentralen Figuren dieses Romans dar, der aus Sicht von Huxley geschildert wird. Indem sie sich weder an ihre Vergangenheit noch an ihre Persönlichkeit erinnern können, haben diese Charaktere seltsam distanziert auf mich gewirkt. So ist es mir schwer gefallen einen Zugang zu ihnen zu finden und deren Handlungen wie Entscheidungen sind oft schwer nachvollziehbar für mich geblieben, sogar wenn sie diese ausdiskutiert oder überdacht haben. Damit ist mit dem an sich interessanten Ausgangssetting, das Anthony Ryan für “Ein Fluss so rot und schwarz” gefunden hat, die Schwäche verbunden gewesen, die diverse B-Horrorfilme prägt. Denn im Horrorgenre, wenn dieses zumindest Züge von einem Slasher hat oder damit verwandt ist, sofern dies keine billig von der Stange produzierte Massenware darstellen soll, ist eine längere Introduktion zwingend erforderlich, um mir als Zuschauer oder Leser die wesentlichen Figuren näher zu bringen. Nur wenn ich diese Charaktere besser kennengelernt habe, kann ich im weiteren Verlauf mitfiebern und bangen, welche davon es schaffen werden oder auch nicht. Durch den für seinen Roman gewählten Ausgangspunkt versagt sich Anthony Ryan diesem Konzept und so wird Spannung in “Ein Fluss so rot und schwarz” ausschließlich aus den gelungen geschilderten Kampf-Szenen erzeugt, die durch die phantastischen Elemente, um die diese angereichert sind, einen besonderen Touch erhalten. Darüber hinaus räumt der Autor der Auflösung des Rätsels, was denn die Aufgabe ist, die diesen sechs zugedacht wurde und dazu geführt hat, dass sie auf dem Boot gelandet sind, in seinem Roman viel Zeit und Raum ein.

 

Interessante Hintergrundgeschichte für das fantastische Setting
Indem der Autor der Versuchung widerstanden hat, “Ein Fluss so rot und schwarz” anders als die von ihm verfassten epischen High-Fantasy-Reihen als ausufernden Roman anzulegen, hat sich dessen Lektüre für mich kurzweilig gestaltet. Denn das Buch, das keine dreihundert Seiten lang ist, habe ich in zwei Tagen gelesen, obwohl ich zugeben muss, dass sich zwischendrin bei mir Längen eingeschlichen haben. Das ist häufiger dann der Fall gewesen, wenn die Gruppe zwischen den einzelnen Stationen, auf der sie während ihrer Reise verschiedene Aufgaben zu erledigen hat, an Bord verbleibt und versucht dem Rätsel um ihre Mission auf den Grund zu gehen oder sich an die eigene Vergangenheit zu erinnern.
Dabei hat Anthony Ryan eine interessante Hintergrundgeschichte ersonnen, die im Verlauf des Romans nach und nach enthüllt wird und letztlich zu der in diesem Roman erzählten Handlung geführt hat, bei der die sechs Ausgewählten auf dem Boot gelandet sind. Meiner Ansicht hätten sich diese in der Vergangenheit von “Ein Fluss so rot und schwarz” liegenden Ereignisse eher für einen spannenden Roman angeboten als das Setting, für das der Autor sich entschieden hat. Denn das hätte ihm die Gelegenheit geboten, ganz nah dran am Leid der von der Katastrophe Betroffenen und den erdrückenden Verlusten, die sie hinnehmen mussten, zu sein, um deren Geschichte zu erzählen und die Entwicklung der sich daran anschließenden Ereignisse zu schildern. Dabei hätte Spannung dadurch aufgebaut werden können, dass Ryan wiedergegeben hätte, wie das Grauen schleichend in ihren Alltag Einzug gehalten hätte, wenn ihr gewohntes Leben vor die Hunde gegangen wäre und allmählich durch die Szenerie ersetzt worden wäre, durch die die sechs auf ihrem Boot zu reisen haben. Das deutet sich in einer starken Szene an, in der Huxley einen Laptop aus dieser Zeit findet. Darauf sind Clips in Form von einem Videotagebuch gespeichert, das diese Vergangenheit dokumentiert. Obgleich Ryan das nur kurz anreisst und dabei viel zu schnell abhandelt, übertrifft die emotionale Intensität, die dabei erzeugt wird, doch alles, was der Gruppe auf dem Boot sonst widerfährt.

 

Zu wenig Horror und eher unpassender Humor
Auch hätte sich die von Ryan für “Ein Fluss so rot und schwarz” ersonnene Ausgangssituation weit eher für einen abgründigen Horror-Roman, der in seiner Erzählweise durch einen düsteren Tonfall unterstrichen wird, angeboten als für die eher phantastischen Elemente, in denen dieser geschildert wird. Dass die gewählte Umsetzung nicht etwa einem mangelnden Talent des Autors geschuldet ist, zeigt sich in einer unheimlichen Szene, in deren Mittelpunkt eine Variante der Venusfliegenfalle steht. Weitere Szenen dieser Art hätten dem Roman gut getan, ebenso wie wenn Ryan seine Geschichte konsequent in diesem Ton erzählt hätte. In diesem Zusammenhang hätte der Autor besser auch auf den Humor, den er Huxley zugestanden hat, verzichtet. Denn dessen Lachanfälle, die sich wohl als Ausdruck von Hysterie verstehen lassen, mit der Huxley auf ihn überfordernde Situationen reagiert hat, haben oft eher unpassend gewirkt.

 

Kritikpunkte am Antagonisten und Verbesserungsvorschläge
“Ein Fluss so rot und schwarz” wird zwar in sich schlüssig zu Ende erzählt, wenn nicht nur die finale Mission der Gruppe, sondern auch die Vergangenheit, die dazu geführt hat, nach und nach enthüllt wird und dabei erstaunlich viele Rätsel aufgelöst und damit verbundene Fragen beantwortet werden. Dabei habe ich jedoch die Rolle eines zentralen Antagonisten, der wiederholt auftaucht, als wenig stimmig empfunden. Damit die verschiedenen Funktionen, die diesem zugedacht wurden, nur durch eine einzige Figur ausgefüllt werden konnten, hat diese im Verlauf des Romans in einer zumindest für mich nicht nachvollziehbaren Weise ihren Charakter resp. Hintergrund wiederholt zu ändern. Das ließ die Figurenzeichnung inkonsistent und letztlich wenig plausibel auf mich wirken. An dieser Stelle wäre es wohl sinnvoller gewesen, zusätzliche Antagonisten einzuführen, statt diese an sich unterschiedlichen Rollen ausschließlich in einer einzigen Figur zu bündeln, die dafür dann gegensätzliche Aspekte in sich zu vereinen hatte.

 

Mein Fazit
Anthony Ryan, der aus seinem an sich spannenden Setting weit mehr hätte herausholen können, verschenkt da leider viel Potenzial, wenn er seinen Roman nicht konsequent im Horror-Genre anlegt und in einem zur Geschichte passenden, abgründig düsteren Tonfall erzählt. Darüber hinaus hätte sich angeboten, andere Charaktere in den Mittelpunkt eines Romans, der in der vom Autor ersonnenen Dystopie angesiedelt ist, zu stellen, um aus deren Sicht das von ihm entworfene Setting zu beschreiben und daraus eine Geschichte zu entwickeln, die auch in der dabei aufgebauten emotionalen Intensität hätte überzeugen können. Das hätte zudem eine interessantere, zumindest jedoch ambivalente Figurenzeichnung ermöglicht, wenn die im Fokus stehenden Personen sich an ihre Vergangenheit hätten erinnern können und deren Veränderung in ihrer Entwicklung begleitet worden wäre. “Ein Fluss so rot und schwarz” hätte dadurch gewinnen können, dass sich das Buch vom Boot-Setting entfernt und stattdessen mehr an “The Girl with All the Gifts” von M. R. Carey oder vergleichbaren Romanen orientiert hätte.

 

3 Sterne ***

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Red River Seven
  • Herausgeber: Tropen
  • Erscheinungsdatum: 14. Oktober 2023
  • Seitenzahl: 272
  • ISBN-10: 3608501797
  • ISBN-13: 978-3608501797
  • Preis: 22 €

 

22. Oktober 2023: Elon Musk von Walter Isaacson


Must Read für jeden an Elon Musk Interessierten

Auf mehr als achthundert Seiten berichtet Walter Isaacson ungemein detailliert über das Leben sowie den Werdegang von Elon Musk. Das beginnt bei seiner Kindheit und Jugend, was eine Beschreibung seines familiären Umfeldes sowie der belastenden Erfahrungen, die Musk während seines Schulbesuchs erleiden musste, aber auch der Schwierigkeiten, mit denen er im Zuge der Scheidung seiner Eltern konfrontiert gewesen ist, mit einschließt. Diese Biographie von Isaacson ist mit ihrem Erscheinungstermin, der in den September 2023 fällt, recht aktuell, umfasst dabei jedoch u.a. nicht die letzte Auseinandersetzung zwischen Musk und dem Außenministerium. In knapp hundert Kapiteln behandelt Isaacson in chronologischer Reihenfolge unterschiedliche Abschnitte im Leben von Musk. Lesbar gehalten ist das Werk durch den verständlichen Schreibstil, die angenehme Länge der Kapitel sowie die zusätzlich vorhandenen Fotos, die etwa die einzelnen Kapitel einleiten. Diese Bebilderung, die ich als passende Ergänzung der Biografie angesehen habe, hat mir beispielsweise dabei geholfen, mir Musk als Kind besser vorstellen zu können.

Zur Rolle von Isaacson als Biographen und Abweichungen davon
Als gelungen habe ich das Buch empfunden, solange Isaacson sich darin ausschließlich auf die Rolle des Biographen beschränkt hat. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn er Musk selbst in Statements, die etwa seine Kindheit betreffen und die er in Interviews im Fernsehen geäußert hat, zu Wort kommen lässt. Diese kombiniert er, um beim Beispiel im Hinblick auf seine Kindheit und Schulzeit zu bleiben, mit Aussagen seines Bruders Kimbal und stellt sie der Meinung ihres Vaters Errol gegenüber, der zumindest zwischenzeitlich ein gut laufendes Geschäft betrieben hat. Immer wenn Isaacson sich mit seiner eigenen Meinung zurückhält, habe ich diese Biographie als besonders überzeugend angesehen. Denn an diesen Stellen hat der Autor stattdessen die Aussagen aus Interviews bzw. der von ihm befragten Personen, die im Leben von Musk zu der relevanten Zeit eine Rolle gespielt haben, nur für sich selbst sprechen lassen, indem er deren unterschiedliche Sicht auf die Vergangenheit in gegensätzlichen Meinungen und einander widersprechenden Aussagen in eben dieser Weise als Zitat wiedergegeben hat. In diesen Momenten hat Isaacson mir als Leser die Gelegenheit gegeben, mir eine eigene Meinung darüber zu bilden.
Wenn Isaacson jedoch die Beschreibung von Ereignissen aus Musks Jugend lediglich dazu benutzt hat, um seine Interpretation zu präsentieren, wie etwa die Erfahrungen aus Musks Schulzeit ihn geprägt und sich damit auf sein späteres Leben ausgewirkt haben, habe ich das Buch weniger als Biographie wahrgenommen. Auch sind diese Abschnitte insgesamt weniger überzeugend gewesen, da sie nicht so stark wie der Rest ausgefallen sind.

Zum Vergleich zwischen Steve Jobs und Elon Musk
Das liegt zumindest teilweise darin begründet, dass Isaacson als Autor der Biographie "Steve Jobs", worauf bereits ein prominent platzierter Aufkleber auf dem Buchcover hinweist, an verschiedenen Stellen Vergleiche zwischen Musk und Jobs anstellt. Da mir das Leben von Jobs kaum bekannt ist und ich mit dessen Werdegang nicht vertraut bin, ist mir das zwar bei mancher Gelegenheit als geeignet erschienen. Ein Beispiel dafür sind die einleitenden Zitate der Musk Biografie, in denen Isaacson Aussagen von Jobs und Musk einander gegenübergestellt hat, von denen die eine die andere in passender Weise ergänzt hat, indem sie darauf aufgebaut und diese fortgeführt hat.
An vielen Stellen habe ich die gezogenen Vergleiche jedoch als weniger gelungen empfunden, wenn die darüber hergestellten Zusammenhänge zu weit hergeholt auf mich gewirkt haben. Diese Passagen haben insgesamt einen recht konstruierten Eindruck hinterlassen, wenn Isaacson mir zu bemüht darum erschienen ist, Parallelen zwischen Jobs und Musk aufzuzeigen. Denn letztlich unterscheiden sich Jobs und Musk in ihrem Leben, Werdegang sowie der charakterlichen Neigung auch deutlich, was ebenfalls vom Autor herausgearbeitet wird, so dass die Gegenüberstellung dieser beiden lediglich für diejenigen Leser, die an Jobs interessiert und mit ihm vertraut sind, relevant sein dürfte.

Zur eigenen Meinung und Interpretation von Isaacson
Zudem scheint sich Isaacson in den Abschnitten, wenn er seinen eigenen Interpretationen Raum gibt und damit seiner Meinung Ausdruck verleiht, oft genug deutlich vom ambivalent anzusehenden Unternehmer Musk distanzieren zu wollen. Eine derartige Abgrenzung fällt meiner Ansicht nach jedoch nicht in den Aufgabenbereich eines Biographen, sondern würde eher zu einem Kolumnisten passen, der seine Ansicht zu Musk bzw. dessen Aussagen äußert. Da hätte ich mir gewünscht, dass Isaacson den Mut besessen hätte, seine in aufwendiger Detailarbeit über lange Jahre zusammengetragenen Informationen zu Musk, die von diversen Zitaten seiner Familie und anderen Wegbegleitern, denen Musk persönlich bekannt ist und die ihn in dem betroffenen zeitlichen Abschnitt erlebt haben, belegt und gestützt werden, nur für sich sprechen zu lassen. Denn damit hätte Isaacson mir die Gelegenheit gegeben, dass ich als Leser zu einem eigenen Urteil kommen kann. Dabei hätte für mich aus dem Mosaik, das aus einer Vielzahl von Informationen über Musk besteht, ein Gesamtbild entstehen können, das nicht durch die persönliche Meinung von Isaacson eingefärbt ist.

Kleine Kritikpunkte für mehr Orientierung und einen besseren Überblick
Weil mir zwar die Stationen im Werdegang von Musk grob bekannt gewesen sind, ich jedoch nicht zu den Experten im Hinblick auf seine Biographie zähle, hätte ich es als hilfreich angesehen, wenn Isaacson sein Werk konsequent chronologisch erzählt hätte. Mir haben es etwa die Vorgriffe auf Musks späteren Werdegang, um die der Autor die Schilderung von dessen Kindheit und Jugend angereichert hat, eher schwer gemacht, in den dafür relevanten Kapiteln zu folgen. Die darin von Isaacson untergebrachten Interpretationen, die nach Meinung des Autors deren Auswirkung auf Musks erwachsenes Ich und späteres Leben betreffen, haben meinen Lesefluss gestört. So wird in diesem Zusammenhang beispielsweise Musks spätere Frau zitiert, die an dieser Stelle nicht eingeführt wird, sondern erst in einem späteren Kapitel, wenn sie in Musks Leben treten wird. Indem mir diese Frau von Musk nicht bekannt gewesen ist, ist mir die Orientierung dabei nicht leicht gefallen. Lesbarer und verständlicher wäre das Werk von Isaacson für mich bei einem rein chronologischen Aufbau gewesen, den ich mir gewünscht hätte. Bei den über achthundert Seiten, die dies umfasst, hätten sich derartige Stellen für Kürzungen angeboten.

Ausführliche Anhänge wie insbesondere ein Glossar
In passender Weise wird diese Biographie über Musk von ausführlichen Anhängen abgerundet, die insbesondere ein Stichwortverzeichnis beinhalten. Das hat mir besonders gut gefallen, da dieses Werk sich damit auch zum Nachschlagen eignet. Weil mir Musks Werdegang nicht so präsent gewesen ist, hätte ich mir einen Lebenslauf als zusätzlichen Anhang gewünscht, der mir einen grundlegenden Überblick über den Inhalt dieser Biographie geboten hätte. Das hätte mir die Orientierung erleichtern können. Dazu hätte auch beigetragen, wenn Isaacson die knapp hundert Kapitel in seinem Buch in übergeordnete Teile (z.B. zeitliche Abschnitte) zusammengefasst hätte, um auf diese Weise für ein höheres Maß an Ordnung zu sorgen und einen besseren Überblick über das Inhaltsverzeichnis zu liefern. Denn in der vorliegenden Form verliere ich mich da zu leicht in der Vielzahl von Details und laufe Gefahr, vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen.

Ein Must Read für jeden an Elon Musk Interessierten
Insgesamt stellt dieses Werk von Walter Isaacson ein Must Read für jeden an der Biographie von Elon Musk Interessierten dar, weil es tiefe Einblicke auf diesen visionären, doch ambivalent anzusehenden Unternehmer, seinen Werdegang, dessen charakteristische Wesenszüge sowie sein näheres, ihn dabei begleitendes Umfeld erlaubt. Das wurde auch dadurch ermöglicht, dass der Autor ganz nah dran an Musk gewesen ist, als er ihn über zwei Jahre hinweg begleiten durfte und ihn an dessen Seite erleben konnte. Das hat zu diesem besonderen Blick, den er in seinem Buch bietet, auf Musks Leben, Wirken und Werk geführt.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Elon Musk: by Walter Isaacson
  • Herausgeber: Bertelsmann Verlag
  • Erscheinungsdatum: 11. September 2023
  • ASIN:  B0CHWHXM61
  • Seitenzahl: 832
  • Preis: 38 €

 

15. Oktober 2023: Die Tochter des Doktor Moreau von Silvia Moreno-Garcia

 

Ruhig erzählter, von der Insel des Dr. Moreau inspirierter Roman in historischem Setting

 

Zum Inhalt: Carlota ist die Tochter des Doktor Moreau, eines französischen Arztes. Sie lebt auf der Halbinsel Yaxaktun in Mexiko, auf der sie groß geworden ist. Am Tag der Ankunft des neuen mayordomo Montgomery Laughton wird sie von der Haushälterin Ramona wie eine Puppe herausgeputzt, indem sie in einem feinen, extrem farbenfrohen Kleid, wie es gerade in Mode ist, ausstaffiert wird und das von der Perlenkette, die sie trägt, gekrönt wird. Denn ihr ist die Ehre zugedacht worden, neben Montgomery auch Hernando Lizalde, den Eigentümer von Yaxaktun und Gönner ihres Vaters, der dessen Forschung finanziert, eine Führung durch sein Labor zu geben.

 

Zur Charakterisierung der Protagonisten Carlota Moreau und Montgomery Laughton

“Die Tochter des Doktor Moreau” ist in drei Teile, die im Jahr 1871 bzw. 1877 angesiedelt sind, sowie einen zeitlich nachgelagerten Epilog gegliedert. Dabei wird der Roman in seinen unterschiedlichen Kapiteln abwechselnd aus Sicht von Carlota und Montgomery wiedergegeben.

Nachdem der Doktor seine erste Frau und deren ungeborene Tochter verloren hat, ist Carlota seine uneheliche Tochter, die jedoch weder die Familie ihres Vaters kennt noch etwas über ihre leibliche Mutter weiß. Im ersten Teil des Romans ist sie vierzehn Jahre alt. Da ihr Vater stets in seinem Labor arbeitet, verbringt sie ihre Zeit mit ihren Spielkameraden Cachito und Lupe sowie mit Ramona, die weit mehr als nur eine Haushälterin für sie ist. Denn Ramona erzählt ihr Geschichten, bringt ihr Brocken der Maya-Sprache bei, die ihr Vater als nicht schickliche Sprache erachtet, und ist Expertin für die Pflanzen, die in der Umgebung des Anwesens wachsen. Auch liest sie in den Büchern der Bibliothek, die sich mit Pflanzen und Tieren im Speziellen sowie der Biologie im Allgemeinen befassen. Denn diese hat ihr Vater ihr geschenkt, um die wissenschaftliche Neugier seiner Tochter zu wecken und zu fördern. Dabei zeigt sich Carlota als folgsames Kind, das den Wünschen ihres Vaters entspricht, da sie ihm zu gefallen sucht.

Damit ist für mich die Perspektive von Montgomery, der von Carlota bei deren erster Begegnung als recht mürrischer junger Mann wahrgenommen wird, als er ihr Lächeln nicht erwidert, zu Beginn des Romans interessanter gewesen. Auch irritiert sie sein äußeres Erscheinungsbild, das im Vergleich zu den anderen Herren ungepflegt wirkt, und seine zu hellen, wässrig grauen Augen. Laughton, der aus Manchester stammt und zu Beginn des Romans 29 Jahre alt ist, hat in jungen Jahren seine Mutter und später seine große Schwester Elisabeth verloren. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr ist er viel herumgekommen, als er in Kuba, Dominika, Britisch-Honduras und vielen anderen Orten gearbeitet hat. Von seiner Frau Fanny Owen, Tochter eines britischen Händlers, lebt er mittlerweile getrennt. Nachdem er sich zuletzt als Jäger verdingt hat, zwingen ihn die Schulden, die er Lizalde gegenüber hat, sich für die unangenehme Stelle des mayordomo auf dem von Doktor Moreau bewohnten Anwesen vorzustellen.

 

Ein langatmiger Einstieg in den Roman

Den Einstieg in “Die Tochter des Doktor Moreau” habe ich als eher langatmig empfunden. Das lag wohl auch darin begründet, dass mir der Zugang zu Carlota schwer gefallen ist, die mir trotz der tiefen Einblicke in ihre Gedankenwelt, die mir die aus ihrer Perspektive geschilderten Kapitel geboten haben, seltsam fremd geblieben ist. Mit ihren vierzehn Jahren wirkte sie ziemlich naiv auf mich, was durch ihr oft recht kindisches Verhalten unterstrichen wurde. Ihre unbedarfte Art hat sie jünger erscheinen lassen als dies aufgrund ihres tatsächlichen Alters der Fall gewesen ist - eben weit mehr Kind als Frau. Teilweise ließ sich dies dadurch erklären, dass Carlota außer Yaxaktun noch nichts von der Welt gesehen hat. So kennt sie andere Städte und Länder wie etwa die französische Heimat ihres Vaters nur aus Büchern. Da sie folgsam beim zusätzlichen Training durch ihren Vater lernt, kann sie mühelos lateinische Sätze übersetzen und wissenschaftliche Erkenntnisse ihres Vaters rezitieren. Dabei wirkt sie jedoch eher wie ein wohl erzogener Papagei, der in seiner dressierten Art die ihm vorgesagten Sätze wiederholt, als dass sie von mir als eine gebildete junge Dame wahrgenommen wurde.

 

Seltene Lichtblicke in gelungenen, atmosphärischen Beschreibungen

Im ersten, aus Sicht von Montgomery geschilderten Kapitel ist Silvia Moreno-Garcia eine starke Vorstellung desselben in stimmungsvollen Beschreibungen gelungen. Denn der neue mayordomo wird von der Autorin während seiner Anreise nach Yaxaktun auf einem Boot an der Seite von Herrn Lizalde, der für ihn diesen Posten vorgesehen hat, eingeführt. Darin hat Moreno-Garcia den den Fluss sowie Yaxaktun umgebenden Dschungel in ausdrucksstarken Beschreibungen vor meinem inneren Auge lebendig werden lassen, die ich etwa in der Schilderung des von Doktor Moreau bewohnten Anwesens aus dem Blickwinkel von Carlota vermisst habe, das dabei ziemlich blass geblieben ist und recht beliebig gewirkt hat.

 

Durch “Die Insel des Doktor Moreau” geweckte Erwartungshaltung

Indem ich beim Titel “Die Tochter des Doktor Moreau” an den Klassiker “Die Insel des Doktor Moreau” von H G Wells denken musste, von dem dieser Roman von Silvia Moreno-Garcia, wie sich ihrem Nachwort entnehmen lässt, inspiriert wurde, ist die von mir dadurch geweckte Erwartungshaltung von der Autorin erst recht konsequent unterlaufen worden. Zu Beginn des Buchs bin ich von einem nur in geringem Umfang phantastischen Setting überrascht worden, das mehr an einen historischen Roman erinnert hat. Da mir persönlich Fantasy oder Horror-Romane lieber als historische sind, ist mein Geschmack damit nicht unbedingt getroffen worden. Dieser für mich eher unerwartet gekommene, historische Kontext hat sich etwa in Gesprächen von Laughton und Lizalde während ihrer Anreise mit dem Boot nach Yaxaktun gezeigt, die um die Maya-Rebellen und deren Verhältnis zu den Briten kreisten, sowie in den Überlegungen, die Laughton hinsichtlich Doktor Moreau aufgrund der wenigen Informationen, die ihm über den Arzt zur Verfügung standen, angestellt hat, ob der Doktor zur Zeit des Reformkrieges oder kurz nach dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg ins Land gekommen ist. Auch mutet “Die Tochter des Doktor Moreau” in Abschnitten, in denen beispielsweise Montgomery dem Doktor erläutert, wie er als Jäger Tiere ausgewählt hat, die für Forscher in England vorgesehen gewesen sind, indem er sich dabei nicht auf ein einziges Exemplar beschränken kann, um die Essenz eines Tieres einzufangen, obgleich ihm das Töten der Tiere keine Freude bereitet hat, oder wenn Carlota “Natura non facit saltus” (d.h. “Die Natur macht keine Sprünge”) erläutert, beinahe wie ein wissenschaftshistorischer Roman an.

 

Zu ausufernd geschilderte Entwicklungen und wenig überraschende Wendungen im weiteren Verlauf dieses Romans

“Der Tochter des Doktor Moreau” hätte gut getan, wenn Silvia Moreno-Garcia ihre Geschichte weit gestraffter erzählt hätte, um Längen, die sich nicht erst im Mittelteil eingeschlichen haben, sondern von Beginn an vorhanden gewesen sind, zu vermeiden. Dazu hat für mich auch beigetragen, dass der zentrale Twist, den die Autorin zum Ende ihres Romans hin einschiebt, bereits früh absehbar gewesen ist. Darüber hinaus haben sich im weiteren Verlauf dieses Romans Gedankengänge der Hauptfigur wiederholt, die dabei in unterschiedlicher Form nur leicht variiert worden sind. Diese iterative Weise, in der Moreno-Garcia ihre Geschichte erzählt hat, hat bei mir den Eindruck hinterlassen, dass die Autorin der Gedankenwelt ihrer Protagonistin keine zusätzlichen Facetten abgewinnen konnte, ohne die erst zum Schluss ihres Buchs enthüllte wesentliche Wendung zu verraten.

In diesem Zusammenhang hätte es sich womöglich angeboten, zusätzliche Perspektiven in “Die Tochter des Doktor Moreau” einzubinden, um so für mehr Abwechslung zu sorgen und interessant angelegten Nebenfiguren mehr Raum zu geben. Dafür hätte sich etwa angeboten, die Handlung aus Sicht des visionären, doch verkannten Arztes Doktor Moreau, von Carlotas Spielkameradin und Freundin Lupe sowie von Antagonist Hernando Lizalde, der als Eigentümer von Yaxaktun nur auf ebenso billige wie folgsame Arbeitskräfte aus ist, und den Leuten, die auf seiner Seite stehen, zu schildern. Letzteres hätte dazu beitragen können, deren Entwicklung nachvollziehbarer für mich werden zu lassen. Letztlich zeigt sich als größte Schwäche der von Moreno-Garcia in ihrem Roman erzählten Geschichte, dass diese ganz wie in einem Kindermärchen klar in schwarz und weiß unterteilt ist. Wenn die Autorin auf ihr einfaches Weltbild verzichtet hätte, hätten sie ihren Figuren dadurch mehr Tiefe geben können, dass sie diesen Ecken und Kanten im Speziellen und Grautöne im Allgemeinen hätte zustehen können, was ihre Charakterisierung insgesamt ambivalenter hätten ausfallen lassen. Denn selten lassen sich Menschen wie Wesen derart eindeutig in schwarz und weiß bzw. derart absolut in gut und böse unterscheiden.

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Daughter of Doctor Moreau
  • Herausgeber: Limes
  • Erscheinungsdatum: 24. Mai 2023
  • Seitenzahl: 448
  • ISBN-10: 3809027626
  • ISBN-13: 978-3809027621
  • Preis: 22 €

 

7. Oktober 2023: Der Kaninchenstall von Tess Gunty

 

Ein brillantes, ungewöhnlich erzähltes Debüt mit schwachem Schluss

Tess Gunty tobt sich in ihrem mit dem National Book Award for Fiction ausgezeichneten Roman - bis hin zu einem nur aus den Illustrationen von Visual Artist Nicholas Gunty bestehenden Kapitel - aus.

Zum Inhalt: Vacca Vale ist eine postindustrielle, sterbende Kleinstadt in Indiana. Blandine Watkins wohnt in C4 im La Lapiniere Affordable Housing Complex, der aufgrund der darin herrschenden beengten Verhältnisse, aber auch wegen der Kaninchen-Tapete in der Lobby Kaninchenstall genannt wird. Obwohl sie erst achtzehn Jahre alt ist und kein College besucht, liest sie Dantes Göttliche Komödie und die katholischen Mystikerinnen von Hildegard von Bingen. Denn ein leidenschaftlich gehegtes Interesse an den Märtyrerinnen treibt Blandine um, die in einer heißen Nacht Mitte Juli ihren Körper verlassen wird.

Skurrile Figuren rund um Protagonistin Blandine
In ihrem Debütroman, der mit dem National Book Award for Fiction ausgezeichnet wurde, wartet Tess Gunty mit einem breiten Spektrum an skurrilen Figuren mit ungewöhnlichen Interessen, Berufen oder Ansichten auf. Dazu zählen neben Blandine, deren äußere Erscheinung als bleiche, elfenhafte Gestalt mit weißem Haar an Dickens Geist der vergangenen Weihnacht erinnert und die sich gegen die Transformation von Vacca Vale in ein Start-up Zentrum mittels des Revitalisierungsplans engagiert, weitere Bewohner des Kaninchenstalls wie etwa die junge Mutter Hope und die vierzig Jahre alt Joan Kowalski. Letztere hat Sommersprossen auf den Augenlidern, kann eine unnatürliche Menge an Wassermelonen essen und arbeitet für Restinpeace. Dort überwacht sie die im Kondolenzbuch von Verstorbenen geposteten Kommentare, indem sie die gegen die Richtlinien verstoßenden löscht.

Experimentelle Erzählweise trifft auf ungewöhnliche Leitmotive
“Der Kaninchenstall” ist von der eigenwilligen Art von Tess Gunty ihren Roman zu erzählen geprägt. Das fängt bei der Vorstellung verschiedener Figuren in Abschnitten an, die als Titel C*, d.h. die Nummern der von ihnen bewohnten Appartements tragen, setzt sich in einem in die Handlung integrierten Zeitungsartikel aus der Vacca Vale Gazette, der den auf den Vacca Vale Country Club verübten Anschlag verurteilt, sowie im von der Schauspielerin Elsie Blitz vor ihrem Tod selbst verfassten und danach online gestellten Nachruf fort, zu dem sich ihr einziger Sohn kritisch äußert, und kulminiert in die Kombination von Multiple-Choice Prüfungsfragen mit den Gerüchten, in denen Blandines ehemalige Mitschülern über sie tratschen, sowie in der parallelen Wiedergabe eines Entwurfs von Blandine und einem vor über neunhundert Jahren geschriebenen Brief von Hildegard von Bingen. Zum Schluss hin gibt es sogar einen Abschnitt, der ausschließlich aus Illustrationen von Visual Artist Nicholas Gunty, dem Bruder der Autorin besteht.
Fast Leitmotivartig ziehen sich Kaninchen durch diesen Roman. Zusätzlich zur Titelgebenden Rolle, die ihnen im Kaninchenstall zukommt, tauchen sie auf weiße Socken gestickt auf, werden als Emoji verschickt oder als Zutat bei der Herstellung von Hundefutter verwendet, um nur einige Beispiele dafür zu nennen. Nebenher lässt Tess Gunty soziale Kritik einfließen, wenn Blandine sich gegen das von der Presse gefeierte Stadtentwicklungsprojekt stellt, das das an seiner hohen Arbeitslosigkeit, Kriminalitätsrate und grassierenden Armut leidende Vacca Vale wieder beleben soll. Denn der von ihr so geliebte Park im Valley hat im Zuge dessen zu weichen. Elsie Blitz setzt sich auch über ihren Tod hinaus für die auf einer Insel vor der Karibikküste Panamas heimischen Zwergfaultiere ein. Deren Bestand umfasst kaum mehr als achtzig Exemplare, weil er durch den Klimawandel, Wilderei und die Abholzung der Mangrovenwälder massiv geschrumpft ist.

Alles steht in Verbindung zu allem anderen
Der Aufbau des Kaninchenstalls erinnert erst eher an eine Sammlung von Kurzgeschichten aufgrund des Episoden artigen Charakters des Romans. Zu Beginn sind die einzelnen Kapitel weitgehend unabhängig voneinander, weisen allerdings lose Berührungspunkte auf, aus denen sich nach und nach größere Zusammenhänge ergeben. Dabei wird von der Autorin hervorgehoben, dass alles mit jedem anderen in Verbindung steht. Ein Beispiel dafür ist die 50er Jahre Serie "Meet the Neighbors", die sich die junge Mutter Hope aus C8 nachts anschaut, wenn sie nicht schlafen kann, und deren Mittelpunkt die Schauspielerin Elsie Blitz bildet. Nachdem letztere verstorben ist, werden die Einträge in deren Kondolenzbuch von der ebenfalls im Kaninchenstall wohnhaften Joan kontrolliert. Die Lieblingsautos von Elsie sind legendäre Zorns gewesen, die in vergangenen Zeiten für Wohlstand in Vacca Vale gesorgt haben. Von dem aus dieser Dynastie geerbten Vermögen pflegt eine der Zorn Nachfahrinnen, die mit Blandines vormaligen Theatergruppenlehrer verheiratet ist, einen luxuriösen Lebensstil, von dem das Kind aus der Fürsorge nur träumen kann.

Unter die Haut gehende Analyse toxischer Beziehungen
Schwerpunkt der ersten Hälfte des Kaninchenstalls bildet die präzise Analyse einer toxischen Beziehung, indem das ungleiche Machtgefüge, das diese dominiert, schonungslos offengelegt wird. Von Tess Gunty werden sämtliche Stationen geschildert, die dabei durchlaufen werden. Das beginnt hoffnungsvoll, wenn Blandine von einem ihrer Lehrer, der bereits alles durch den ihm von seiner Frau garantierten Wohlstand besitzt, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, geht aber mit dessen manipulativem Verhalten einher und führt zum unvermeidlichen Ende in Gestalt des Niedergangs von Blandine als unterlegener Partei.

Ein furioses Finale?
Der tatsächliche Schluss dieses Romans fällt dagegen deutlich schwächer aus, obgleich es der Autorin gelingt, darin die verschiedenen, von ihr im Verlauf aufgegriffenen Handlungsstränge zusammenlaufen zu lassen. Allerdings hat Jennifer Egan in Candy Haus, der in dessen Episodenartigen Aufbau dem Kaninchenstall ähnelt, in diesem Jahr schon ein wesentlich fulminanteres Finale präsentiert, das durch seine enge Taktung und das überraschende Aufeinandertreffen zuvor eingeführter Figuren besticht. Abgesehen vom letzten Teil ihres Romans braucht Tess Gunty, die vielleicht nicht das Talent eines jungen David Foster Wallace ("Kleines Mädchen mit komischen Haaren"!) besitzen mag, dafür jedoch den besten Debütroman, den ich seit Jahren gelesen habe, abgeliefert hat, den Vergleich mit der Pulitzerpreisträgerin nicht zu scheuen. Denn mit Blandine hat sie eine einzigartige Heldin für ihr Buch ersonnen, deren besondere Sichtweise sie stets überzeugend zu vermitteln weiß.
Dagegen sind die Blickwinkel der in diesem Roman auftretenden Männer oft wenig nachvollziehbar gewesen, wenn ihre Motivation für mich im Dunkeln geblieben ist und die Schilderung von deren Verhalten absurd auf mich gewirkt hat, weil dies nicht derart nuanciert wie im Fall von Blandine beschrieben worden ist. So hätte der Kaninchenstall stärker ausfallen können, wenn Tess Gunty nur Blandine in dessen Mittelpunkt gestellt hätte und deren Lebensgeschichte in chronologischer Reihenfolge - von ihrer dramatischen Geburt über Stationen bei unterschiedlichen Pflegefamilien bis hin zur Aufnahme an der teuren Privatschule - wiedergegeben hätte. Indem die Autorin zu Beginn einen Teil vom blutigen Ende, bei dem Blandine in einem gewalttätigen Akt ihren Körper verlassen wird, verraten hat, hat sich zwar einerseits eine den Kaninchenstall prägende unheilvolle Atmosphäre sich anstauender Konflikte aufgebaut. Andererseits ist in den fortwährenden Andeutungen auf spätere Ereignisse früh derart viel preisgegeben worden, dass sich bei mir der mit dem Schluss angestrebte Überraschungseffekt, der durch dessen Hinauszögern wohl noch verstärkt werden sollte, nicht einstellen wollte. Lediglich die Rolle, die wenigen Nebenfiguren dabei zugekommen ist, ist gänzlich unerwartet gewesen. Dazu zählen die Kontrahenten im Rattenstreit (C6 vs. C8) und ein entzückendes, verletztes Zicklein, das sich wiederholt zum Szenendieb gemausert hat.

 

4,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Rabbit Hutch
  • Herausgeber: Kiepenheuer&Witsch
  • Erscheinungsdatum: 6. Juli 2023
  • Seitenzahl: 416
  • ISBN-10: 3462003003
  • ISBN-13: 978-3462003000
  • Preis: 25 €

 

1. Oktober 2023: Das Land der Anderen von Leila Slimani


Intensives, von der Familiengeschichte der Autorin inspiriertes Drama

 

Die Französin Mathilde landete am 1. März 1946 in Rabat, wo sie ihren Mann Amine endlich wieder trifft. Kennen und lieben gelernt haben sich die beiden im Herbst 1944, als Amines Regiment in ihrem Heimatdorf bei Mülhausen im Elsass stationiert gewesen ist und auf seinen Marschbefehl gen Westen gewartet hat. Denn der gutaussehende Amine versprach der in ihrer wilden Natur nach einem Abenteuer dürstenden Mathilde den Ausbruch aus ihrem recht behüteten, gutbürgerlichen Leben. Doch ihre Weiterreise zum Land, das Amine von seinem Vater Kadour Belhaj, einem ehrenwerten Offizier, in der Nähe von Meknes geerbt hat, verzögert sich. Denn das ist seit dem Tod des Vaters, der 1939 gestorben ist, verpachtet und der Pächter weigert sich, den Hof vor Ablauf des Vertrags zu verlassen. So harren Mathilde und Amine in Meknes aus, wo sie bei Amines Mutter und seiner Schwester wohnen.

 

Die ungewöhnliche Liebesgeschichte von Mathilde und Amine
“Das Land der Anderen” wird zunächst aus der Perspektive von Mathilde wiedergegeben. Da dauert es nur wenige Kapitel, bis sich ihr Traum von einem Leben in einem anderen Land an der Seite ihres schönen Mannes in einen Albtraum verwandelt hat. Die Anreise im Flugzeug ist zwar beschwerlich, weil sie das erste Mal fliegt, doch ist sie voller Glück, als sie in Rabat eintrifft, um Amine wiederzusehen. Denn die junge Mathilde ist in Liebe zu diesem Mann entbrannt. Sogar mit ihrer Schwiegermutter Mouilala versteht sie sich erstaunlich gut, obgleich sich in ihrer beider Sicht auf die Welt ihre grundlegend verschiedenen Lebensweisen deutlich widerspiegeln. Erst hält sich Mathilde aus der Küche fern, die das Reich von Mouilala ist. Auch hindern sie sprachliche Barrieren an einer fließenden Kommunikation, indem Mathilde nur Französisch spricht und sich so mit ihrer Schwiegermutter nicht verständigen kann. Mouilala respektiert ihre Schwiegertochter jedoch als gebildete Frau, die sie in ihrem Haus beherbergt, wenn Mathilde ihre Zeit mit Lesen sowie dem Schreiben von langen Briefen an ihre Familie in die französische Heimat verbringt.

 

Mathildes Integration in ein Land und eine Kultur, die ihr fremd sind
Die sprachlichen Hürden überwindet Mathilde im weiteren Verlauf von “Das Land der Anderen” zügig, indem sie die Sprache rasch lernt. Der erste Ramadan stellt aber einen Kulturschock für sie dar, als ihr das Fasten, dem sie sich anschließt, schwerfällt. Auch im Beobachten der untergeordneten Rolle, die die Frau im Haushalt einzunehmen hat, versagt ihr die Akzeptanz. Ein Beispiel dafür beobachtet sie am Ramadan im Verhalten ihrer Schwiegermutter, die den ganzen Tag in der Küche mit Kochen und Backen verschiedener, für den Festtag angedachter Gerichte verbracht hat, ohne dass sie etwas davon essen durfte. Am Abend dann, nachdem die Sonne untergegangen ist, tischt Mouilala den Männern im Haus die zubereiteten Speisen auf, während die Frauen warten müssen, bis sie gegessen haben. Erst danach durfte endlich auch ihre Schwiegermutter etwas zu sich nehmen.

 

Zu den Diskriminierungen und Schikanen, denen Mathilde und Amine ausgesetzt sind
Die Ehe von Mathilde und Amine leidet unter den Vorurteilen, mit denen sie u.a. in Meknes konfrontiert werden. Wenn sie sich gemeinsam in der Öffentlichkeit zeigen, sind sie diesen ausgesetzt. Aber auch allein ist Mathilde nicht davor gefeit. Als sie hochschwanger gewesen ist, ist sie auf der Straße von zwei unbekannten Frauen angerempelt worden. Ihr Verhalten rechtfertigten sie damit, dass Mathilde sich von einem Araber hat ein Kind machen lassen. Und wenn Mathilde, die sich bei Amine untergehakt hat, durch die Viertel der Stadt schlendert, bleibt es oft nicht bei missbilligenden Blicken. Dann werden sie von der Polizei angehalten, bis Amine seine Papiere vorgelegt hat. Erst wenn das Gegenüber Amines perfektes Französisch feststellt und seine Verdienste im Krieg bemerkt, können sie weiterziehen. Ihre anfänglich so innige Liebe hält die Belastungen, denen sie durch fortwährende Schikane und diskriminierendes Verhalten der anderen aufgesetzt sind, nicht aus. Und so streiten Mathilde und Amine bereits viel, als ihre erstgeborene Tochter Aicha noch ganz klein ist.

 

Starke Charakterisierungen bei ruhiger Erzählweise und sachlichen Beschreibungen
“Das Land der Anderen”, das von der Familiengeschichte der Autorin inspiriert ist und im Roman “Schaut, wie wir tanzen" fortgeführt wird, lebt von seinen gelungenen Charakterisierungen. Das schließt zum einen Mathilde mit ein, deren Entwicklung von Slimani glaubwürdig geschildert wird. Auf dem Hof hat Mathilde auch wegen ihrer gutbürgerlichen Herkunft zu kämpfen. So fällt es ihr schwer sich darauf einzustellen, sich dort von morgens bis abends den Rücken krumm arbeiten zu müssen. Ihrem harten Leben versucht sie, einen Hauch von Schönheit zu verleihen, wenn sie in der Nacht hübsche Kleider für ihre Tochter näht. Zum anderen betrifft das Mathildes Mann Amine, der an den Schwierigkeiten zu zerbrechen droht, wenn er es in endlosen Versuchen nicht schafft den kargen Boden, der zum Hof gehört, zu bestellen und diesem Land Erträge abzuringen, und sogar die kleine Aicha, deren Welt ins Wanken gerät, als sie die Schule in der Stadt zu besuchen hat. Dabei verfällt die Autorin nie der Versuchung, das beschwerliche Leben auf dem Hof in nostalgischer Verklärung zu beschönigen, sondern fängt es in nüchternen, realistisch anmutenden Beschreibungen ein.
Die ruhige Erzählweise, die beinahe schon sachlich wirkt, jedoch aufgrund der Dichte der Ereignisse nicht für ein langsames Erzähltempo sorgt, prägt Slimanis Art ihren Roman zu erzählen. Das geht jedoch nie zu Lasten des Dramas, das in seiner intensiven Schilderung die Tragik im Leben ihrer Figuren betont.

 

Ein von der Familiengeschichte der Autorin inspirierter Roman
Wo in vergleichbaren Romanen, die ebenfalls auf der Familiengeschichte des Autors oder der Autorin basieren, wie beispielsweise im Porzellanzimmer von Sunjeev Sahota, dessen Schreibstil zu überzeugen weiß, das Korsett der tatsächlichen Ereignisse, die darin wiedergegeben werden, sowie fehlende Kenntnisse darüber letztlich zu einer für einen gelungenen Roman eher wenig geeigneten Geschichte führen oder in Wandering Souls von Cecile Pin ab und an zu dick aufgetragen wird, wenn der Roman ins Dramatische kippt und die Autorin dann auf die Tränendrüse drückt, beweist Prix Goncourt-Preisträger Slimani ihre große Klasse. Denn ihr gelingt in “Das Land der Anderen” der Balanceakt, indem sie ein intensives Drama erzählt, das sich gerade in den stillen Momenten zeigt und dessen Geschichte auch für einen großen Roman geeignet ist.

4,5 Sterne *****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Le Pays Des Autres
  • Herausgeber: btb Verlag
  • Erscheinungsdatum: 14. Dezember 2022
  • Seitenzahl: 384
  • ISBN-10: 3442772613
  • ISBN-13: 978-3442772612
  • Preis: 13 €

Romane der Trilogie:

  • Band 1: Das Land der Anderen
  • Band 2: Schaut, wie wir tanzen