Rezensionen im November 2023

 

Im November bin ich an der Seite von Lincoln Rhyme dem rätselhaften Fall des Schlossers auf den Grund gegangen ("Der Eindringling" von Deaver). Von Veronica Lando habe ich mich in die mythischen Tiefen des Regenwaldes in Australien ("Der flüsternde Abgrund") und von Hennen in die Albenmark und damit in die phantastische Welt der Schattenelfen entführen lassen ("Das Labyrinth der Nacht"). Von Annie Proulx habe ich mich auf einen faszinierenden Ausflug in die Moore mitnehmen lassen ("Moorland") und "Ingenium - Das erste Rätsel" von Danielle Trussoni gelesen, das eine ungewöhnliche Kombination aus Rätselbuch und esoterisch-religiös angehauchtem Mystery-Thriller darstellt.

 

30. November 2023: Der Eindringling von Jeffery Deaver

21. November 2023: Der flüsternde Abgrund von Veronica Lando

12. November 2023: Das Labyrinth der Nacht von Bernhard Hennen

8. November 2023: Moorland von Annie Proulx

2. November 2023: Ingenium - Das erste Rätsel von Danielle Trussoni

 

30. November 2023: Der Eindringling von Jeffery Deaver

 

Erst ruhig erzählter Kriminalroman um Schlösser und mehr mit wissenschaftlichem Touch, dann Actiongeladener Thriller voller Twists

 

Inhalt: Als die junge Influencerin Annabelle Talese nach einem Abend mit ihren Freundinnen, bei dem sie höchstens ein oder zwei Gläser Wein zu viel getrunken hat, aufwacht, merkt sie, dass etwas nicht stimmt. Das Fenster, das sie stets geschlossen hält, steht einen Spalt weit offen. Ihre Hausschuhe findet sie nicht an ihrem angestammten Platz und als die Erkenntnis sich Bahn bricht, dass sie nicht selbst in angetrunkenem oder schlafwandelndem Zustand diese Gegenstände umgestellt hat, ist es beinahe zu spät, um an eine Flucht und damit ein Entkommen aus ihrer Wohnung zu denken. Der forensische Experte Lincoln Rhyme nimmt an der Seite von seiner Frau, Detective Amelia Sachs, die Ermittlungen in diesem rätselhaften Fall auf.

 

Zur Einordnung in die Lincoln-Rhyme-Reihe

“Der Eindringling” stellt den bereits 15. Fall dar, den Deaver für Lincoln Rhyme und Amelia Sachs ersonnen hat. Obwohl dies nicht mein erster Lincoln Rhyme-Krimi gewesen ist, sind mir die unmittelbaren Vorgänger “Des Eindringlings” nicht bekannt gewesen. Insofern ist mir entgegengekommen, dass Deaver für seinen Roman einen ruhigen Einstieg gewählt hat, der es ihm gestattet hat, wesentliche Figuren wie Lincoln Rhyme, seine Frau Amelia und das gesamte Team, mit dem sie gemeinsam ihre Fälle bearbeiten, ausführlich vorzustellen. Das schließt deren Verhältnis zueinander sowie relevante Details aus ihrer Vergangenheit, um deren Hintergrund zu erläutern, mit ein. Damit ist “Der Eindringling” meiner Ansicht nach sogar für den Einstieg in die Reihe geeignet, sofern der Leser bereit ist, sich auf eine längere Einleitung einzulassen, die insbesondere Ereignisse aus den vorherigen Bänden um Lincoln Rhyme erwähnt.

 

Beschreibung der Hauptfiguren Rhyme und Sachs

Rhyme, der seit einem Unfall auf einen Rollstuhl angewiesen ist, sieht sich selbst als Wissenschafts-Cop im Gegensatz zu seiner Frau Amelia an, die für ihn ein Polizist ist, der seinen Job von der menschlichen Seite her angeht. Denn Amelia ist das Schicksal der Opfer wichtig und auch das Leid von ihren Angehörigen geht ihr nahe, in die sie sich hineinzuversetzen vermag. Die Stärke von Rhyme bei der Aufklärung von Fällen liegt in der Kombination seiner forensischen Expertise, seiner Deduktionsfähigkeiten sowie seiner detaillierten Kenntnis der Spezifika der Stadt New York begründet. Dabei ist Deaver in Rhyme eine moderne Variante der klassischen Sherlock Holmes-Figur gelungen, was sich etwa darin zeigt, dass Rhyme, der ganz auf seine Arbeit fokussiert ist und lediglich damit in Zusammenhang stehendes Wissen anhäuft, nicht weiß, was eine Influencerin ist. Die attraktive, hoch gewachsene Amelia hingegen ist neben ihrer Hingabe für den Beruf eine ausgezeichnete Schützin, die an Wettbewerben teilnimmt, und hat eine Leidenschaft für Autos wie ihren Ford Torino.

 

Forensische Expertise trifft auf die Kunst des Schlösserknackens in fast schon wissenschaftlichen Kontext

Dass die Spannung im ersten Teil des Eindringlings, der den ersten Tag beschreibt, nicht zu kurz gekommen ist, liegt darin begründet, dass Deaver zu Beginn recht ausgewogen aus Täter- bzw. Ermittler-Sicht erzählt, wenn er von Kapitel zu Kapitel die Perspektive wechselt. Auf diese Weise bietet der Autor tiefe Einblicke in die Gedankenwelt des Einbrechers, der sich selbst der Schlosser nennt und der sich etwa Zutritt zur Wohnung von Annabelle Talese verschafft hat. Durch seine außerordentliche Kunstfertigkeit im Knacken von Schlössern hebt er sich von anderen Verbrechern ab. Der wissenschaftliche Ansatz, den Deaver in seiner Lincoln-Rhyme-Reihe verfolgt, beschränkt sich damit in diesem Krimi nicht allein auf die Ermittler-Seite, sondern schließt ebenso die des Täters mit ein. Denn der liefert in seinen zur Schau gestellten Gedankengängen ausführliche Erklärungen zu Schlössern wie unter anderem zu deren Geschichte, zu besonderen Schlössern und den unterschiedlichen Arten, auf denen sich diese überlisten lassen, um sie zu öffnen. Dabei spielt der Autor seine Stärke aus, die in präzisen Recherchen des wissenschaftlichen Hintergrundes der in seinen Roman integrierten Bestandteile besteht und die im vorliegenden Fall beispielsweise Schlösser in ihrer ganzen Vielfalt betreffen.

 

Durch das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem überaus vorsichtigen Täter, der zwar keine forensische Ausbildung besitzt, aber sehr bemüht ist, keine Spuren zu hinterlassen, und Rhyme sowie seinem Team, wird von Deaver zu Beginn Spannung aufgebaut, obwohl an sich erst einmal so wenig passiert, dass der Roman wohl nicht einmal die Betitelung Thriller verdient hat. Denn der Schlosser begeht quasi keinen Fehler und so gelingt es Rhyme trotz aller Anstrengungen nicht, verwertbare Spuren zu finden, um dem Täter auf die Schliche zu kommen. Das passt zu der konzentrierten Erzählweise, für die der Autor sich in seinem Roman entschieden hat, der sich auf einen Zeitraum von wenigen Tagen beschränkt.

 

Zum Spannungsaufbau im weiteren Verlauf dieses Kriminalromans

Im weiteren Verlauf “Des Eindringlings” schaltet Deaver dann ein paar Gänge hoch, indem er seine Handlung rund um die kriminalistische Ermittlung um mehr als nur eine spannungsgeladene Action-Szene anreichert. Die Entwicklung von einer klassischen Kriminalhandlung, die durch ihre eher ruhige, da wissenschaftlich orientierte Erzählweise geprägt ist, hin zu einem Action-Thriller geht dabei erstaunlich harmonisch vonstatten. Das gelingt dem Autor unter anderem durch Einführung neuer Figuren, denen dann eine größere Bedeutung im weiteren Verlauf zugestanden wird. Die Twists im letzten Drittel dieses Romans konnten mich überraschen, weil sie für mich unerwartet gekommen sind, obgleich sie in sich schlüssig sind.

 

Mein Fazit

“Der Eindringling” stellt für mich einen gelungenen Band der Lincoln-Rhyme-Reihe dar, der jedoch über weite Strecken des ersten Teils der Bezeichnung Thriller nicht gerecht wird. Stattdessen bietet sich dieser Kriminalroman wegen seiner recht ausführlich geratenen Einleitung aber als Einstieg in die Reihe um Lincoln Rhyme an, sofern ein gewisses Interesse beim Leser für Schlösser und deren Geschichte oder für eine wissenschaftliche Herangehensweise in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themen vorhanden ist.

 

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Midnight Lock
  • Herausgeber: Blanvalet
  • Erscheinungsdatum: 15. November 2023
  • Seitenzahl: 496
  • ISBN-10: 3764508418
  • ISBN-13: 978-3764508418
  • Preis: 22 €

 

21. November 2023: Der flüsternde Abgrund von Veronica Lando

 

Ruhig erzähltes Thriller-Drama mit Mystery-Elementen vor besonderer Kulisse

 

Inhalt: Callum Haffenden kehrt nach dreißig Jahren nach Granite Creek zurück, um sich dem Suchtrupp anzuschließen, der von seinem alten Freund Eddy Quade geleitet wird, der ebenfalls kürzlich als Polizist in den Ort zurückgekommen ist. Mit Unterstützung von zahllosen Freiwilligen durchkämmen sie das Dickicht, da Lachie spurlos verschwunden ist, als er allein campen war. Dabei fürchten sie nur das sich verschlechternde Wetter, das die Suche erschwert, und den aufziehenden Wirbelsturm, bis der über dem Gebiet kreisende Helikopter zufällig einen grausamen Fund macht.

 

Zur Charakterisierung von Protagonist Callum Haffenden

Veronica Lando hat mit Callum Haffenden einen ebenso interessanten wie kaputten Protagonisten für ihren Roman ersonnen, in dessen Leben die Probleme längst überhand genommen haben. Seine fünfzehnjährige Tochter Milly, um deren Erziehung er sich mit Hilfe seiner Eltern bemüht, spricht nicht mehr mit ihm, weil sie ihn nicht auf die Reise in seine alte Heimat begleiten durfte. Hartnäckig weigert sie sich, auf seine Nachrichten zu antworten. Seine Karriere als Journalist befindet sich nach einer erfolgreichen Phase längst auf dem Abstellgleis. Und körperlich eingeschränkt - wie er ist - fällt es ihm schwer, nur wenige Meter durch den Regenwald zu humpeln, ohne in den vom Regen aufgeweichten Boden zu versinken. Was Callum von so vielen anderen kaputten Hauptfiguren in Kriminal- wie Thriller-Romanen unterscheidet, ist seine Leidenschaft für Vögel. So wird jede Szene, in der Lando ihren Protagonisten auf den Regenwald treffen lässt, zum Erlebnis, indem er stets die Vögel zu bestimmen weiß, die ihm dort begegnen. Beispiele dafür sind der Säulengärtner (Amblyornis newtonianus) oder auch der Blaukappen-Paradiesliest (Tanysiptera sylvia).

 

Von den Dramen, aus denen im Flüsternden Abgrund Intensität erzeugt wird 

“Der flüsternde Abgrund” ist ein ruhig erzählter Roman, der über weite Strecken mehr Drama als Thriller ist. Nicht nur Callum hat in seinem Leben zu kämpfen, auch sein Freund Eddy hat es schwer. Der ist nach langer Abwesenheit erst vor wenigen Tagen wieder in Granite Creek eingetroffen, indem er sich nun um seinen Vater kümmern muss, der nach dem Tod seiner Frau niemanden mehr hat. Damit ist Eddy nun der Polizist im Ort. Das ist der Job, den Callums Vater Jahrzehnte zuvor innehatte. Zudem wird Callum nicht von jedem mit so offenen Armen in Granite Creek empfangen wie von Eddy, der sich trotz der widrigen Umstände über das Wiedersehen mit Callum freut. Allen voran ist es Brett Wyatt, der in der Stadt so viel zu sagen hat wie eh und je, der Callum nicht dort haben will. Denn das Verhältnis von Brett und Callum, das in der Vergangenheit von ihrer Rivalität um Pip geprägt gewesen ist, wird nach wie vor von der in ihrer Schulzeit vorherrschenden Antipathie dominiert, die sogar über das Verschwinden von Bretts Sohn Lachie nicht in den Hintergrund tritt.

 

Zur besonderen Kulisse des beinahe mythisch anmutenden Regenwaldes 

Einen besonderen Touch erhält “Der flüsternde Abgrund” durch die ungewöhnliche Weise, mit der Veronica Lando mit ihrem Schauplatz arbeitet, wenn sie den Regenwald in jeder Szene, die dort spielt, in dessen Mittelpunkt stellt. Dadurch sind für mich im ersten Drittel dieses Romans alle Kapitel, die als Kulisse den Regenwald haben, zum Highlight geworden. Denn der wird in der Beschreibung der Autorin zum undurchdringlichen Dickicht, wenn kaum Sonnenlicht den Boden zu erreichen vermag und indem sich schon nach wenigen Metern abseits vom Weg die Orientierung verlieren lässt. Bei Lando wird damit der Regenwald selbst zur Schauerkulisse, die an eine düstere Variante eines Grimmschen Märchens erinnert, bei dem Kinder im Wald verschwinden, dessen überwucherte Wege durch Glöckchen anstelle von Brotkrumen markiert sind. In Kombination mit den wiederholt tot aufgefundenen Vögeln, die Callums Weg kreuzen, wird im "Flüsternden Abgrund” eine intensive ungute Stimmung erzeugt, die von Beginn an Schlimmes befürchten lässt. In passender Weise reichert Lando ihren Thriller um Mystery-Elemente an, wenn etwa von Anfang an vom Flüstern die Rede ist, das sich in der Nähe der Boulders hören lässt. Die stellen einen Abgrund dar, wo der Regenwald auf eine Geröll Landschaft trifft. Diese ist von Felsen geprägt, die aussehen, als ob Riesen dort Murmeln gespielt hätten und sie dann einfach liegen gelassen und vergessen hätten. Das Wispern, das sich dort vernehmen lässt, kann auf rationale Weise als Wind, der sich in den Felsspalten bricht, erklärt werden. Und doch scheint es einen in den Abgrund locken zu wollen.

 

Mystery-Elemente treffen auf totgeschwiegene Geheimnisse in Granite Creek

In ihrem Thriller spielt Lando von Beginn an mit der Frage, ob übernatürliche Mächte wie beispielsweise ein mysteriöses Flüstern am Werk sind, oder ob nicht doch von Menschen verübte Taten für die Geheimnisse, die so beharrlich in Granite Creek unter den Teppich gekehrt werden, verantwortlich sind. Einerseits ist es der Autorin dabei gelungen, die Beantwortung dieser Frage lange in der Schwebe zu halten. Andererseits hat sie mich mit der Beschreibung einer eingeschworenen Gemeinschaft im Ort überzeugt, in der jeder dem anderen regelmäßig über den Weg läuft und keiner dem anderen unbekannt ist. Städter, wenn sie sich nach Granite Creek verirren, werden stets außen vor gelassen. Das gilt insbesondere für die Reporter und Journalisten, die über das Verschwinden von Lachie Bericht erstattet haben. Wieder dorthin Zurückgekehrte wie Callum oder sein Freund Eddy werden wenig besser behandelt, wenn sie über die Ereignisse, die sich in ihrer Abwesenheit zugetragen haben, im Unklaren gelassen werden.

 

Vom Spannungsaufbau im Flüsternden Abgrund zu Beginn und im weiteren Verlauf

So dauert es eine ganze Weile, bis die Handlung im “Flüsternden Abgrund” dann endlich in die Gänge kommt, wenn Callum an der Seite von Eddy realisiert, dass die übermäßige Häufigkeit der in Granite Creek im Regenwald Verschwundenen oder Verunglückten sich nicht allein auf tragische Unfälle zurückführen oder durch Selbstmorde erklären lässt. Trotz seiner ruhigen Erzählweise mangelt es dem Roman nicht an Intensität, da teilweise Spannung aus den darin wiedergegebenen Dramen erzeugt wird. In seinem weiteren Verlauf konzentriert sich der Thriller dann aber mehr auf die Beantwortung der zu Beginn aufgeworfenen Fragen, wenn Lando den so lang in Granite Creek begrabenen und tot geschwiegenen Geheimnissen, die auch Callums Leben geprägt haben, auf den Grund geht.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Whispering
  • Herausgeber: Suhrkamp
  • Erscheinungsdatum: 20. November 2023
  • Seitenzahl: 370
  • ISBN-10: 3518473662
  • ISBN-13: 978-3518473665
  • Preis: 18 €

 

12. November 2023: Das Labyrinth der Nacht von Bernhard Hennen

 

Ein ruhiger Beginn und Mittelteil mit verschenktem Potenzial münden in ein starkes Finale

 

Inhalt: Die Bienenhexe Leynelle, ihr Geliebter, der Jäger Laurelin sowie der der Fürstin treu ergebene Hauptmann Nanduval begeben sich auf den in der Hand von Feinden liegenden Weg zu Alathaia, die in der Bolzenspucker versteckt im Hafen von Rosan auf sie wartet. Dort harrt sie im Verborgenen aus, nachdem ihr Fürstentum Langollion von Elfenkönigin Emerelle erobert und besetzt worden ist. Doch Alathaia wäre nicht sie selbst, wenn sie sich in dieser ausweglos erscheinenden Situation bereits geschlagen geben würde. Nach wie vor hält sie an ihrem Traum von einem freien, Paradies ähnlichen Reich fest, den sie nicht aufgeben kann, und schmiedet so aus Mangel an anderen Optionen einen gefährlichen Plan. Denn sie strebt aufgrund der gemeinsamen Feindin Emerelle eine so noch nie dagewesene Allianz mit Trollen an.

 

Zur Einordnung in die Schattenelfen-Reihe

“Das Labyrinth der Nacht” stellt nach “Die Blutkönigin”, “Der Gläserne Kaiser” und “Das Eherne Wort” bereits den vierten Band der Schattenelfen-Reihe von Hennen dar, der meiner Ansicht nach wenig für den Einstieg in die Reihe geeignet ist. Im Gegensatz dazu bieten sich “Die Blutkönigin”, das mein erstes Buch aus der von Hennen ersonnenen Elfenwelt gewesen ist, oder “Der Gläserne Kaiser” eher für einen Beginn der Schattenelfen-Saga an. Denn dabei wird etwa in “Der Blutkönigin” vom Ursprung der Schattenelfen erzählt und zudem eine in der Vergangenheit angesiedelte, in sich abgeschlossene Geschichte um die Blutkönigin und deren begabtesten Krieger Vanduin Totentänzer wiedergegeben. Im “Gläsernen Kaiser” hingegen werden anfangs relevante Ereignisse aus der Blutkönigin in einer recht ausführlichen Zusammenfassung wiederholt. Das ist leider im “Labyrinth der Nacht” nicht der Fall, indem Hennen zu Beginn wenig erläutert und kaum auf die Geschehnisse der Vorgänger eingeht, die nur nach und nach nebenher eingeschoben werden.

 

Ein ruhiger, wenig ereignisreicher Einstieg in diesen Roman

Obwohl so eine detaillierte Einleitung fehlt, in der der Inhalt der vorigen Bände der Reihe zusammengefasst werden würde, ist die Handlung im “Labyrinth der Nacht” lange Zeit nicht so recht in die Gänge gekommen. Dass die Geschichte eher auf der Stelle getreten ist, ist zumindest teilweise der Situation geschuldet, in der sich wesentliche Figuren dieses Romans zu Beginn wiedergefunden haben. Denn Alathaia hat im U-Boot Bolzenspucker im Hafen versteckt auszuharren, damit sie keiner von Emerelles Gefolgsleuten entdeckt und ist damit zur Untätigkeit verdammt. Auch der Handlungsspielraum des abgründigen Rubinrosenbusches Matha Blouta, dessen Sprösslinge lebendige, sich von Lebensenergie nährende Schatten sind, ist durch den misstrauisch wachsamen Blick der Elfenkönigin eingeschränkt. So bleibt Matha Blouta nur zu beobachten und darauf zu warten, dass Emerelle Langollion wieder verlässt.

In ähnlicher Weise festgefahren stellt sich die Handlung am zweiten zentralen Schauplatz in diesem Roman dar, der aus den auf Hügeln liegenden, unter der Herrschaft des Sonnendrachens Morgenstern stehenden Stadt Caistella besteht, die von der Armee des Gläsernen Kaisers über seinen Tod hinaus weiterhin belagert wird. Beide Kriegsparteien entscheiden sich zur Untätigkeit, weil sie davon überzeugt sind, dass die jeweils andere Seite bald zum Aufgeben gezwungen sein wird. Währenddessen könnten dem Drachen, an dessen Seite der Kobold Broja verharrt, die Vorräte ausgehen. Hingegen sehen sich Kaiserin Adelayne und ihre Gemahlin Maikiko, die Tochter des Gläsernen Kaisers, mit den am Hof gesponnenen Intrigen konfrontiert, deren Erfolg sie ihren Kopf kosten könnte, indem das Reich von Haiwanan als patriarchale Gesellschaft der Herrschaft zweier Frauen bereits überdrüssig ist. Als Folge dessen tritt ein Stillstand ein, bei dem sich alle gegenseitig belauern und auf den nächsten Zug der anderen Seite warten, der etwa aus einem Attentatsversuch bestehen könnte. Insgesamt passiert dann doch aber erst einmal recht wenig. Insofern finde ich schade, dass Hennen gerade im “Labyrinth der Nacht” auf eine ausführliche Einleitung verzichtet hat, da sich dieser Roman aufgrund seines ruhigen Einstiegs dafür angeboten hätte, Ereignisse aus vorigen Bänden der Reihe zu rekapitulieren und wesentliche Figuren bei deren Vorstellung detaillierter einzuführen.

 

Zum Mittelteil, der spannender hätte ausfallen können

Obwohl nach dem ruhigen Beginn der weitere Verlauf des “Labyrinths der Nacht” ereignisreicher ausfällt, verschenkt Hennen dabei doch Potenzial, wenn er die Spannungskurve nicht in dem Maße hochtreibt, das möglich gewesen wäre. Denn aus den vom Autor geschilderten Kampf- wie Schlachtszenen hätte sich weit mehr herausholen lassen, wenn nicht einerseits eine leider oft eher ungünstige Position gewählt worden wäre, aus deren Sicht diese Kapitel wiedergegeben worden sind. Der Kampf hätte weit lebendiger wirken können, wenn Hennen sich statt für den Blickwinkel eines Beobachters, der nur einen Bruchteil dessen mitbekommt, was da gerade vor sich geht, für den einer unmittelbar am Kampf beteiligten Person entschieden hätte, die in dieser Szene tatsächlich agiert und nicht nur nebenher mit dabei gewesen ist.

Andererseits ist “Das Labyrinth der Nacht" von Hennen zwar abwechslungsreich aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, die neben der Sichtweise von Alathaia auch die der Elfenkönigin Emerelle, des Kobolds Broja, der ehemaligen Meuchelmörderin Adelayne und weiterer Figuren umfassen. Doch zeigt der Autor leider eine Schwäche bei der Entscheidung, welche Ereignisse aktiv geschildert und welche nur passiv im Rückblick wiedergegeben werden, wenn er in der Regel kapitelweise von einer Perspektive zur nächsten wechselt. Das sorgt zwar für einige überraschende Momente in Form von kurzweiligen Cliffhangern oder kleineren Twists, geht insgesamt jedoch zulasten der Spannung. Die wird dadurch auf einem eher niedrigen Level gehalten, dass Hennen sich wiederholt dafür entschieden hat, gerade in spannenden Momenten wie beispielsweise einem bevorstehenden Kampf oder einer Schlägerei auszublenden und diese damit auszusparen.

 

Zum Drachen Morgenstern als Highlight in diesem Roman und dessen starkem Finale

In fast schon konsequenter Weise lässt Hennen dann eine durch die ihr zugestandenen Ecken und Kanten zwar wenig sympathische, doch dafür umso interessantere Figur, der noch ein Minimum an Bewegungsspielraum verblieben ist, plötzlich sterben. Das hinterlässt den Eindruck, als ob der Autor diesen Roman in die absolute Stagnation treiben wollte. Auch scheint er bemüht, aus Elfen endlich die moralischen Ansprüchen genügenden Wesen, die dadurch der ätherischen Schönheit ihres Äußeren entsprechen würde, zu machen, was er ihnen so lange verwehrt hat. Denn die einst so abgebrühte Meuchelmörderin Adelayne zeigt sich den Intrige- und Ränkespielen, die am Kaiserhof vorherrschen, als Naivchen ausgeliefert, das stets fürchtet in ein Fettnäpfchen zu tappen und damit von jeder Aktion hoffnungslos überfordert ist. Und die mächtige Leynelle, die einst Kinder mordete und nach ihrer grausamen Bestrafung durch die mitschuldige Alathaia nach Rache dürstete, sinnt nun über eine friedvolle Zukunft nach, die ihr ein einfaches Leben mit ihrem Laurelin bedeuten würde.

Leben kommt in diesem Roman erst in dessen letzten Drittel auf, wenn Hennen den Fokus ein wenig von den Elfen weglenkt, indem er einem stark auftrumpfenden Drachen Morgenstern, der allen die Show stiehlt, sowie den Trollen mehr Raum gibt. Troll Schamanin Skanga ist einfach immer ein Szenendieb. Auch hat der Autor mit dem Schlussteil dieses Romans an das Finale der Blutkönigin angeknüpft, als sich seine Gruppe von Helden erneut einem gefährlichen Abenteuer im Titel gebenden “Labyrinth der Nacht“ stellen muss.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Herausgeber: Heyne
  • Erscheinungsdatum: 15. November 2023
  • Seitenzahl: 416
  • ISBN-10: 3453273346
  • ISBN-13: 978-3453273344
  • Preis: 16 €

Schattenelfen-Reihe:

  • Band 1: Die Blutkönigin
  • Band 2: Der gläserne Kaiser
  • Band 3: Das eherne Wort
  • Band 4: Das Labyrinth der Nacht

  • Band 5: Die weinende Stadt

 

8. November 2023: Moorland von Annie Proulx

 

Ein wichtiges Thema, das leider zu wenig im Mittelpunkt steht

 

Moorland ist immer dann besonders stark geraten, wenn Proulx in ihrem Essay-artig anmutenden Text persönliche Erlebnisse mit einfließen lässt und sich an eigenen Erinnerungen orientiert. Dazu zählt etwa eine frühe Begebenheit aus ihrer Kindheit, als sie ihrer Mutter folgend den Weg durch ein Moor finden sollte. Dabei sind sie von einer Insel aus Trockenheit im sumpfigen Wasser zur nächsten gesprungen, bis der Weg der kleinen Annie von einer Radnetzspinne blockiert wurde. An diesem Hindernis ist sie in jungen Jahren gescheitert und musste so ihre erste Durchquerung der Moore aufgeben. In ihrem Buch nimmt Proulx dieses Erlebnis zum Anlass, nicht nur die betörende Schönheit einer Moorlandschaft zu beschreiben, sondern auch ihre Gedankengänge zum von der Spinne gewobenen Stabilimentum auszuführen. Laut verschiedenen wissenschaftlichen Ansichten könnte das Stabilimentum dazu dienen, Beutetiere anzuziehen, Geschlechtspartner anzulocken, die Spinne vor Raubtieren zu schützen oder das Netz gegen zufällig dagegen fliegende Vögel abzusichern. Die offensichtlichste und einfachste Erklärung, dass das Stabilimentum dem Netz schlicht und ergreifend mehr Stabilität verleihen kann, wird in der Vielzahl wissenschaftlicher Meinungen jedoch außen vor gelassen.

 

Vom persönlichen Bezug der Autorin zum Moor

In solchen Passagen hat Moorland mein Interesse durch seine ungewöhnliche Erzählweise geweckt, die einerseits einen besonderen Einblick in Proulx' Kindheit gegeben hat. Dies ist vom sympathischen Zug der Autorin, ihre eigene Angst als Kind vor einer Spinne, die sie daran gehindert hat, ihrer Mutter weiter durchs Moor zu folgen, in keiner Weise zu beschönigen, unterstrichen worden. Andererseits hat Proulx mir spannende Fakten zur Radnetzspinne oder eher Möglichkeiten zur Interpretation von deren Lebensweise geliefert, die mir zuvor nicht bekannt gewesen sind. Auch lässt sie an diesem konkreten Beispiel anklingen, wie wenig wir doch über die Wunder der im Moor lebenden Tiere wissen, die für uns nach wie vor mit vielen Mysterien behaftet sind.

Ein weiteres Beispiel für die Verknüpfung ihres eigenen Lebenswegs mit dem Moor fällt in die Jahre, die Proulx in Port Townsend, Washington gelebt hat. Denn während dieser Zeit hat sie das Steilufer von North Beach in Fort Worden besucht und als ein Stück davon heruntergebrochen ist, konnte sie das in intensivem Blau leuchtende Mineral Vivianit bestaunen, das dort in die Schichten eingebettet ist. Von da spannt Proulx den Bogen über den in den Alpen entdeckten mumifizierten Ötzi, der mit Vivianit gesprenkelt ist, bis hin zum Gemälde “Bei der Kupplerin”, in dessen Hintergrund von seinem Maler Vermeer ebenfalls Vivianit verwendet wurde.

 

Politische Ansichten, Pandemien, Viren und ähnlich gelagerte Themen

Moorland lebt von derartigen Erinnerungen von Proulx, die leider nur an wenigen Stellen auftauchen und damit viel zu selten im Buch vorkommen. Davon hätte ich mir weit mehr gewünscht. Stattdessen ist der Essay-artige Text oft um Füllsätze angereichert, die an Phrasen erinnern und allgemein gehalten sind. In diesem bringt die Autorin ihre politischen Ansichten zum Ausdruck, hält sich nicht mit Kritik an Unternehmen im Speziellen sowie dem Kapitalismus im Allgemeinen zurück und rückt Pandemien in den Fokus, wenn sich stets eine noch so weit hergeholte Möglichkeit finden lässt auf Viren und ähnlich gelagerte Themen einzugehen. Das schließt etwa die Entwicklung neuer Antibiotika mit ein. Indem ich jedoch erwartet hatte, ein Buch vorzufinden, in dessen Mittelpunkt die Moore stehen, hat mich das wiederholte Abschweifen der Autorin von ihrem eigentlichen Thema dann doch überrascht und zugegebenermaßen auch ein wenig enttäuscht zurückgelassen. Denn ich war davon ausgegangen, dass in diesem Werk im Hinblick auf Viren höchstens die Malaria von Relevanz wäre.

 

Phasenweise deutliche, fast schon drastische Rhetorik den Klimawandel betreffend

Bücher zu Pandemien, Viren oder zum Klimawandel, die teilweise ebenfalls von dramatischer Rhetorik geprägt sind, gibt es hinreichend viele, jedoch nur wenige, die die gefährdeten Moore in ihren Mittelpunkt stellen. Da hätte ich mir gewünscht, dass sich Proulx mehr auf das Alleinstellungsmerkmal in Moorland konzentriert hätte, das ihr Buch deutlich von so vielen anderen Werken hätte abheben und unterscheiden können, und die Essays zum Klimawandel und mehr den entsprechenden Experten, unter anderem Klimaforschern oder Virologen, überlassen hätte. Obwohl Proulx zu Beginn von Moorland angekündigt hat, auf Fachvokabular verzichten zu wollen, kommt sie in den Abschnitten, die auf Moore im Allgemeinen und Moorlandschaften im Speziellen eingehen, dann doch nicht ganz ohne aus. Dabei sind diese Passagen oft derart knapp gehalten in deren komprimierter Beschreibung, dass sie sich eher als Nachschlagewerk anbieten. Indem Moorland das erste Buch über Moore gewesen ist, das ich gelesen habe, wäre es mir weit leichter gefallen, den Ausführungen von Proulx zu folgen, wenn sie die für Moore relevanten Themen detaillierter behandelt hätte. Dafür hätte sie Ausführungen zu ihren politischen Ansichten und zum Klimawandel, wenn sie diesen in seinen drastischen Auswirkungen durch extrem gewähltes Vokabular zu betonen sucht, beschränken können, um die Moore als eigentlichen Hauptakteur in ihrem Buch nicht wiederholt in den Hintergrund treten zu lassen.

 

Abgedeckte Themen anhand von Beispielen im Hinblick auf Moore

Denn die Abschnitte, die sich mit für Mooren spezifischen Themen auseinandersetzen, haben mich am meisten an diesem Buch interessiert. Das beginnt bei der Definition von Niedermoor, Hochmoor und Waldmoor, die dabei Mitsch und Gosselink folgend unterschieden werden, reicht über die Kategorisierung von Feuchtgebieten, die sich grundlegend anhand von Geographie, Topographie, Hydrologie sowie Chemie oder aber auch mittels anderer Klassifizierungen wie der nach Cowardin, die u.a. Meeres-, Mündungs- und Flussfeuchtgebiete umfasst, oder der nach Cook-Inlet, die sich an den Bedürfnissen der Landbewirtschafter in Alaska orientiert, beschreiben lassen, und der Auflistung der größten Moorgebiete der Welt bis hin zum Torf, was die Geschichte seines Abbaus und seiner Nutzung mit einschließt.

 

Zur Bebilderung sowie zu poetischen Beschreibungen von Moorlandschaften

Spärlich bebildert ist Moorland unter anderem durch die Zeichnung des Abenteuers mit Krauskopfarassaris von Whymper oder eine Fotografie eines Schwimmbaggers am Ufer des Kankakee. Stattdessen hätte ich mir in Farbe gehaltene Abbildungen erhofft, die die faszinierende Schönheit, die einem Moor innewohnen kann, zeigen. Proulx als Pulitzerpreisträgerin (Fiktion!) gelingt es in den leider nur sporadisch in Moorland eingebauten Abschnitten, die Schönheit einer Moorlandschaft heraufzubeschwören und lediglich durch die von ihr dazu gewählten Worte vor meinem inneren Auge lebendig werden zu lassen. Davon hätte ich mir weit mehr gewünscht. Denn für mich ist etwa das Highlight der unterbewerteten Serie “Swamp Thing” die irritierende Schönheit gewesen, die eine Sumpflandschaft wie die, die Lebensraum und Heimat des Swamp Thing ist, besitzen kann. Zuvor ist mir gar nicht bewusst gewesen, welche Schönheit einem Moor innewohnen kann, das ich als düster oder gar unheimlich angesehen habe, wenn es meiner Vorstellung nach nur zu einem eher im Horror Genre angesiedelten Werk gepasst hätte.

 

3,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: FEN, BOG, & SWAMP. A short History of Peatland destruction and its Role in the climate crisis
  • Herausgeber: Luchterhand Literaturverlag
  • Erscheinungsdatum: 11. Oktober 2023
  • Seitenzahl: 256
  • ISBN-10: 3630877265
  • ISBN-13: 978-3630877266
  • Preis: 24 €

 

2. November 2023: Ingenium - Das erste Rätsel von Danielle Trussoni


Ungewöhnliche Kombination aus Rätselbuch und esoterisch-religiös angehauchtem Mystery-Thriller mit zu ambitioniertem Finale

Inhalt: Mike Brink wird von Dr. Thessaly Moses um einen Besuch der Anstalt nahe Ray Brook gebeten, in der sie als leitende Psychologin eines Frauengefängnisses für ihre Patientinnen verantwortlich ist. Ihr schwierigster Fall ist Jess Price, die eine junge, vielversprechende Schriftstellerin gewesen ist, bevor sie fünf Jahre zuvor wegen des brutalen Mordes an ihrem Freund Noah Cooke verurteilt worden ist. Jess zeigt sich absolut unzugänglich, wenn sie Dr. Moses gegenüber hartnäckig jede Form der Kommunikation verweigert, seit diese die Stelle nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Vorgängers Dr. Ernest Raythe übernommen hat. Doch als Mike Jess dann endlich begegnet, spricht sie zum ersten Mal seit langem.

 

Zur Charakterisierung der Hauptfigur Mike Brink
Mit Mike Brink hat Danielle Trussoni einen ungewöhnlichen Protagonisten für ihren Roman Ingenium ersonnen, der wegen seiner einzigartigen Fähigkeiten heraussticht. Vor seinem Unfall auf der Highschool schien Mikes Weg als Quarterback und Captain des Football Teams vorgezeichnet zu sein, dessen nächster Schritt darin bestanden hätte, mit einem Football-Stipendium aufs College zu gehen. Aber ein Schlag auf den Kopf veränderte Mikes Verstand derart grundlegend, dass er erst glaubte, verrückt geworden zu sein. Vom Neurowissenschaftler Dr. Trevers erhielt Mike die Diagnose des Savant-Syndroms und lernte dank dessen Unterstützung mit seiner neu gewonnenen Begabung umzugehen, die ihn weit besser Strukturen als andere erkennen lässt. Diese Identifikation von Mustern geht mit einem fotografischen Gedächtnis für Zahlen und mehr einher. Nach dem Studium der Mathematik am MIT hat Mike seine Leidenschaft zum Beruf gemacht und sich aufs Erstellen anspruchsvoller Rätsel verlegt.

 

Ein starker Einstieg als ungewöhnliche Kombination aus Mystery-Thriller und Rätselbuch
Der starke Einstieg in Ingenium hat mich als interessante Kombination aus einem Thriller mit Mystery-Elementen und einem Rätselbuch überzeugt. Dabei ist es Danielle Trussoni gelungen, das Triangulum, dass Mike sich im Rahmen seiner Tätigkeit für die New York Times ausdenkt, die Codes, mit deren Hilfe er sich in verschlüsselter Form mit der sich im Gefängnis unter Beobachtung fühlenden Jess verständigt, prägende Rätsel aus jüngeren Jahren, über die eine Verbindung zu seiner Vergangenheit hergestellt wird, und deren Lösung erstaunlich flüssig in die eigentlich in diesem Roman erzählte Geschichte einzubetten. In diesem Kontext hätte ich einen separaten Anhang als sinnvolle Ergänzung angesehen, der sich mit den mathematischen Begriffen befasst, mit denen Mike in seinen Gedankengängen um sich wirft, wenn ihm eine sein Interesse weckende Zahl begegnet. Beispiele dafür wären die Definition der vollkommenen Zahl, des harmonischen Divisors, der Dreieckszahl sowie der Stormer-Zahl und die Erläuterung von deren wesentlichen Eigenschaften.

 

Eine große Bandbreite angeschnittener Themen
Ingenium lediglich als Thriller einzuordnen wird dem spannenden Genre-Mix, den Danielle Trussoni in diesem Roman bietet, bei weitem nicht gerecht. Neben der Einbindung von Rätseln ist Ingenium um Mystery-Elemente angereichert, die sich etwa in den lebensechten Träumen von Mike zeigen, bald aber eher in Horror umschlagen. Dafür hat die Autorin erst im Frauengefängnis nahe Ray Brook, das in einem ehemaligen Tuberkulose-Sanatorium untergebracht ist, dann im Sedge Anwesen, das im Norden von Upstate New York gelegen ist, perfekte Kulissen gefunden. Für letzteres wird Jess nach dem Tod seiner exzentrischen Besitzerin Aurora Sedge zur Housesitterin, als sich dann bereits in der ersten Nacht die unheimlichen Ereignisse überschlagen.

Mike, der sich selbst nicht so recht zu verstehen scheint, ist für mich schwer greifbar gewesen. Vor seinem Unfall habe ich dessen Charakterisierung trotz der stereotypen Anlage als angehender Football-Star als gelungener empfunden, indem er da für mich präsenter gewesen ist. Im Hier und Jetzt hingegen ist Mike, abgesehen von seinen besonderen Fähigkeiten, auf die er in der Wahrnehmung von außen reduziert wird, eher blass geblieben. Dafür hat Danielle Trussoni neben Mike wesentliche Nebenfiguren, die teilweise erst im weiteren Verlauf eingeführt werden, mit einer interessanten Hintergrundgeschichte ausgestattet, die in einzelnen Kapiteln des Romans eingeschoben wird. Dabei hat die Autorin ein gutes Gespür fürs Timing bewiesen, indem ihr Erzählrhythmus von einer ausgewogenen Balance zwischen Vergangenheit und Gegenwart geprägt ist, der nicht zu Lasten der Spannung geht.

 

Mein Fazit zum Schluss
Im Vergleich zum starken Einstieg und einem Mittelteil, in dem auf zwei zusätzlichen Zeitebenen, die um abgründige Horror-Elemente angereichert sind, ein unerwartet düsterer Ton angeschlagen wird, ist das letzte Drittel von Ingenium deutlich schwächer ausgefallen. Das liegt wohl darin begründet, dass Danielle Trussoni in der ambitionierten Auflösung ihres Romans zu viel auf einmal wollte, ohne dass sich dessen unterschiedliche Komponenten zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt hätten. So ist die Autorin auf die Integration neuer resp. aus heiterem Himmel wieder auftauchender Nebenfiguren angewiesen, für deren Erscheinen wenig plausible bzw. zu konstruiert wirkende Erklärungen herhalten müssen, damit diese Protagonist Mike ihre Hilfe zukommen lassen können. Auch gestalten sich im Schlussteil die Übergänge zwischen den verschiedenen Handlungssträngen, die im Wesentlichen aus der Lethargie bestehen, mit der Mike auf seine durch die permanent angespannte Situation bedingte Überforderung reagiert, nicht ansatzweise so fließend wie am Anfang. Als überzeugender hätte ich Ingenium empfunden, wenn Danielle Trussoni sich im Finale dafür entschieden hätte, die religiös-esoterisch angehauchte Mystery-Geschichte, die den Kern ihres Buchs bildet, konsequent zu Ende zu erzählen. Auch hätte Ingenium gut getan, wenn die Autorin auf alles, was dessen Tempo ausbremst, verzichtet hätte. Dazu gehören die ausufernden Zweifel, mit denen Mike und eine zentrale Nebenfigur ihr Handeln zu hinterfragen beginnen. Zudem wäre, was für die Fortsetzung von Ingenium benötigt wird, besser auf sein absolutes Minimum zu reduzieren gewesen, um nur am Rande behandelt zu werden und den Fokus nicht in unnötiger Weise von den wesentlichen Punkten dieses Romans und der dabei aufgebauten Spannung abzulenken.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Puzzle Master
  • Herausgeber: Hoffmann und Campe
  • Erscheinungsdatum: 4. September 2023
  • Seitenzahl: 432
  • ISBN-10: 3455015662
  • ISBN-13: 978-3455015669
  • Preis: 18€