Im Januar habe ich das von der eigenen Familiengeschichte des Autors inspirierte, im ländlichen Indien angesiedelte Drama ("Das Porzellanzimmer") gelesen. Als ungewöhnlich habe ich die
Kombination aus übernatürlichen Elementen im historischem Setting ("Die Inkommensurablen") bzw. in einem Western-Thriller ("Die tausend Verbrechen des Ming Tsu")
empfunden. Dagegen habe ich den Versuch von Peter Stamm, sich selbst mittels der dazu eingeführten Meta-Ebene in seinen Roman hineinzuschreiben, als eigenwillig erlebt. Und im so euphemistisch
betitelten "Ein Freund" bin ich den abgründigen Spielen, die ein Fremder mit den daran Beteiligten treibt, auf den Grund gegangen.
29. Januar 2023: Das Porzellanzimmer von Sunjeev Sahota
24. Januar 2023: In einer dunkelblauen Stunde von Peter Stamm
19. Januar 2023: Die Inkommensurablen von Raphaela Edelbauer
14. Januar 2023: Nur die Asche bleibt von Rebecca Schaeffer
9. Januar 2023: Ein Freund von Charlie Gallagher
4. Januar 2023: Die tausend Verbrechen des Ming Tsu von Tom
Lin
Abwechslungsreich erzähltes Familien-Liebes-Drama im ländlichen Indien der 30er Jahre
Inhalt: 1929 lebt die junge Mehar nach ihrer Hochzeit mit einem der Söhne der Witwe Mai auf deren Hof.
Dort wohnt sie zusammen mit Harbans und Gurleen, die die anderen beiden Söhne von Mai am gleichen Tag wie Mehar geheiratet haben, im Porzellanzimmer. Keine der jungen Frauen weiß, welcher der
Brüder Jeet, Mohan oder Suraj ihr Mann ist. Mehar hat nicht nur mit dieser Ungewissheit zu kämpfen, sondern muss sich auch an ihr neues Leben, das von der harten Arbeit auf dem Hof geprägt ist,
gewöhnen. Von früh bis abends muss sie an der Seite von Harbans und Gurleen nicht nur in der Küche schuften. Bei nächtlichen Zusammenkünften, deren Termine Mai diktiert, muss sie in nahezu
absoluter Dunkelheit ihrem Mann zu Willen sein. Und wenn sie nicht bald einen Sohn bekommen wird, ist ihre Stellung im Haus nicht garantiert.
Zu Hauptfigur Mehar und ihrem Urenkelsohn
Abwechslungsreich erzählt Sunjeev Sahota seinen Roman aus Sicht seiner Hauptfigur Mehar und weiterer
Personen. Diese umfassen etwa verschiedene von Mais Söhnen, aber auch Mehars Urenkelsohn. Letzter wird viele Jahrzehnte später wegen seiner Drogenabhängigkeit von seinen Eltern nach Indien
geschickt wird und kommt dort der Geschichte seiner Urgroßmutter auf die Spur. So erzählt der Autor seine Geschichte auf mehr als nur einer Zeitebene. Eine davon fokussiert sich auf das Jahr
1929, indem die erst fünfzehn Jahre alte Mehar geheiratet hat. Zum anderen wird die Zeit geschildert, in die der Aufenthalt von Mehars Urenkelsohn als Student in Indien fällt, nachdem er in die
Drogensucht abgerutscht ist. Diesen Nachfahren Mehars habe ich aber auch erlebt, als er zwanzig Jahre älter ist und Verantwortung für seine Eltern zu übernehmen hat, weil sein Vater nach einer
Operation am Knie sogar auf Hilfe beim Treppensteigen angewiesen ist und das Haus verkaufen muss, das er sich nicht mehr leisten kann. Zudem wird aus Mehars Kindheit berichtet, wenn diese erst
fünf Jahre alt ist. Denn da ist die zukünftige Hochzeit mit Mais Sohn vereinbart worden.
Das Porzellanzimmer beginnt als beinahe schon leichtfüßig erzähltes Drama. Erst sträubt sich die junge Mehar, die ein wildes Kind gewesen ist, das in Spielen besser als jedes andere Mädchen gegen
die Jungen angekommen ist, gegen die arrangierte Ehe. Sie fügt sich dann aber rasch in ihre neue Rolle und lebt sich wegen der anderen Bräute Harbans und Gurleen bald auf Mais Hof ein. Mehars
Urenkelsohn ist als indischer Junge in seiner englischen Heimatstadt schlimmen Erfahrungen ausgesetzt gewesen. So erinnert er sich an die traumatischen Erlebnisse, die mit der Einladung zur
Geburtstagsfeier eines Freundes einhergingen. Aber nach ein wenig Kuchen und ein paar Runden um den See, bei denen er sich an den gefleckten Fischen erfreute, ist schon wieder alles gut. Auch das
Drama, dass die Eltern von Mehars Urgroßenkel ihr Haus verlieren lässt, nachdem sie sich ihr Leben lang in ihrem Laden abgerackert haben, bleibt auf eine skurrile Szene beschränkt, in der der
Vater den Rücken der Kaufinteressenten mit der Krücke droht. Zudem beginnt das im Kern dieses Romans erzählte Drama, das um die Liebesgeschichte von Mehar mit einem von Mais Söhnen kreist, als
klassische Verwechslungsgeschichte, die sich so auch in jeder RomKom finden könnte.
Zu leichtfüßig erzählte Tragödie, die den beinhalteten Dramen wenig Raum gibt
Obwohl sich dieser Roman von Beginn an für mich flüssig und gut gelesen hat, hätte ich diesen als stärker empfunden, wenn Sunjeev Sahota sich auf die darin enthaltenen Dramen konzentriert und
diese auserzählt hätte. Dabei hätte ich mir gewünscht, dass sich dies nicht nur auf das Liebesdrama von Mehar beschränkt hätte, sondern das der Autor den anderen Dramen im Leben von Mehars
Urgroßenkel und seinen Eltern mehr Raum gegeben hätte. So sind für meinen Geschmack dessen Kampf gegen die Drogensucht, seine traumatischen Kindheitserlebnisse und der drohende Verlust seines
Elternhauses aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten zu schnell abgehandelt worden.
Denn dadurch dass diese problematischen Situationen nach ein oder zwei Kapiteln abgehandelt gewesen sind, wenn der Autor zum nächsten Thema übergegangen ist, hat sich bei mir der Eindruck
eingeschlichen, dass das alles nicht so schlimm gewesen ist. Der Roman hätte meiner Ansicht nach aber eine weit stärkere Wirkung entfaltet, wenn sich die darin erzählten Dramen von Episode zu
Episode verschlimmert hätten, indem der Autor der Tragödie aus Mehars Leben und auch den anderen Dramen mehr Zeit und Raum in einer intensiveren Auseinandersetzung eingeräumt hätte. Denn so hätte
dieser Roman zu einer Abwärtsspirale aus Dramen werden können, die seine Figuren immer weiter in den Abgrund zieht, um eine sogartige Wirkung zu entfalten.
Abrupte Entwicklung der Figuren und weitere Kritikpunkte
Die junge Mehar, die als Sympathieträgerin dieses Romans angelegt ist, konnte mich zwar mit ihrer lebensfrohen Art für sich einnehmen. Da sie noch so jung ist, hat sie aber auch ziemlich naiv und
unbedarft auf mich gewirkt, was ihre Charakterisierung eher eindimensional hat ausfallen lassen. Leider habe ich nicht nur Mehar, sondern auch die meisten der anderen Figuren als recht blass
empfunden. Zu Beginn des Romans habe ich Mehars Schwiegermutter Mai noch als interessanteste Figur wahrgenommen. Mai fällt zwar nicht gerade in angenehmer Weise auf. Ich hätte aber gern mehr
darüber erfahren, wie Mai zu der durchsetzungsstarken Witwe werden konnte, die ihren Hof so fest im Griff hat, und auch vor brutalen Bestrafungen oder übergriffigem Verhalten nicht
zurückschreckt, um ihren Willen durchzusetzen.
Teilweise hat mir die Schilderung von Zeiträumen gefehlt, die die Figuren in Sahotas Roman zu denen haben werden lassen, die sie dann sind. Teils sind Entwicklungen der Charaktere zu rasch
erfolgt, so dass diese zwar zu für mich überraschenden Wendungen und unerwarteten Enthüllungen gefüht haben, leider aber auch den eher schwach angelegten Figuren den letzten Rest an
Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit ihrer Handlungen genommen haben.
4 Sterne ****
Allgemeine Angaben zum Buch:
Gekonnte Beschreibungen bei blassen Figuren und einer sprunghaften Erzählweise
Inhalt: Die Filmemacherin Andrea und ihr Freund Tom, der meist für die Kamera verantwortlich ist,
arbeiten mit Unterstützung der Tontechnikerin Sascha an einem Film über den Schriftsteller Richard Wechsler. Die Idee dazu ist ihnen gekommen, als sie Wechsler bei einer Lesung im Museum
kennengelernt haben, da Tom alle seine Bücher begeistert gelesen hat. Nachdem sie in Paris gedreht haben, wo der in die Jahre gekommene Wechsler lebt, sind sie in sein Heimatdorf gereist. Doch
als Wechsler am vereinbarten Tag nicht im Dorf eintrifft, überbrücken Andrea und Tom die Wartezeit damit Jugendfreunde von Wechsler aufzuspüren und diese nach dem Autor zu befragen. So hoffen
sie, mehr über den sein Privatleben so geheim haltenden Schriftsteller zu erfahren, um ein wenig Licht in das Rätsel zu bringen, das Wechsler immer noch für sie bedeutet. Welchen von seinen
Geheimnissen werden sie auf die Spur kommen? Und weist sein Werk tatsächlich die autobiographischen Bezüge auf, die Andrea und Tom diesem unterstellen?
Zur Protagonistin Andrea und in diesen Roman integrierten Meta-Ebene
In einer dunkelblauen Stunde wird aus Sicht von der nicht sonderlich erfolgreichen Dokumentarfilmerin
Andrea geschildert. Sie hat bislang nur wenige Filme u.a. Auftragsarbeiten für ein Museum realisiert und lebt so im Wesentlichen von der Entwicklungsförderung, die sie auch für den Film über
Wechsler beantragt hat.
Obwohl ich aufgrund der von Stamm gewählten Perspektive eigentlich ganz nah an Andrea hätte dran sein sollen, indem ich Gelegenheit hatte tief in ihre Gedankenwelt einzutauchen, ist sie mir doch
seltsam fremd geblieben. Dazu trägt wohl auch bei, dass ich die vom Autor integrierte Meta-Ebene als nicht so gelungen empfunden habe. Andrea betrachtet ihre Umgebung meist wie durch die Linse
einer Kamera, die dadurch einer Kulisse in einem Film gleicht. Und in Andreas Gesprächen mit Wechsler, in denen dieser wenig von sich preisgibt, spinnt sie jede Andeutung, die in einem
unvollendeten Satz stecken könnte, in umfangreichen Was-wäre-wenn-Szenarien weiter. Da ihr dafür entscheidende Informationen fehlen entwirft sie Alternativen oder ergänzt die Lücken mit Szenen
aus Wechslers Büchern und lässt so die in diesem Roman entworfene Wirklichkeit auf die in Gestalt von Wechslers Werk gegebene Fiktion treffen, die dabei verschwimmen. Andrea beschränkt sich in
dieser Sichtweise nicht nur auf in Zusammenhang mit ihrem Film stehenden Personen (u.a. Wechslers Jungendfreunde), sondern scheint die Welt im Allgemeinen auf diese Weise zu betrachten, wie ihre
zufällige Begegnung mit dem Nachtportier des Hotels, als sie nicht schlafen kann, zeigt. So ergeht sich Andrea in ihren Gedankenspielereien statt ihre Mitmenschen als echte Individuen
wahrzunehmen und diese mit einem Mindestmaß an Respekt zu behandeln.
Auf der einen Seite gibt es Filme wie Matrix, der sogar in diesem Buch zitiert wird und in dem auf gekonnte, fast schon philosophische Weise die Grenze zwischen Fiktion und Realität ausgelotet
wird. Auf der anderen Seite wird beispielsweise im Woody Allen-Film Melinda und Melinda auf leichtfüßige Art mit alternativen Szenarien gespielt. In diesem Roman gelingt leider weder das eine
noch das andere.
Mein Leseeindruck zu Beginn der dunkelblauen Stunde
Zu Beginn des Buchs wähnte ich mich noch in einem von seiner meditativen Stimmung geprägten Roman. Denn zunächst stehen die vom Team mit Wechsler in Paris gedrehten Teile des Dokumentarfilms im
Mittelpunkt. Und weil Wechsler in den mit ihm geführten Interviews kaum etwas Brauchbares erzählen wollte, beschränken sich die für den Film verwendbaren Szenen darauf, wie der Schriftsteller
durch die Straßen von Paris läuft. Diese Spaziergänge von Wechsler werden mit Gedankenfetzen von Andrea und Bruchstücken ihrer Gespräche mit Tom im Hotelzimmer in Wechslers Heimatdorf verknüpft.
Dabei wird eine besondere, fast schon meditative Atmosphäre aufgebaut. Leider belässt es Stamm nicht bei diesem ruhigen Erzähltempo, sondern springt bald schon hin und her, was zwar Abwechslung
in sein Buch bringt, obwohl an sich wenig passiert, mir aber nicht sonderlich gut gefallen hat.
Zu den Stärken und Schwächen dieses Romans
Zu den Stärken dieses Romans zählen neben seinen gelungenen Beschreibungen auch die vielen, darin enthaltenen interessanten Ansätze. Damit meine ich etwa die Idee die Momente zu schildern, bevor
verschiedene Personen zum ersten Mal in ihrem Leben von einem zehn Meter Brett im Schwimmbad springen. Diese Erzählung hätte sich bestens als separate Kurzgeschichte geeignet. In diesen an
Stories erinnernden Episoden habe ich den Roman als besonders gelungen empfunden. Insgesamt hätte mir dieses Buch besser gefallen, wenn dessen Kurzgeschichtenartiger Charakter - ähnlich wie in
Candy Haus von Jennifer Egan - deutlicher herausgearbeitet und mehr betont worden wäre, indem etwa einzelne Kapitel auch nur für sich als Kurzgeschichten bestehen könnten.
In den Romanen, die ich bisher von Peter Stamm gelesen habe, habe ich die Charakterisierung der Figuren stets als sehr gelungen empfunden, weil ich sogar mit denen gut mitfühlen konnte, mit denen
ich wenig gemeinsam hatte. Leider sind die Figuren dieses Romans, die auf mich eher wie Abziehbilder oder Schauspieler in einem Film wirkten, bis zum Schluss schwer greifbar für mich gewesen und
deren Handlungen wenig nachvollziehbar geblieben. Nur Pfarrerin Judith, die zugleich als Sympathieträgerin in diesem Roman fungiert, konnte mich da von sich überzeugen.
3,5 Sterne ****
Allgemeine Angaben zum Buch:
Ungewöhnliche Kombination aus historischem Setting und übernatürlichen Elementen
Inhalt: Der erst siebzehnjährige Hans Ranftler ist ein armer Knecht vom Bauernhof in Tirol. Am
30. Juli 1914 kommt er mit dem Zug in Wien an und ist erst einmal erschlagen von der großen Stadt, die ihn mit ihren vielen Menschen überfordert. Trotz seiner Desorientiertheit macht er sich
auf die Suche nach der Landesgerichtsstraße, die sich in der Nähe der Universität befindet. Dabei erhält Hans, als er hungrig ist, ein Stück Brot von den Heizern am Bahnhof. Und da ihm bei
seiner ersten Fahrt mit der Straßenbahn das Ticket fehlt, weil er nicht wusste, wo er dies zu kaufen hat, hilft ihm ein vornehm gekleidetes Paar aus. Denn dies ist die Zeit kurz vor der
Mobilmachung und alle Fremden, die Hans helfen, glauben, dass er sich freiwillig für den Krieg melden will. Doch Hans möchte zur Psychoanalytikerin Helene Cheresch, die auf Massenhysterien und
parapsychologische Affekte spezialisiert ist. Aufgrund der ungewöhnlicher Erfahrungen, die Hans bereits seit seiner Kindheit macht, sucht er Behandlung von ihr.
Das Trio an
Hauptfiguren
Raphaela Edelbauer hat für ihren dritten Roman ein interessantes Trio an Hauptfiguren gefunden. Neben Hans
zählen die Mathematikerin Klara Nemec und Adam Graf Jesenky von Kezmarok dazu. Die beiden sind nur wenige Jahre älter als Hans und da sie Patienten der
Psychoanalytikerin Helene sind, lernt Hans sie dort kennen. Klara und Adam verfügen so wie Hans auch über ungewöhnliche Fähigkeiten, die von Helene analysiert und studiert
werden.
Hans ist der uneheliche Sohn eines Holzexporteurs, der früh verstarb. Nach dem Tod seines Vaters musste Hans seine bis dahin genossene gutbürgerliche Erziehung aufgeben und stattdessen als Knecht
auf dem Bauernhof malochen. Sein Leben ist geprägt von seinem niederen Stand und der harten Arbeit, die er gegen fast keinen Lohn zu verrichten hat und bei der er nur die Pferde lieb gewonnen
hat.
Klara, die aus armen Verhältnissen stammt, hat ihre Leidenschaft für die Mathematik früh entdeckt. Im Winter des Jahres 1899, der in den USA als kältester überhaupt gilt, ist sie
zufällig auf das Buch Grundlagen der Geometrie vom Mathematiker David Hilbert gestoßen. Nun steht sie kurz vor Abschluss ihres Studiums. Klara, die Sozialistin und Suffragette ist, fällt von
Beginn an als selbstbewusste, moderne Frau auf. Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund und bietet selbst dem Krisenstab des Kaisers Paroli. Und wenn Worte nicht ausreichen, hat Klara wenig
Probleme damit, Taten folgen zu lassen.
Adam, dessen adelige Herkunft Hans zunächst mächtig imponiert, wird von den in seiner Familie herrschenden Traditionen erdrückt, die um ihre viele Generationen umfassende
Geschichte herausragender militärischer Leistungen kreisen. So wurde Adams ganze Erziehung schon vor Erreichen des schulfähigen Alters ganz auf seine angestrebte militärische Laufbahn
ausgerichtet. Nur ein einziges Mal hat er es geschafft seinem Vater zu trotzen und seinen Willen durchzusetzen, indem er sich seine Bratsche erkämpft hat. Denn Adams einzige Leidenschaft ist die
Musik.
Einordnung in den historischen Kontext
Die Inkommensurablen konzentriert sich neben einigen Rückblicken, die meist die Vergangenheit der zentralen Figuren beleuchten, auf den Zeitraum um die Mobilmachung in Wien im Sommer 1914. Dabei
ist die in der Stadt vorherrschende Stimmung gut eingefangen. Diese wird von den vielen jungen, nach Wien strömenden Männern geprägt, die sich freiwillig melden, um in den Krieg zu ziehen und so
ihren Dienst für Kaiser und Vaterland zu leisten. Denen jubelt die Stadt zu, die sich eines raschen Sieges über die Slowaken und Russen sicher ist, was auch der einhellige Tenor in fast allen
Zeitungen ist. Und da Hans zu genau dieser Zeit in Wien eintrifft, wird er von jedem für einen eben solchen jungen Mann gehalten.
Dabei habe ich als geschickten Schachzug von Edelbauer empfunden, dass der vom Land stammende Hans so viel für ihn Neues in Wien zu entdecken hat. Denn das gibt der Autorin Gelegenheit, einiges
zu erklären. Das reicht vom Lösen des Tickets in der Straßenbahn, über die beeindruckende Gebäude der Wiener Innenstadt bis hin zu Junkers Gasbadeofen. Dabei sind auch die Vergleiche gelungen,
die Hans zwischen dem harten Leben auf dem Hof in Tirol und der Lebensweise in der in seinen Augen so modernen Stadt anstellt.
Zudem hat die Autorin Exkurse eingeschoben, die sich in detaillierter Weise mit einem Thema auseinandersetzen. Diese Exkurse behandeln etwa die Bauweise der Stadt Wien und deren Veränderungen im
Wandel der Zeit oder das zweite Streichquartett von Arnold Schönberg. Indem die Autorin sich recht ausufernd mit dem jeweiligen Thema befasst, hatte ich mehr Freude dran, wenn diese meinen
Interessen entsprochen haben. So ist es wohl nicht so einfach der recht lang ausgefallenen Passage, in der Schönbergs Streichquartett eine zentrale Rolle spielt, zu folgen, ohne dies je gehört zu
haben.
Eigenwillige Kombination aus historischem Roman und mystischen Elementen
im Vergleich zu Edelbauers vorigem Roman Dave sind die Inkommensurablen weit weniger sperrig und experimentell. Das liegt auch daran, dass von der Autorin mehr erklärt wird. Beispielsweise wird
sogar erläutert, was ein Rigorosum ist.
Das ungewöhnliche an den Inkommensurablen ist dessen Kombination aus historischem Setting und mystischen Elementen, die ein kollektives Bewusstsein betreffen. Dabei haben mir die drei grund
verschiedenen Hauptfiguren, die diesen Roman prägen, gut gefallen. Denn in diesen hat die Autorin interessante Charaktere gefunden, die zwar nicht unbedingt als Identifikationsfiguren dienen,
dafür aber mit ihren umso spannenderen Lebensgeschichten überzeugen.
Stark sind die Abhandlungen über besondere Träume und gemeinsame Erinnerungen geraten. Dazu hat auch deren Überraschungsmoment beigetragen, indem ich mich zuvor in einem historischen Roman
wähnte. Weil ich die Passagen das kollektive Bewusstsein betreffend als stärker empfunden habe, hätte mir besser gefallen, wenn die historischen Teile dieses Buchs nicht so ausufernd ausgefallen
wären. So schienen sich für mich die Diskussionen über die vor Ablauf des Ultimatums herrschende politische Stimmung ab einem gewissen Punkt zu wiederholen und im Kreise zu drehen. Zwar ist die
Kombination aus historischem Setting und der Thematik des kollektiven Bewusstseins, die mal philosophisch erörtert, mal übernatürlich begründet und mal wissenschaftlich analysiert wird,
ungewöhnlich. Doch fügen sich die verschiedenen Teile leider nicht zu einem harmonischen Ganzen, so dass diese eher nebeneinander zu stehen scheinen.
Mein Fazit zum schwachen Schluss
Der größte Schwachpunkt dieses Romans ist sein Schluss, d.h. seine letzten beiden Kapitel. Wo Edelbauer mich in ihrem Vorgänger-Roman Dave noch in ihrer Auseinandersetzung mit dem Fachgebiet der
Logik an der Grenze zwischen Mathematik, Philosophie und theoretischer Informatik begeistern konnte, kann ich als ausgebildeter Mathematiker mit ihrem Umgang mit der Zahlentheorie, die sie mit
philosophischen wie historischen Aspekten verbindet, leider wenig anfangen. Das mögen Leser, die mathematische Laien ebenso wie die Autorin als studierte Philosophin sind, anders sehen.
Und auch der zentrale Twist, mit dem dieser Roman zum Schluss aufwartet, konnte mich nicht überzeugen, weil dieser für mich in der vorliegenden Form nicht schlüssig ist. Denn dieser Twist scheint
im Widerspruch zu vorigen Szenen zu stehen und hätte in dieser Hinsicht zumindest weiterer Erklärungen bedurft. Zudem empfinde ich die Charakterisierung der Psychoanalytikerin Helene als wenig
stimmig, wenn ich sie über die verschiedenen Kapitel hinweg betrachte, in denen sie aufgetreten ist. Da hätte ich gern mehr über die Leerstellen in Helenes Leben erfahren, die von diesem Roman
nicht gefüllt worden sind. Auch fehlt mir ein zeitlich später angesiedelter Epilog, der diesen Roman hätte abrunden können, indem darin erzählt wird, wie es Hans, Adam und Klara weiterhin
ergangen ist.
4 Sterne ****
Allgemeine Angaben zum Buch:
Starke, düstere Fortsetzung der Market of Monsters-Reihe
Inhalt: Nachdem Nita die Flucht vom Market of Monsters geglückt ist, auf der sie diesen in einem feurigen
Inferno hat aufgehen lassen, hat sie Zuflucht bei der INHUP gefunden. Nita möchte nur nach Hause in die Staaten zu ihrem Vater. Aber von der INHUP muss sie erfahren, dass ihr Vater während ihrer
Gefangenschaft ermordet wurde und die INHUP einen gefährlichen Vampir der Tat verdächtigt. Glück im Unglück hat Nita mit der sympathischen Agentin Quispe, die sich mit Nita identifizieren kann,
da sie selbst in jungen Jahren ihren Vater verloren hat. Doch dann begegnet Nita bei der INHUP unerwartet einem alten Bekannten wieder. Fabricio, der sie auf den Markt verkauft hat. Und das Spiel
beginnt von Neuem.
Einordnung in die Market-of-Monsters Reihe:
"Nur die Asche bleibt" ist nach "Bis auf die Knochen" der zweite Band der Market of Monsters-Reihe, obwohl der Titel gebende Markt eigentlich am Ende des ersten Buchs bis auf seine Grundfesten niedergebrannt ist. Die Ereignisse des vorigen Bandes werden von Rebecca Schaeffer zu Beginn detailliert zusammengefasst, so dass sich "Nur die Asche bleibt" wohl auch ohne Kenntnis des Vorgängers lesen und verstehen lässt. Jedem, der "Bis auf die Knochen" noch lesen will, möchte ich allerdings die korrekte Reihenfolge der Bände empfehlen, da in diesem Fall sonst der Anfang von "Nur die Asche bleibt" zu viel über die Ereignisse des ersten Bandes der Reihe verrät.
Entwicklung von Protagonistin Nita und spannende Nebenfiguren
Im zweiten Band der Reihe geht es von Südamerika nach Toronto in Kanada, wo die Autorin ihr phantastisches Universum in konsequenter Weise erweitert. Da Nita zu Beginn unter Schutz der INHUP
steht, habe ich mehr über diese Organisation erfahren, die an bzw. von Unnatürlichen begangene Verbrechen verfolgt. Zudem wird dieser Band von mehr gefährlichen Unnatürlichen bevölkert. Neben
Zannies und was auch immer Nita und ihre Mutter eigentlich sind, spielen in diesem Roman Ghule und Kelpies zumindest in den Nebencharakteren eine größere Rolle. Diese Nebenfiguren sind eine der
Stärken dieses Romans. Denn diese werden von der Autorin mit teils bewegenden, stets tragischen Hintergrundgeschichten ausgestattet, denen sie Raum gibt und so die menschliche Seite der Monster
zeigt. In dieser Hinsicht hat mir gut gefallen, dass ich in diesem Buch mehr über das Leben und die Vergangenheit von Nitas treuem Zannie Begleiter und Freund Kovit erfahren habe.
Der Einstieg in "Nur die Asche bleibt" hat sich für mich ein wenig ruhiger gestaltet. Denn Rebecca Schaeffer hatte ihr Setting einzuführen und eine Vielzahl von Ereignissen sowie die Beziehungen
der Figuren untereinander, die sich aus dem vorigen Buch ergeben haben, zu rekapitulieren. Danach geht die Autorin aber in die Vollen, sobald Nita in Toronto eintrifft. Die ersten
Spannungsschübe, Nahkämpfe und Verfolgungsjagden lassen dann nicht lang auf sich warten, die Nita von einem Ende zum anderen der Stadt führen. Dass der Bewegungsradius in diesem Roman größer ist,
trägt dabei zur Spannung bei. Im Vorgängerband noch hatte die Spannung für mich stellenweise unter den darin herrschenden, beengten Verhältnissen des Marktes gelitten, in dem Nita einen Großteil
der Zeit in einem gläsernen Käfig verbringen musste. Die kurzen Verschnaufpausen, die "Nur die Asche bleibt" mir zwischen seinen actiongeladenen Szenen gönnte, wurden gut genutzt, um mehr über
den oft so tragischen Hintergrund der von der Autorin eingeführten Nebenfiguren zu erfahren.
Mein Fazit zum Schluss
Angesprochen hat mich auch die Entwicklung, die Nita in diesem Roman durchläuft. Nita ist sich nicht nur ihrer Kräfte bewusster und weiß diese nun gekonnter einzusetzen. Wo sich im ersten Band
der Reihe noch die Fragen in Nitas Kopf an einem gewissen Punkt zu wiederholen und im Kreise zu drehen begannen, wirkt sie nun spürbar reifer und reflektierter. Nitas Pläne sind ausgefeilter und
raffinierter, obwohl sie das nicht vor schlechten Entscheidungen und Fehlschlägen schützt, die sie letztlich vom Regen in die Traufe kommen lassen.
Da "Nur die Asche bleibt" so spannend und offen wie "Bis auf die Knochen" endet, bin ich schon sehr gespannt auf den nächsten und finalen Band der Reihe. Wird Nita es schaffen ihre Träume zu verwirklichen? Und werden Kovit und sie eine Chance bekommen?
4 Sterne ****
Allgemeine Angaben zum Buch:
Market of Monsters-Reihe:
Intensives Thriller-Drama mit Krimi-Elementen und überraschenden Wendungen
Inhalt: Der Fußballspieler Danny Evans steht vor dem Scherbenhaufen, der einmal sein Leben gewesen ist.
Seine Tochter Callie liegt seit einem Monat nach einem Selbstmordversuch im Koma, sein Sohn Jamie will nichts mehr von ihm wissen und seine Frau Sharon hat ihn von Zuhause rausgeworfen, so dass
Danny ins Hotel ziehen musste. Er lebt nun in einer schäbigen Absteige und verkommt immer mehr zum Alkoholiker. Da setzt sich eines Abends ein kräftiger Unbekannter in schickem Anzug zu ihm an
die Hotelbar. Der Fremde behauptet Privatdetektiv zu sein und im Rahmen seiner Tätigkeit an Informationen gelangt zu sein, die Danny Aufschluss darüber geben können, wie es dazu kommen konnte,
dass seine Tochter nun im Koma liegt. Obwohl Sharon ihren Mann warnt, dass der Unbekannte wohl nur Geld von ihnen ergaunern will, lässt Danny sich in seiner Verzweiflung doch auf den Fremden ein
und ist sogar bereit dessen mysteriösen Anweisungen zu folgen, um mehr über die Hintergründe des Selbstmordversuchs seiner Tochter zu erfahren. Und so beginnt für Danny ein abgründiges
Spiel.
Zu den Hauptfiguren Danny Evans und DI Joel Norris
Die düstere Grundstimmung dieses Thrillers gibt schon dessen Prolog vor. Dieser ist aus Sicht einer erst
Fünfzehnjährigen geschildert und handelt von ihrem Entschluss sich umzubringen. Denn in ihr Leben ist das Böse gekommen, das sich aber nicht als solches erkennen ließ, indem es vorgab freundlich
zu sein.
Im Anschluss an diesen Prolog stellt Charlie Gallagher Danny Evans vor. Danny ist als ehemaliger Innenverteidiger bei Dover Athletics eine lokale Berühmtheit. Nun hat er einen
Trainer-Job bei seinem alten Verein in Aussicht, bei dem er die Junioren trainieren soll. Der Vertrag dafür ist schon so gut wie unter Dach und Fach. Aber Danny, der von morgens bis abends
trinkt, hat sich kaum noch im Griff. Er schafft es nur einmal am Tag seine im Koma liegende Tochter Callie im Krankenhaus zu besuchen. Und obwohl dabei sein Leid greifbar wird, ist Danny doch
insgesamt vom Autor weniger als Sympathieträger angelegt. Dafür trinkt er nicht nur zu viel, weswegen er seinen Sohn Jamie vernachlässigt hat und in unverantwortlicher Weise betrunken Auto fährt,
und war Schuld daran, dass seine Ehe mit Sharon von Affären, Süchten und Depressionen geprägt war, sondern wird auch ständig wütend und kann sich dann kaum beherrschen.
Zu der Perspektive von Danny kommen im weiteren Verlauf dieses Thrillers zusätzliche Perspektiven wie etwa die von Detective Inspector Joel Norris hinzu. Joel wird von Charlie
Gallagher eingeführt, als er den sechsten Geburtstag seiner Tochter Daisy feiert. Da ist er bereits seit einem Monat wegen Überlastung krank geschrieben. Superintendent Debbie Marsden möchte Joel
nun aber wieder in den aktiven Dienst zurück holen und für ihr neues Projekt gewinnen, das aus einem übergeordneten und damit nicht den einzelnen Polizeibezirken zugeordneten, ausschließlich in
Schwerverbrechen ermittelnden Team besteht. Da zu diesem ambitionierten Team derzeit nur Joel gehört, hat er in seinem ersten Fall gleich die Leitung in einer schwierigen Mordermittlung zu
übernehmen.
Zum Spannungaufbau und zur weiteren Entwicklung der Handlung dieses Krimis
Zu Beginn wurde für mich in diesem Thriller dadurch Spannung aufgebaut, dass der Handlungsstrang um Danny eine fast schon unangenehme Intensität entwickelt hat. Und durch dessen unerwartete
Wendungen, mit denen Charlie Gallagher schon früh auftrumpft und dessen erste bereits ein Faustschlag in die Magengrube für mich gewesen ist, hat der Autor es geschafft, das Spannungslevel im
ersten Teil weiter hochzuhalten. Damit meine ich das Rätsel um den mysteriösen Fremden, der Danny in der Bar anspricht, um ihm seine Hilfe anzubieten, das dann immer weitere Kreise zieht.
Über diesen Unbekannten, dessen Identität lange Zeit im Verborgenen bleibt, möchte ich an dieser Stelle nicht zu viel verraten. Aber wie dieser Privatdetektiv das schafft Danny und weitere
Personen ob mit ausgeklügelten Verkaufsstrategien oder anderen Tricks zu manipulieren, ist großes Kino und ein unheimliches Spektakel, bei dem es mir eiskalt den Rücken runtergelaufen ist. Seine
Opfer haben da gar keine Chance, als sich immer tiefer in dessen raffiniert ausgelegtem Netz zu verstricken.
Nach seiner ersten Hälfte geht dieses bis dahin intensive Thriller-Drama fließend in einen Krimi über. Denn ab diesem Zeitpunkt rückt Charlie Gallagher die Ermittlungsarbeit der Polizei mehr in
den Fokus seines Buchs. Zuvor hat der Autor von Joel und seinen ersten Ermittlungsversuchen nur am Rande erzählt, um stattdessen an Danny und weiteren Opfern ganz dicht dran zu bleiben. Dabei hat
der Thriller, der trotz seines hohen Blutzolls oft mehr Drama gewesen ist, gerade im Handlungsstrang um Danny eine Sogwirkung erzeugt, der ich mich nur schwer entziehen konnte.
Längen im Mittelteil und weitere Kritikpunkte
Leider haben sich für mich dann im Mittelteil dieses Thrillers ein paar Längen eingeschlichen. So gelungen ich den Handlungsstrang um Danny empfunden habe, sind gerade im Vergleich dazu weitere
Handlungsstränge um andere Opfers des Privatdetektivs schwächer ausgefallen. Und auch die Kapitel, die aus Sicht von Joel geschildert sind, hatten erst ihre Längen, als die Ermittlungen der
Polizei Fahrt aufgenommen haben. Denn als Leser hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits einen großen Wissensvorsprung, den Joel und seine Kollegin sich erst mühsam erarbeiten mussten. An diesen
Stellen hätte es dem Thriller gut getan, seine eigentliche Geschichte ein wenig gestraffter und fokussierter zu erzählen. Womöglich hätte stattdessen die Tätersicht früher vom Autor eingebaut
werden können. Zwar sind für mich mit Ende des Buchs alle Fragen grundlegend beantwortet worden. Zum ausgeklügelten Vorgehen des Täters hätten mich an einigen Stellen aber doch weitere Details
interessiert.
4 Sterne ****
Allgemeine Angaben zum Buch: