The Atlas Paradox von Olivie Blake


Nicht ganz so gelungene Fortsetzung der Atlas-Reihe mit starkem Schluss

 

Inhalt: "The Atlas Paradox" ist nach "The Atlas Six" der zweite Band der Atlas-Reihe von Olivie Blake. Nachdem im Finale des Vorgängers die Leiche der Physiomagierin Libby Rhodes von Illusionist Tristan Caine, dessen Fähigkeit nicht im besonders kunstfertigen Weben von Illusionen, sondern im mühelosen Durchschauen derselben besteht, als Animatur entlarvt wurde, haben die verbliebenen Atlas Six nach der verschwundenen Libby gesucht. Doch fehlt auch einen Monat später noch jede Spur von ihr. So geht das Leben in der Alexandrinischen Bibliothek weiter und für die verbliebenen fünf Auserwählten steht nun das mysteriöse Ritual an, mit dem ihre Initiierung erfolgen soll. Darüber werden sie von Kurator Atlas Blakely und Forscher Dalton Ellery im Unklaren gelassen, wenn sie lediglich erfahren, dass es sich dabei um eine Art von Spiel handelt, das allerdings ohne Regeln, Verlierer und Gewinner auskommt.

 

Umfangreiches Material als Einleitung von "The Atlas Paradox"
Zum Einstieg von "The Atlas Paradox" stellt Olivie Blake umfangreiches Material zur Verfügung, das Informationen aus "The Atlas Six" in übersichtlicher Form zusammenfasst. Das beginnt bei der prägnanten Vorstellung der Atlas Six als gesuchte Personen. Dabei wird kurz deren Herkunft abgerissen, deren magisches Fachgebiet erwähnt und werden relevante Ereignisse aus dem ersten Band der Reihe bzw. Merkmale ihrer Charakterisierung wiedergegeben. Neben Physiomagierin Libby Rhodes zählen dazu ihr Gegenstück Nico de Varona, der ebenfalls Physiomagier ist, Naturmagierin Reina Mori, eine Art von Illusionist Tristan Caine, Empath Callum Nova und Telepathin Parisa Kamali. Zudem findet sich unter "weiterführenden Hinweisen" das übrige Figurenarsenal beschrieben, zu dem etwa neben Libbys Ex-Freund und Entführer, dem Zeitreisenden Ezra Fowler, auch der Träumer Gideon Drake, der der Mitbewohner und beste Freund von Nico ist, und Animatist Dalton Ellery gehört. Dalton, in dessen Verstand sich eine andere Version seiner selbst eingesperrt als Prinz in einem Schloss versteckt, forscht bereits seit zehn Jahren an der Alexandrinischen Bibliothek und hat die Animatur von Libby erschaffen, ohne dass er sich daran zu erinnern vermag. Abgerundet wird diese Vorstellung der Figuren von einem beigefügten Studienplan, den die Auserwählten resp. Initiierten in ihrem ersten und zweiten Jahr in der Bibliothek zu durchlaufen haben.
Weil ich den ersten Band der Atlas-Reihe noch ganz gut in Erinnerung hatte, ist mir diese Überleitung auch vor dem Hintergrund, dass die sich in den ersten, aus Sicht der Atlas Six geschilderten Kapitel fortgesetzt hat, ein wenig zu lang geraten. Denn die sind mit ihrer Suche nach Libby befasst, deren Abwesenheit zumindest einigen von ihnen immer wieder schmerzhaft bewusst wird. So hat sich Olivie Blake abgesehen von einem vorangestellten Kapitel, das den Titel “Anfang” trägt, für meinen Geschmack zu viel Zeit damit gelassen, bis die Handlung dann doch noch in die Gänge kommt.

 

Schwächen in der aus "The Atlas Six" übernommenen Erzählweise
Der Aufbau von "The Atlas Paradox" entspricht im Wesentlichen dem, wie er mir aus dem ersten Band bekannt gewesen ist. "The Atlas Six" ist von den Perspektiven der sechs von Atlas Auserwählten geprägt, deren Sichtweise reihum gewechselt hat. Das ist ein passendes Konstrukt für die von der Autorin erzählte Geschichte gewesen. Denn der erste Band kreiste um das moralische Dilemma, in dessen Fokus die Frage stand, welcher der Atlas Six von den anderen getötet werden soll, damit die Überlebenden als vollwertige Mitglieder in die Alexandrinische Geheimgesellschaft aufgenommen werden. Dafür hat sich das in "The Atlas Six" inszenierte Kammerspiel angeboten, durch das ich ganz nah dran an jedem der sechs, an ihren Gedankengängen und Zweifeln, aber auch ihrer Sicht auf die anderen gewesen bin. Intensität wurde dabei aus den geschlossenen und wieder verworfenen Allianzen, aus den Intrigen und Ränkespielen gewonnen, indem die so essentiell gewesen sind.
Diese Erzählweise, die in "The Atlas Paradox" nahezu unverändert beibehalten wird, entwickelt sich dabei immer mehr zum Korsett, das nicht recht passen will und stellenweise der an sich interessanten Geschichte die Luft abschnürt. Denn die sich verschiebenden Allianzen unter den verbliebenen Atlas Six, die nach der erfolgten Initiierung um ihre Forschungsgebiete ringen, ist weit weniger spannend als im Vorgänger ausgefallen, weil dabei die moralische Fallhöhe fehlt, die im ersten Band auf einen Mord hinausgelaufen wäre.

 

Wenig nachvollziehbare Entwicklung der Atlas Six abgesehen von Libby Rhodes

Die nach wie vor als Kammerspiel inszenierten Scharmützel in der Bibliothek werden auf der einen Seite vom Interesse geprägt, das vom Wesen der Bibliothek geweckt wurde, so dass Versuche unternommen werden, diesem auf den Grund zu gehen. Die andere Seite hat sich der Suche nach der verschollenen Libby verschrieben, die allerdings auf nicht immer nachvollziehbaren Umwegen erfolgt und so von eher mäßigem Erfolg gekrönt ist. Wenn grundlegend neue Erkenntnisse über die Bibliothek bzw. Libbys Aufenthaltsort über weite Strecken ausbleiben, tritt die Handlung auf der Stelle. Daran ändern auch die in "The Atlas Paradox" begründeten Zweckgemeinschaften wenig, die zuvor nicht in Frage gekommen wären. Indem Olivie Blake ihre Hauptfiguren derart fundiert in "The Atlas Six" beschrieben hat, dass deren präzise ausgearbeitete Charakterisierungen eine der großen Stärken dieses Romans gewesen sind, irritierte mich umso mehr, dass diese plötzlich ganz andere Wesenszüge zeigten. Dafür wird zwar am Rande als Erklärung angeführt, dass quasi jeder der in der Bibliothek verbliebenen Fünf bemerkt, dass etwas an ihm zehrt. Das ist für mich aber schlecht nachvollziehbar gewesen.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Um den Roman interessanter zu gestalten, hätte sich angeboten, den zweiten Band der Reihe stärker vom Vorgänger abzugrenzen, statt sich zu stark an dessen Erfolgskonzept zu orientieren, das nur minimal abgewandelt wurde. Denn als besonders gelungen habe ich "The Atlas Paradox" genau dann empfunden, wenn Olivie Blake die beschränkte Welt der Alexandrinischen Bibliothek, der sie wohl nicht viel Neues mehr hinzuzufügen hatte, hinter sich gelassen hat. Das ist in den Kapiteln der Fall, die aus Sicht von Gideon, Libby und Ezra erzählt sind, sowie bei einem ungewöhnlichen Roadtrip, zu dem Tristan und Nico aufbrechen und von dem sie nur leider viel zu schnell wieder zurückkommen. Dabei entwickelte sich Träumer Gideon für mich zum Sympathieträger, dessen erstes Kapitel zwar noch stark an Inception erinnert hat. Im weiteren Verlauf schaffte es aber die Autorin ihren Szenen aus der Traumwelt eine ganz eigene Note zu verleihen. Das wird besonders deutlich in Gideons Konfrontation mit Telepathin Parisa. Aber auch in den Kapiteln von Nico und Libby mausert sich Gideon bei jedem seiner Auftritte zum Szenendieb. Davon hätte ich gern mehr gelesen.
Spannender wäre "The Atlas Paradox" ausgefallen, wenn Olivie Blake sich weniger auf die Ereignisse in der Bibliothek konzentriert, sondern vielmehr Gideon, Libby und Ezra als Sprungbrett genutzt hätte, um die von ihr in "The Atlas Six" angedeutete, phantastische Welt der Magie jenseits der engen Grenzen der Alexandrinischen Bibliothek zu erforschen. Dafür hätten sich die von Gideon erkundeten Traumreiche ebenso wie der Handlungsstrang, der auf einer zweiten Zeitebene in der Vergangenheit angesiedelt ist, angeboten. Auch hätte etwa in Gestalt von James Wessex ein interessanter Gegenspieler der Bibliothek zur Verfügung gestanden, bei dem es sich gelohnt hätte, diesen näher zu beleuchten. Denn Wessex, der als genialer Visionär Karriere gemacht hat, ist nun ein abgebrühter Geschäftsmann, der als beinahe Schwiegervater von Tristan sogar eine persönliche Beziehung zu einem der Auserwählten hat. Leider beweist die Autorin eine Schwäche beim Timing, das sich gerade in der Entscheidung zeigt, von welchen Stunden oder Tagen sie erzählt und welche Ereignisse sie überspringt, um sie dann nur im Rückblick kurz anzuschneiden. Denn dabei werden häufig gerade die spannendsten Stellen ausgelassen wie beispielsweise beim Aufeinandertreffen von Ezra und Libby nach deren Entführung. Da währenddessen in der Bibliothek nicht sonderlich viel passiert, haben sich so Längen eingeschlichen, die hätten vermieden werden können.

 

Mein Fazit zum starken Schlussteil
Am besten haben mir der letzte Teil "IX Olymp" und das offene Ende gefallen, weil Olivie Blake darin mit einigen überraschenden Wendungen aufzuwarten hatte. Auch die gelungene Umsetzung die Lebensgeschichte einer Nebenfigur aus deren Sicht im Zeitraffer abzuspulen, hat mich überzeugt. Dieser Ansatz ist aus dem ersten in den zweiten Band der Reihe übernommen worden, hebt sich aber vom Vorgänger dadurch deutlich genug ab, dass eine ganz andere Figur in deren Mittelpunkt gestellt wurde.
Im Finale von "The Atlas Paradox" hat die Autorin sogar einen actiongeladenen Showdown untergebracht, der seine eigenwillige Dynamik den magischen Fähigkeiten, die Hexer und Medäer im Kampf einsetzen, verdankt, und der Bibliothek wird das Opfer dargebracht, auf das sie schon lange gewartet hat. Mit Libby, Gideon und Dalton durchlaufen die Figuren, die für mich in diesem Roman am interessantesten gewesen sind, eine glaubwürdig geschilderte Entwicklung, für die die Autorin einen passenden Abschluss gefunden hat. Weil ich die sich in den letzten Kapiteln andeutenden neuen Allianzen teils als unerwartet, teils als vielversprechend empfunden habe, bin ich nun schon auf die Fortsetzung der Atlas-Reihe gespannt.

 

3,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Atlas Paradox
  • Herausgeber: Fischer Tor
  • Erscheinungsdatum: 26. April 2023
  • Seitenzahl: 560
  • ISBN-10: 359670765X
  • ISBN-13: 978-3596707652
  • Preis: 24 €

Atlas-Reihe:

  • Band 1: Atlas Six
  • Band 2: Atlas Paradox
  • Band 3: Atlas Complex