Rezensionen im Mai 2023

 

Im Mai habe ich mich von Ruth Ozeki mitreißen lassen, da ihr Roman "Geschichte für einen Augenblick" wie eine Wundertüte aus Überraschungen ist, wenn er stets noch eine neue, unerwartete Richtung einzuschlagen vermag. An der Seite von Lisa Taddeo habe ich die Abgründe leidenschaftlicher Zuneigung, die beinahe manische Züge annehmen kann, und toxischer Beziehungen ausgelotet ("Ghost Lover"). Ungewöhnlich ausgefallen sind der Thriller von Gillian McAllister, der mit seinem deutschen Titel "Going Back" an sich schon zu viel verrät und einen der starken Twists zu seinem Beginn vorweg nimmt, sowie der Science-Fiction-Roman von Neil Sharpson, der einen intelligenten, philosophisch angehauchten Kommentar zur Künstlichen Intelligenz darstellt.

 

29. Mai 2023: In Schweden stirbt es sich am schönsten von Anders de la Motte und Måns Nilsson

25. Mai 2023: Das Ende von Eden von Stephen Amidon

21. Mai 2023: Ghost Lover von Lisa Taddeo

17. Mai 2023: Geschichte für einen Augenblick von Ruth Ozeki

13. Mai 2023: Going Back von Gillian McAllister

9. Mai 2023: Ecce Machina von Neil Sharpson

5. Mai 2023: Going Zero von Anthony McCarten

1. Mai 2023: Seventeen von John Brownlow

 

 

29. Mai 2023: In Schweden stirbt es sich am schönsten von Anders de la Motte und Måns Nilsson


Nicht ganz so starker zweiter Fall für das ungleiche Ermittler-Duo Vinston und Esping

 

Inhalt: Der riesige Antiquitäten-Markt, bei dem auf einer mehrere Fußballfelder messenden Fläche von typischem Flohmarkt Trödel bis hin zu hochpreisigen Antiquitäten alles angeboten wird, zieht Jahr für Jahr Touristen und Händler aus aller Welt an. Da Peter Vinston noch während der letzten Wochen seines Urlaubs Zeit mit seiner Tochter Amanda verbringen will, die auf dem Markt Eis verkauft, weil sie in einer Eisdiele jobbt, begleitet er seine Ex-Frau Christina und deren neuen Mann Poppe Löwenhjelm dorthin. Nach einem kurzen, sintflutartigen Regenguss, vor dem alle ihre erworbenen oder zu verkaufenden Schätze in Sicherheit zu bringen suchen, indem dieser Schauer jeden gleichermaßen unerwartet trifft, dringen Schreie mitten in das sich wieder ordnende Chaos. Nalle Persson, der als Miteigentümer von Rasks Gebrauchtmöbelhandel sein Geschäft rund um Haushaltsauflösungen rücksichtslos betrieben hat, atmet nicht mehr.

 

Zur Charakterisierung der Protagonisten Peter Vinston und Tove Esping
“In Schweden stirbt es sich am schönsten” ist nach “Der Tod macht Urlaub in Schweden” der zweite, in Österlen angesiedelte Fall für das ungleiche Ermittler-Duo Peter Vinston und Tove Esping. Vinston hat sich von dem Burnout, der im Vorgänger der Grund für seine Auszeit im ländlichen Schweden gewesen ist, erholt. Mittlerweile plagt ihn sogar die seinen gemütlichen Alltag dominierende Langeweile derart, dass er sich auf seine Rückkehr in die Großstadt freut, um wieder seiner Arbeit beim Reichskriminalamt nachzugehen. Vinston fällt durch seinen für einen Polizisten untypischen, überkorrekten Kleidungsstil auf, der ihn auch die sommerliche Hitze in einem dreiteiligen Anzug ertragen lässt. Dafür hat er seine geliebte Fusselrolle oder einen Schirm und weitere, kreativere Hilfsmittel stets griffbereit.
Tove, die in der Umgebung von Österlen groß geworden ist, stammt aus einer einflussreichen Familie. Als sie Kommissarin geworden ist, hat sie sich jedoch gegen den Einstieg ins Familiengeschäft entschieden. So brennt sie nun darauf die Leitung in einem Mordfall zu übernehmen, damit sie aus dem Schatten erfahrener Kollegen treten kann. In Ihrer Freizeit unterstützt sie ihrer Lebensgefährtin Felicia Oduya in deren Kaffeehaus, in dem gerade jede Hand gebraucht wird, da wegen der aufgrund der Hochsaison nach Schonen strömenden Touristen viel Betrieb herrscht. Dabei ist sich Tove nicht zu schade, in der Küche schmutzige Tassen abzuspülen, obwohl ihre Gedanken an sich nur um den Tod von Nalle Persson kreisen.

 

Dynamik der Beziehung zwischen Vinston, Hofkatze Pluto und Kollegin Tove
Vinston bewohnt die von Poppe und Christina gemietete Bäckastuga, bei der die Hofkatze Pluto zum Inventar gehört. Im ersten Band der Reihe hatte Pluto sich zum Szenendieb gemausert, wenn er für einige lustige Szenen zwischen Vinston und ihm gesorgt hat. Mittlerweile pflegt Vinston einen entspannten Umgang mit der Katze. Seine Abneigung gegenüber Tieren im Haus im Allgemeinen und von Katzenhaaren in seinem Bett im Speziellen hat Vinston insofern überwunden hat, dass er mit Pluto ein Arrangement getroffen hat, indem er ihn mit Sardinen besticht. Eine ähnliche Entwicklung hätte ich auch im Verhältnis, das die Zusammenarbeit von Vinston und Esping prägt, erwartet, nachdem die beiden im Vorgänger erst mühsam ihre Differenzen überwinden und gegenseitige Vorurteile abbauen mussten, um sich zusammenraufen zu können. Da hat es mich dann schon irritiert, dass Vinston und Esping zu Beginn dieses Krimis quasi wieder beim gleichen Punkt wie in “Der Tod macht Urlaub in Schweden” starten, wenn Tove auf die Unterstützung des erfahrenen Ermittlers Vinston verzichten und diesen Mordfall allein lösen will, obwohl sie zuvor gemeinsam den rätselhaften Tod der Promi-Maklerin Jessie Anderson erfolgreich aufgeklärt hatten.

 

Lokale Folklore, kulinarische Genüsse und die malerische Schönheit der Schären
Bereits im Prolog lebt die lokale Folklore auf, indem von de la Motte und Nilsson die sich um die Namensgebung rankende Sage des Flusses Trollelier, in dessen Nähe der Antiquitäten-Markt stattfindet, wiedergegeben wird. Die Geschichte ist ein Drama um Liebe und Eifersucht, bei dem Riesen die Hauptrolle spielen. Auch beschreiben die Autoren die malerische Schönheit des idyllischen Schonen, das sich an strahlenden Sonnentagen bei Vogelgezwitscher und wenn alles blüht, von seiner besten Seite zeigt. So wie im ersten Band der Reihe ist das gute Essen, das Vinston genießt, wiederum von Bedeutung. Die kulinarischen Genüsse reichen dabei von bodenständiger Hausmannskost wie selbstgemachten, zum Mittagessen verzehrten Köttbullar bis hin zum noblen Abendessen, bei dem Rehfilet gespickt mit Knoblauch, Pilzen und Nüssen serviert wird, das von Vogelbeergelee und einem nach Rosen, Trüffeln und Leder duftenden Wein abgerundet wird.

 

Die Vielzahl der Verdächtigen im eigentlichen Mordfall
Weil Nalle Persson neben der gefühlskalten Beziehung zu seiner Frau Sussi eine Affäre hatte und Rasks Gebrauchtmöbelhandel derart gnadenlos betrieben hat, dass er allein am Tag seiner Ermordung zunächst über den Kauf einer wertvollen Schale chinesischen Porzellans mit China-Gert Zillen aneinander geraten ist, dann Streit mit Mats Lindeman, seinem Stand Nachbarn auf dem Markt, hatte, um im Anschluss daran von einer etwa vierzigjährigen, kurzhaarigen Frau als Dieb beschimpft zu werden, mangelt es Vinston und Esping nicht an Verdächtigen. Auch hat Nalle nicht vor dubiosen Geschäften mit zwielichtigen Gestalten zurückgeschreckt, indem ihm jedes Mittel zum Geldverdienen recht gewesen ist. Dass Vinston und Esping einer Vielzahl unterschiedlicher Spuren nachzugehen und verschiedene Verdächtige zu befragen hatten, hat die Schilderung von deren Ermittlungsarbeit für mich kurzweilig ausfallen lassen.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge

“In Schweden stirbt es sich am schönsten” habe ich als nicht so gelungen wie dessen Vorgänger empfunden, weil dieser Krimi weniger originell ausgefallen ist und es nicht geschafft hat eigene Akzente zu setzen, wenn das Erfolgsrezept von “Der Tod macht Urlaub in Schweden” kaum variiert worden ist. Das zieht sich durch diesen Roman durch und beginnt bei Schloss Gärsnäs, das dieses Mal für die Aufzeichnung einer bekannten Fernsehshow anstelle der bombastischen Geburtstagsfeier als Event Location dient, führt über nebenher einfließende Gespräche, die von einer geteilten Leidenschaft fürs Reiten samt des Besitzes eines kostspieligen Pferdes handeln, und Vinstons Leibspeise bis hin zum Finale, das an sich spektakulär wäre, wenn es denn von seinem grundlegenden Aufbau her nicht derart stark an das des ersten Bandes der Reihe erinnern würde. De la Motte und Nilsson hätten dem Krimi mehr Eigenständigkeit verleihen können, indem die Sichtweisen von Vinstons erweiterter Familie darin integriert worden wären. Das schließt für mich die Perspektive seiner Ex-Frau Christina, von deren gemeinsamer Tochter Amanda und insbesondere von Christinas neuem Mann Poppe mit ein. Poppe, der eingeführt als ruhiger, entspannter Charakter die zwischen Peter und Christina herrschenden Spannungen auszugleichen vermochte, kommt in diesem Buch aber eine Rolle zu, bei der er mehr Ecken und Kanten zu zeigen hätte. Abgesehen von einem kurzen Abschnitt, in dem aus seiner Sicht die Teilnahme an einer Auktion geschildert wurde, ist er dabei jedoch ziemlich blass geblieben.

 

3,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Ett fynd att dö för
  • Herausgeber: Droemer
  • Erscheinungsdatum: 2. Mai 2023
  • Seitenzahl: 384
  • ISBN-10: 3426308754
  • ISBN-13: 978-3426308752
  • Preis: 15,99 €

Österlen-Morde Serie:

  • Band 1: Der Tod macht Urlaub in Schweden
  • Band 2: In Schweden stirbt es sich am schönsten

 

25. Mai 2023: Das Ende von Eden von Stephen Amidon


Ruhig erzähltes Krimi-Drama mit Längen, aber einem starken, abgründigen Schluss
 

Inhalt: Die unberechenbare Eden Perry, die dazu neigt schlechte Entscheidungen zu treffen, ist vor wenigen Monaten zu ihrer entfernten Verwandten Betsy Bondurant und deren Mann Bill in die Locust Lane gezogen. Im so beschaulichen wie wohlhabenden Vorort Emerson soll sie Abstand zu ihren Problemen gewinnen, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Eden kümmert sich um den Hund der Bondurants und hütet in deren Abwesenheit das Haus. Als die Bondurant das nächste Mal verreist sind, versucht Eden mitten in der Nacht ihre Mutter Danielle zu erreichen, die jedoch den Anruf verpasst. Am darauf folgenden Morgen wird Eden tot aufgefunden und weil die damit einhergehenden Umstände verdächtig sind, nehmen die Detectives Dorothy Gates von der State Police und Procopio aus Emersion ihre Ermittlungen auf.

 

Abwechslungsreiche Erzählweise aus fünf unterschiedlichen Perspektiven
Die gesamte Handlung von “Das Ende von Eden” spielt sich einschließlich des vorangestellten Prologs und des zeitlich später angesiedelten Epilogs innerhalb von wenigen Tagen ab. Indem die Erzählweise sich auf diesen kurzen Zeitraum konzentriert, verstärkt sie die Intensität, die dieser Krimi als emotionales Drama erzeugt. Dabei wird der Roman aus fünf unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Diese umfassen neben der Sichtweise von Danielle Perry, die die Mutter der ermordeten Eden ist, auch die des Zeugen Patrick Noone, der zufällig betrunken am Tatort vorbeirauscht, sowie von Celia Parrish, Alice Hill und Michel Mahoun, deren fast volljährige Kinder die gleiche Schule besuchen und untereinander befreundet sind.
Die Parrishs sind eine in Emerson sehr einflussreiche Familie, da Celias Mann Oliver ein erfolgreicher Anwalt ist, der mit dem Polizeichef Golf spielt. Nachdem deren älteste Söhne bereits ausgezogen sind, wohnt nur noch Jack, Nesthäkchen und ehemaliges Sorgenkind der Familie, zu Hause. Jacks Freundin ist die unsichere, zu Selbstverletzungen neigende Hannah, die ihn anbetet und der die Beziehung ebenso wie Jack Stabilität zu geben scheint. Obwohl Hannahs Stiefmutter Alice das schlechte Bauchgefühl, das Jack in ihr auslöst, nie vollends losgeworden ist, billigen letztlich Celia und Alice deren Liaison, aufgrund derer sie sich kennengelernt haben und zu Freundinnen geworden sind. Dass der Geek Geoff Holt sich ganz in seiner Arbeit zur Erschaffung künstlicher Nervenbahnen, die fühlen können, vergräbt und seine Frau Alice dabei außen vor lässt, hat zu deren Eheproblemen und der Affäre geführt, die Alice mit dem aus dem Libanon stammenden Michel begonnen hat. Der Witwer Michel, der nach dem frühen Tod seiner Frau allein für seinen Sohn Christopher sorgt, besitzt das gut laufende Restaurant Papillon, das französische Gerichte mit libanesischem Akzent serviert.

 

Das Drama im Leben der verschiedenen Protagonisten
Der nach dem Verlust seiner Tochter unter seinem Alkoholproblem leidende Patrick Noone verdient sein Geld als Verwalter von Kundenvermögen. Zunächst wirkt er im Frönen seiner Sucht, bei der er schon betrunken einen Hund angefahren hat, und im dreisten Stehlen seines Mittagessens im Bio-Supermarkt, obgleich er sich das problemlos leisten kann und das er anschließend nicht einmal verzehrt, wenig sympathisch, bis sich mir dann nach und nach seine Geschichte erschlossen hat. Insgesamt überzeugt “Das Ende von Eden” zwar nicht als typischer, die Spannung hochtreibender Krimi, dafür aber umso mehr als ruhig erzähltes Drama. Jede der fünf Familien, die jeweils mit einem Mitglied vertreten sind, aus deren Sicht ein Teil der Handlung geschildert wird, hat mit Problemen zu kämpfen. Die sind mir näher gebracht worden, da Amidon sich Zeit dabei gelassen hat seine Figuren vorzustellen und auch traumatische Ereignisse aus deren Vergangenheit wiederzugeben. Besonders eindringlich sind für mich die Tragik im Leben von Patrick und Michel geraten. Michel, der als Kind Zeuge brutaler im Krieg verübter Attentate geworden ist, musste mit ansehen, wie sein feinfühliger Sohn Christopher beinahe am Verlust seiner Mutter zerbrochen ist, als seine hohl gewordene Stimme der in ihm herrschenden Leere Ausdruck verliehen hat.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Dass der Autor sich für den Aufbau von "Das Ende von Eden" für eine derart konzentrierte Erzählweise entschieden hat, indem die Handlung dieses Krimis auf einen Zeitraum von nur wenigen Tagen beschränkt und der erste davon vollständig aus Sicht von jeder der fünf gewählten Figuren geschildert wird, hat den Nachteil mit sich gebracht, dass unerwartete Momente verloren gegangen sind. So haben sich bei mir Längen eingeschlichen, als mich etwa nicht überraschen konnte, wer bei Michel mit blutendem Arm an eines der Fenster der von der Straße angewandten Seite des Hauses, das von Reportern belagert wird, klopft. Denn Amidon hat zuvor aus Sicht von eben dieser Figur berichtet, wie ihr das geglückt ist, hinter das Haus von Michel zu gelangen. Auch die unvorhergesehene Begegnung zweier Figuren, die zufällig vor dem zum Tatort gewordenen Haus in der Locust Lane stranden, ist nur beim ersten Mal spannend gewesen, wenn nach einem Wechsel der Perspektive klar gewesen ist, auf wen die zusätzlich involvierte Person am Ende des Kapitels treffen muss.
Da hätte ich mir eine straffere Erzählweise gewünscht, die solche Dopplungen vermieden und auf die Beschreibung der Stunden der beteiligten Figuren, in denen nichts passiert, als etwa Celia zur Untätigkeit verdammt allein Zuhause auf ihren Mann und Sohn warten muss, verzichtet hätte. Stattdessen hätte Amidon seinem über einen kurzen Zeitraum erzählten Roman einen ausführlicheren Prolog voranstellen können, indem die recht spezielle, durch ihr sprunghaftes Verhalten unberechenbare und doch so liebenswerte Eden hätte vorkommen können. Denn deren Beschreibung fällt jedem der von der Polizei Befragten derart schwer, dass den Detectives gegenüber wiederholt die Aussage gemacht wird, Eden müsse man einfach erlebt haben.

 

Mein Fazit zum starken Schluss
Im weiteren Verlauf von "Das Ende von Eden" nimmt die Handlung dann Fahrt auf, wenn die Tage nicht mehr vollständig aus fünf verschiedenen Perspektiven wiedergegeben werden, sondern kleine Zeitsprünge erfolgen. In der zweiten Hälfte dieses Krimis sind es zumindest für mich aber ein paar zufällige Verbindungen zu viel gewesen, die Zeuge Patrick oder genauer gesagt dessen verstorbene Tochter Gabi zu den in diesem Roman eine Rolle spielenden Figuren hat. An dieser Stelle wäre für mich weniger mehr gewesen, weil das in der vorliegenden Form den Eindruck hinterlassen hat, dass der Autor nach der eindringlich geschilderten, starken Vorgeschichte von Patrick nicht so recht wusste, wie er diese zu einem runden Abschluss bringen soll. Dafür hat mich jedoch das abgründige Finale entschädigt, bei dem Amidon den Mut bewiesen hat, sein durch dessen Intensität überzeugendes Krimi-Drama nicht mit einem gefälligen letzten Kapitel abzuschließen.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Locust Lane
  • Herausgeber: Droemer
  • Erscheinungsdatum: 2. Mai 2023
  • Seitenzahl: 384
  • ISBN-10: 3426283921
  • ISBN-13: 978-3426283929
  • Preis: 16,99 €

 

21. Mai 2023: Ghost Lover von Lisa Taddeo


Explizit erzählte, provokante Stories über unerwiderte Zuneigung und toxische Beziehungen

 

Inhalt: Ari hat es geschafft. Im von ihr gegründeten Unternehmen Ghost Lover beantworten Expertinnen anstelle der Kundinnen Nachrichten und haben so schon viele glückliche Beziehungen ermöglicht. Damit ist Ari derart erfolgreich, dass sie überall erkannt wird, sich auch die kostspielige Villa in Malibu direkt am Pacific Coast Highway leisten kann, über deren Preis sie ihre beste Freundin belogen hat, und eine Beziehung mit dem extrem gut aussehenden Fotografen Jeff führt, der sie zu allen Veranstaltungen begleitet. Aber hat sie die Trennung von ihrem Ex-Freund Nick, die sie zu Ghost Lover inspiriert hat, tatsächlich verwunden, wenn Nick und sie nun schon lange befreundet sind?

 

Große Bandbreite an weiblichen Hauptfiguren in den verschiedenen Stories
Neben der Titelgebenden Geschichte “Ghost Lover” enthält diese Sammlung acht weitere Stories von Lisa Taddeo, die fast ausschließlich aus weiblicher Sicht geschildert sind. Darin deckt die Autorin eine große Bandbreite ab, indem die in der jeweiligen Geschichte in den Mittelpunkt gestellte Hauptfigur von einer einflussreichen, wohlhabenden Karriere-Frau und einer Golf spielenden Gutsverwalterin, die ganz nah dran am Luxus ihrer Arbeitgeber ist, über eine hoch verschuldete Requisiteurin bis hin zum Geist einer bereits Verstorbenen reicht, die deren Freundin über ihren Tod hinaus im Auge behält. Dabei wechseln die Schauplätze von Los Angeles, über Boston und nach Manhattan, ohne dass dem von der Autorin eine größere Bedeutung beigemessen wird, da sie kaum am Erkunden der genannten Städte interessiert ist und sich stattdessen in den Abgründen, die sich in den Gedankengängen ihrer Figuren auftun, verliert.

 

Vom Drama im Leben der Protagonistinnen
Neben unerwiderter Zuneigung und wenig befriedigten Bedürfnissen treiben diese Frauen auch andere Sorgen um. Ari, die Protagonistin von Ghost Lover, hat alles, was man sich wünschen kann. Doch statt ihren Wohlstand zu genießen und sich in der Rolle als Vorbild vieler Frauen zu gefallen, quält sie sich tagein tagaus mit dem fortwährenden Zählen von Kalorien, indem sie sich schon lange darum bemüht abzunehmen. Requisiteurin Jane braucht dringend Geld, um ihre hohen Schulden zu begleichen, die sie erdrücken. Nachdem sie erfolglos ihr iPhone online zum Verkauf angeboten hat, überlegt sie sogar, sich von ihrem einzig wertvollen Besitz zu trennen. Das ist ein ungewöhnliches Gemälde, das sie einst als Geschenk erhalten hat. Besonders eindringlich ist in diesem Zusammenhang aber die Geschichte “Padua, 1966” geraten, in der die Abwärtsspirale, in die sich das Leben der schönen Miranda verwandelt hat, aus Sicht ihrer bereits verstorbenen Freundin beschrieben wird. Vor ihrem tiefen Fall beschränkten sich Mirandas Probleme, die als Frau ihres Ehemanns Luke zur weißen Oberschicht gehört hat, darauf eine Beziehung zu ihrer Tochter Caroline aufzubauen, die von ihrem Vater abgöttisch geliebt wird. Miranda selbst fand einen Weg aus ihrer kleinen, perfekten Welt auszubrechen, wenn sie das von ihr gesuchte Abenteuer in der letzten, verdreckten Absteige gefunden hat, um sich erst dann lebendig fühlen zu können. Von da an beginnt ihr Niedergang, als sie in die Drogensucht abrutscht und nach dem Rausschmiss aus ihrem Zuhause unter einer Brücke schlafen muss. Auch ihre Tochter darf sie nicht sehen, für die ihr Ex-Mann das alleinige Sorgerecht hat.

 

Im Fokus stehende leidenschaftliche Zuneigung der Frauen mit beinah manischen Zügen
Im Mittelpunkt der Stories von Lisa Taddeo steht jedoch eine die jeweilige Figur beherrschende Zuneigung, die fast schon manische Züge annehmen kann. Ari von Ghost Lover hat die Trennung von ihrer ersten Liebe Nick, den sie kurz nach dem College auf einer Party getroffen hat, nie verwunden. Ihre gesamte Existenz kreist um Nick, indem sie zielstrebig einen Master Plan verfolgt, mit dessen Hilfe sie ihn zurückzuerobern gedenkt. Dazu zählen ein Diät, damit sie das Gewicht erreicht das Frauen haben, die Nick gefallen, sowie der Erfolg, den sie sich hartnäckig mit ihrem Unternehmen erarbeitet hat inklusive ihrer Einstellungspolitik, die sie ausschließlich schlanke, hübsche Frauen auswählen lässt, die genau Nicks Typ wären. Joan, die single Karriere-Frau Anfang vierzig aus Manhattan, optimiert ihr Leben, das in ihrer Freizeit aus Training, Workout und Terminen bei ihrer Psychotherapeutin besteht. Sie hat eine ausgeprägte Schwäche für junge Männer, was sich umso schwieriger gestaltet, je älter sie wird. Dabei hat es ihr ein arbeitsloser Schauspieler extrem angetan, dem sie Kontakte vermittelt, um sich seine Aufmerksamkeit zu sichern. Jede dieser Frauen jagt ihrer wenig oder zumindest nicht in der Form wie gewünscht erwiderten Zuneigung hinterher, der sie alles andere unterordnet. Besonders intensiv ist in dieser Hinsicht die Story “Grace Magorian” geraten, in der die einundfünfzigjährige Protagonistin Grace Golf mit einem jungen Paar spielt, das sich über die Dating-App Venus kennengelernt hat. Während Grace diese App ausprobiert, stößt sie auf das Profil eines Mannes, den sie erst als zu gut, um wahr zu sein, dann jedoch als absolut perfekt für sich erachtet. Ohne diesen Mann auch nur ein einziges Mal gesprochen, geschweige denn getroffen zu haben, versinkt sie in der Vorstellung von dem vollkommenen Leben, das sie mit ihm führen wird, da er DER Eine ist, den sie liebt. Die Illusionen, denen Grace sich hingibt, werden, ob der von seiner Seite ausbleibenden Reaktion, immer überzogener und nehmen beinahe absurde Züge an. Lisa Taddeo gelingt es aber ihre Geschichte dadurch in der Spur zu halten, dass sie parallel zur Gegenwart, in der sich Grace mit der Dating-App auseinandersetzt, Ereignisse aus ihrer Vergangenheit wiedergibt. Nachdem sie früh ihren Vater verlieren musste, hatte sie aufgrund des komplizierten Verhältnisses zu ihrer Mutter, die in der Vernachlässigung ihrer Tochter schon deren Geburtstag vergessen hat, und wegen des Missbrauchs durch ihren Stiefvater eine schwere Kindheit. Ihre Weigerung sich selbst als Opfer zu erkennen, lässt sie das erlittene Trauma nur verdrängen, nicht verarbeiten. So verdeutlicht die Autorin, wie Grace zu der Frau werden konnte, die sie im Hier und Jetzt ist.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Stärker wären die Stories ausgefallen, wenn Lisa Taddeo der Versuchung widerstanden hätte, diesen zu ihrem Ende hin eine unerwartete Wendung hinzuzufügen, die ich nur im Fall der Titelgebenden Geschichte Ghost Lover als schlüssiges Finale angesehen habe, in dem die in deren Zentrum stehende toxische Beziehung ihren Höhepunkt gefunden hat. Dieser gewollte Schluss, der die Stories selten abrundet, beraubt die zuvor aufgebaute Intensität um einen Teil ihrer Wirkung. Denn die an sich stimmige Charakterisierung der jeweiligen Hauptfigur wird geopfert, wenn diese im letzten Moment um eine neue Komponente ergänzt wird, die lediglich einem flüchtigen Überraschungseffekt dient. Ohne das wären die Stories eher Momentaufnahmen aus dem Leben von deren Protagonistin, die durch deren meist zusätzlich eingeschobene Vergangenheit näher beleuchtet werden.
Die in "Ghost Lover" gesammelten, ungewöhnlichen Kurzgeschichten grenzen sich deutlich von anderen Kurzgeschichtenbänden ab, indem Lisa Taddeo weder einen provokanten Schreibstil noch vulgäre Beschreibungen oder eine Vielzahl expliziter sexueller Szenen scheut. Dahin lenkt die Autorin den Fokus beim Lesen, so dass der Rest der Story im Kontrast dazu leicht untergehen kann. Das empfinde ich als schade, weil Lisa Taddeo diese um Aufmerksamkeit heischenden Szenen gar nicht nötig hat. Denn trotz der Kürze ihrer Geschichten überzeugt die Autorin mit dem Ausloten der komplexen Charakterisierung ihrer nie eindimensionalen Hauptfiguren und einem Schwerpunkt in der Schilderung toxischer Verhältnisse, die auch deren Ursprung ergründet.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Ghost Lover
  • Herausgeber: Piper
  • Erscheinungsdatum: 27. April 2023
  • Seitenzahl: 256
  • ISBN-10: :3492070949
  • ISBN-13: 978-3492070942
  • Preis: 24 €

 

17. Mai 2023: Geschichte für einen Augenblick von Ruth Ozeki


Ungewöhnlich kombinierter, in sich nicht ganz stimmiger, abwechslungsreich erzählter Roman

 

Inhalt: Als Schriftstellerin Ruth am Strand spazieren geht, findet sie dort das angeschwemmte, sorgfältig in verschiedene Gefrierbeutel verpackte Tagebuch der jungen Nao aus Tokyo. In den Einband von “À la recherche du temps perdu” (“Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”) von Marcel Proust hat Nao mit lila, blau, schwarz und pink-farbenem Tintenroller ihre Gedanken niedergeschrieben, weil sie wohl nicht mehr lange leben wird. Indem ihr die eigene Vergangenheit bedeutungslos erscheint, da sie bisher nichts bewirkt hat, entschließt sie sich von ihrer Urgroßmutter Jiko zu erzählen. Die ist eine 104 Jahre alte Zen-buddhistische Nonne, zu der sie ein enges Verhältnis pflegt.

Zur Charakterisierung der Hauptfiguren Nao und Ruth

“Geschichte für einen Augenblick” wird von Ruth Ozeki aus Sicht der erst sechzehnjährigen Nao Yasutani in Gestalt der von ihr verfassten Tagebucheinträge und von Schriftstellerin Ruth geschildert, während eben diese Tagebucheinträge von ihr gelesen werden.
Nao ist in Sunnyvale in den USA groß geworden, als ihr Vater dort einen gut bezahlten Job als Programmierer hatte. Mit Platzen der Dotcom-Blase hat Familie Yasutani alles verloren, da Naos Vater gekündigt wurde, ihre als Rücklagen gedachten Aktien-Optionen wertlos geworden sind und sie so nach Japan zurückkehren mussten. Dort hausen sie in einer schäbigen Wohnung in einem heruntergekommenen Viertel, weil sie sich nichts Besseres leisten können. Obwohl Naos Vater sich darum bemüht, findet er keine neue Arbeit und es dauert nicht lang, bis er den ersten Selbstmordversuch unternimmt. Naos Mutter, die einen Nervenzusammenbruch hatte, verbringt die Tage damit das Aquarium zu besuchen und die Quallen zu beobachten. Nao ist in der Schule einem systematischen Mobbing ausgesetzt, das von verbalen Schikanen bis hin zu physischen Attacken reicht, bei denen sie ausgerissene Haare, Schnitte und viele blaue Flecken davon trägt, die sie versteckt.
Ruth wohnt mit ihrem Mann Oliver und Kater Schrödinger, der Pest oder Pesto genannt wird, auf Vancouver Island in Kanada. Sie ist des Japanischen mächtig, da sie auch aufgrund ihrer japanischen Wurzeln an der Universität japanische Klassiker studiert und früher in Japan gelebt hat. Ruth arbeitet bereits seit einem Jahrzehnt an ihren Memoiren, in denen sie die fortschreitende Alzheimer Erkrankung ihrer Mutter thematisiert, die sie gepflegt hat. Indem sie an einer Art von Schreibblockade leidet, schafft sie es nicht, diese Memoiren fertig zu stellen. So ist ihr Naos Tagebuch eine willkommene Ablenkung.

 

Einblick in die japanische Lebensweise und Drama um die Opfer des Tsunami
Beim Lesen entwickelt sich eine interessante Dynamik zwischen den beiden ungleichen Frauen. Nao spricht in ihrem Tagebuch wiederholt dessen zukünftigen Leser an, obwohl der ihr unbekannt ist. Ruth hingegen versucht den Hintergrund der Tagebucheinträge zu recherchieren, wenn sie mehr über Naos Familie anhand der gegebenen Informationen erfahren will. Ruth googelt etwa, ob Naos Familie zu den Opfer des Tsunami gehört. Denn die erste These, die zum Tagebuch von Ruths Mann Oliver aufgestellt wurde, besagt, dass das als Vorbote des Tsunami-Trifts bei ihnen angekommen ist.
Die Kapitel von Nao geben einen tieferen Einblick in die japanische Lebensweise, etwa in die Pop-Kultur sowie über von Naos Urgroßmutter Jiko gelieferte Erklärungen in buddhistische Weisheiten. In ihren Tagebucheinträgen schreibt Nao ihre Gedankengänge einfach herunter.
Erläuterungen dazu werden in Gestalt von diversen Fußnoten nachgeschoben, mit denen Ruth das Gelesene kommentiert. Ihre Anmerkungen betreffen japanischen Gerichte wie Omaraisu, Stadtteile wie Akihabara oder Harajuku, die japanische Höflichkeitsform oder auch die gesundheitlichen Vorteile von Ginkgoblättern. Darüber hinausgehende Ausführungen finden sich in mehreren Anhängen, die sich u.a. mit Zen-Augenblicken oder der Namensgebung japanischer Tempel auseinandersetzen.

 

Von den Problemen im Leben von Nao und Ruth
Die von Ruth Ozeki in ihrem Roman "Geschichte für einen Augenblick" angesprochenen Themen sind an sich recht tragisch. So schildert Nao zu Beginn die Schicksalsschläge, die ihre Familie erleiden musste, als sie ihr Leben in den USA verloren hat. Eine der Konsequenzen, die das nach sich gezogen hat, ist das grausame Mobbing von Nao in der Schule. Denn sie hinkt im Stoff hinterher, weil sie zuvor nur auf eine amerikanische Schule gegangen ist. Ruth hingegen sorgt sich um ihren erkrankten Mann Oliver, während sie sich mit ihren Memoiren befasst. In diesen verarbeitet sie den Verlust ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter, um die sie sich gekümmert hat. Dennoch ist der Roman eher locker-leicht geschrieben, was dem Drama einen Teil seiner Wirkung nimmt und einen eigenwilligen Touch durch die nebenher einfließenden Zen-meditativen Betrachtungen erhält.

 

Unerwartete Wendungen im weiteren Verlauf dieses Romans
Mit Ende des ersten Teils kippt die Stimmung aber. Der eingangs noch so positive Ton, indem selbst abgründige Themen abgehandelt wurden, wird deutlich düsterer, als das Leid der Tsunami Opfer in eindringlichen, vor Ort aufgenommenen Videos beschrieben wird, die Ruth sich online anschaut. Insgesamt fällt der Roman morbider aus, wenn Nao sich nach einer von ihrer Klasse mit Unterstützung des Lehrers für sie abgehaltenen Totenfeier bemüht ein lebendiger Geist zu werden, um in der Nacht die Mitschüler, die sie gequält haben, heimzusuchen.
Im Verlauf von "Geschichte für einen Augenblick" entwickelt Ruth Ozeki ihre Handlung mehrfach in eine für mich unerwartete Richtung, wenn sie darin überraschende Elemente integriert. Da lässt die Autorin etwa das Milieu der japanischen Pop-Kultur auf Informationen zum Walsterben, Wiederaufforstungsprojekte auf einen nach seinem zu programmierenden Gewissen entscheidenden Algorithmus, im zweiten Weltkrieg ausgebildete Himmelssoldaten auf japanischen Zen-Buddhismus und westliche Philosophie, das systematische Mobbing einer Schülerin auf Mystery-Elemente treffen und wiederholt schlägt die Stimmung um, in der der Roman wiedergegeben wird. Dabei will die Autorin jedoch zu viel auf einmal. Denn es ist ihr leider nicht geglückt ihre so interessante Sammlung unterschiedlichster Themen zu einem in sich stimmigen, übergeordneten Ganzen zusammenzuführen.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
"Geschichte für einen Augenblick" hätte ich als gelungener empfunden, wenn daraus zwei separate Bücher geworden wären. In einem davon hätten die folgenden Teile zu einem Historien-Drama, das seinen besonderen Dreh durch die philosophisch angehauchte wie Zen-buddhistische Betrachtungsweise erhalten hätte, zusammengefasst werden können: die Lebensgeschichte von Naos Urgroßmutter Jiko und deren Sohn Haruki, dem Himmelssoldaten. Darin hätten der brutale Drill der Soldaten, die Schrecken des Krieges und die Trauer von Jiko um ihren Sohn, in der ihr Entschluss sich dem Zen-Buddhismus zuzuwenden begründet liegt, eine Rolle gespielt. Denn Jiko ist Nonne geworden, damit jeder einzelne Mensch auf dieser Welt Frieden finden kann. Abgerundet worden wäre diese Erzählung durch deren Auswirkungen auf die nächsten Generationen wie beispielsweise deren Verbindung über die westliche Philosophie, die der erste Haruki studiert hat und für die sich Jikos Enkelsohn, der nach dem diesem Haruki benannt wurde, ebenfalls interessiert.
Ein weiteres Buch hätte ein Coming-of-Age Roman sein können, in dem die Unterschiede, die sich beim Aufeinandertreffen der japanischen und der amerikanischen Lebensweise ergeben, behandelt worden wären. Dieser Roman hätte von seiner besonderen Meta-Ebene gelebt, bei der das von Nao verfasste Tagebuch, indem sie sich wiederholt direkt an dessen Leser wendet, von einer kanadischen Schriftstellerin gelesen wird. In dessen Verlauf wären zunehmend die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwommen, wenn beide Frauen auf das Leben der jeweils anderen Einfluss genommen hätten. In diesem Buch wären seine Mystery-Elemente stärker zum Tragen gekommen, die in die Einbindung quantenmechanischer Theorien gegipfelt hätten.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: A Tale for the Time Being
  • Herausgeber: Eisele
  • Erscheinungsdatum: 27. April 2023
  • Seitenzahl: 592
  • ISBN-10: 3961611564
  • ISBN-13: 978-3961611560
  • Preis: 18€

 

13. Mai 2023: Going Back – Wo fing das Böse an? von Gillian McAllister


Ungewöhnliches Familien-Drama mit Thriller-Elementen und Multiversum-Thematik

 

Inhalt: Familie Brotherhood, die im Vorort Crosby von Liverpool wohnt, besteht aus Mutter Jen, Inhaberin einer Anwaltskanzlei, Vater Kelly und ihrem achtzehnjährigen, ein wenig nerdigen Sohn Todd. Bei ihnen lebt der aus dem Tierheim adoptierte Kater Henry VIII. Die Brotherhoods scheinen eine ganz normale Familie zu sein, bis in der Nacht vom 29. Oktober das Drama seinen Lauf nimmt. Kurz vor Halloween ereignet sich die Katastrophe, als Mutter Jen noch länger wach geblieben ist, um beim Schnitzen von einem Kürbis auf ihren Sohn zu warten, der noch nicht nach Hause gekommen ist.

 

Jeglichen Spoiler vermeidende Meinung zum Roman in folgendem Absatz
Eine Inhaltsangabe, die mehr über diesen Roman von Gillian McAllister verrät, nimmt zwangsläufig die in den ersten Kapiteln erfolgenden, unerwarteten Wendungen vorweg. Indem mich das Buch über weite Strecken weniger als Thriller, doch mehr als intensiv geschildertes Familien-Drama mit Mutter Jen in der Hauptrolle, die zur Hobby-Detektivin wird, zu überzeugen wusste, ist Going Back eines der ungewöhnlichsten Bücher, die ich bislang in diesem Jahr gelesen habe. Dabei ist das Highlight sein außergewöhnlicher Ansatz, der diesem Roman einen ganz besonderen Touch verleiht. Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht zu dessen Aufbau sagen. Denn gerade an seinem Anfang folgt bei diesem Buch ein Paukenschlag auf den nächsten und diese Twists, deren Effekt umso größer ist, je weniger zuvor darüber bekannt ist, zählen für mich zu den besten in diesem Buch.

 

Zur komplizierten Beziehung zwischen Mutter Jen und ihrem Sohn Todd
Jeder, der sich von diesem Thriller gänzlich überraschen lassen will, sollte ab diesem Punkt in meiner Rezension nicht weiterlesen. Denn ähnlich dem Klappentext vermag ich das nicht dieses Buch zu bewerten, ohne auf die Twists in dessen ersten Kapiteln Bezug zu nehmen. In den Mittelpunkt von Going Back stellt Gillian McAllister die Beziehung zwischen Mutter Jen und ihrem Sohn Todd. Deren schwieriges Verhältnis ist von Jens Abwesenheit geprägt. Denn stets hat sie ihrer Arbeit Priorität eingeräumt, wenn sie sich als Anwältin ganz in ihre Scheidungsfälle vertieft und ihren Mandanten gewidmet hat. So hat sie wenig Anteil am Leben ihres Sohns genommen, weil dieser als guter Schüler, der ihr keine typischen Teenanger-Probleme bereitet hat, unkompliziert auf sie wirkte. Doch dann kommt jene Nacht des von Gillian McAllister als Tag Null benannten 27. Oktobers, der zum Dreh- und Angelpunkt des weiteren Romans werden wird. Da begeht Todd ein schreckliches, für Jen gänzlich unerwartetes Verbrechen, das ihre bisherige Sicht komplett auf den Kopf stellt, als er einen ihr unbekannten Mann ersticht. Den Schock hat Jen, die nicht verstehen kann, wie ihr Sohn zum Mörder werden konnte, kaum verkraftet, als sie am nächsten Morgen aufwacht. Doch das ist nicht der nächste Tag. Stattdessen findet sie sich im Gestern (Tag minus 1) wieder.

 

Interessante Ausgangssituation für einen dadurch bedingten ungewöhnlichen Thriller
Damit hat Gillian McAllister ein interessantes Setting für ihren ungewöhnlichen Thriller gefunden. Das erinnerte mich an Zeitschleifen-Filme wie "Und täglich grüßt das Murmeltier" oder "Happy Deathday", wenn Jen Versuche unternimmt ihrer Umgebung (u.a. ihrer Familie, ihren Freunden, Kollegen, wissenschaftlichen Experten) zu erklären, dass sie sich in der Zeit nicht mehr vorwärts, sondern zurück bewegt. Going Back erzeugt dabei aber eine ganz eigene Dynamik, indem Jen, anders als das sonst der Fall ist, nicht immer wieder den gleichen Tag durchleben muss, sondern jeden Morgen noch weiter in der Vergangenheit zurück aufwacht. Durch diesen geschickten Schachzug hat Gillian McAllister die Längen, die sich in Zeitschleifen-Romanen oder Filmen durch allzu häufige Wiederholung ein und desselben Tags einstellen, vermieden.

 

Entwicklung von Jen zur Hobby-Detektivin im weiteren Verlauf
Stattdessen kann sich die Autorin ganz darauf konzentrieren, das in der von Jen in Frage gestellten Beziehung zu ihrem Sohn begründete, eindringliche Familien-Drama zu schildern. Auch entwickelt sich Jen immer mehr zur Hobby-Detektivin, die das Zimmer von Todd durchsucht, ihn im Auto verfolgt und sich seiner neuen Freundin Clio vorstellt. Denn ihre Aufgabe scheint darin zu bestehen, herauszufinden, wie ihr Sohn zum Mörder werden konnte, um die Tat zu verhindern. So erfährt Jen zunächst an jedem erneut von ihr durchlebten Tag der Vergangenheit etwas Neues, das zur Lösung des Falls beiträgt, ihr aber beim ersten Mal meist wegen ihrer Arbeit entgangen ist, und enthüllt so nach und nach die in ihrer Familie begrabenen Geheimnisse.
Beim starken Beginn von Going Back hat Gillian McAllister mich mit der Vielzahl von Mysterien überzeugt, mit denen Jen plötzlich konfrontiert ist. Dadurch wurde ebenso wie durch die unerwarteten Wendungen, die die Grundlage für das von der Autorin etablierte Setting darstellen, Spannung erzeugt. Aufgrund des Albtraums, in den sich Jens Familienidylle verwandelt hat, entwickelt sie sich mehr und mehr zur Miss Marple. Damit kommt sie den kriminellen Machenschaften, die sich in das Leben ihres Sohns eingeschlichen haben, auf die Spur. Zugleich unternimmt Jen Versuche der Art von Zeitschleife, in die sie geraten ist, auf den Grund zu gehen, um diese zu beenden. Dabei habe ich deren Dynamik als besonders interessant empfunden, da diese zu einem ungewöhnlichen Timing geführt hat, indem Morgen nicht Morgen, sondern Gestern oder ein weiter in der Vergangenheit zurückliegender Tag ist.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Going Back hatte für mich jedoch Längen in seinem Mittelteil, indem Jens fortwährend geschürte Zweifel, die sie in zunehmendem Maße ihrer Familie entgegenbringt, erst das Drama intensivieren, dann aber den Punkt erreichen, an dem sie sich im Kreis zu drehen beginnen, wenn Gillian McAllister diesen keinen wesentlichen Aspekt mehr hinzuzufügen hat. Damit meine ich insbesondere die Kapitel, die die Tage behandeln, an denen Jen nichts grundlegend Neues über ihre Familie herausgefunden hat. Der Spannungskurve hätte an diesen Stellen gut getan, wenn die Autorin ihre Geschichte, die sonst mehr zum sich wiederholenden Familien-Drama verkommt als an einen Thriller erinnert, mit stärkerem Fokus auf die übergeordnete Miss Marple-Zeitreisen-Handlung erzählt hätte. So wären unnötige Längen vermieden worden, indem sich der Roman dann mehr auf die Klärung der von Jen zu lösenden Rätsel konzentriert hätte.
Auch der Schluss von Going Back konnte mich nicht vollends überzeugen, da ich den finalen Twist, der da für Jen gänzlich unerwartet gekommen ist, mangels vorhandener Alternativen schon sehr früh habe kommen sehen. Weil Gillian McAllister in ihrem übrigen Roman das Familien-Drama derart in den Mittelpunkt gestellt hat, hätte ich eine Auflösung, die ausschließlich Jens Familie mit einbezieht, als stimmiger empfunden. Indem das von der Autorin gefundene Ende so für mich nicht ganz zum Rest des Romans passen will, hätte sich als Alternative zur Fokussierung auf das Familien-Drama angeboten zuvor eingeführte, interessante Nebencharaktere außerhalb der Kernfamilie von Jen stärker aufzubauen und in die Handlung zu integrieren. Dafür hätten sich neben den in den allerletzten Abschnitten dieses Buchs eine Rolle spielenden Figuren auch der extrem logisch denkende Rakesh Kapoor, der Jens ältester Freund und Kollege ist, Jens Mandantin und Privatdetektivin Gina Davis, die in ihrer Scheidung erst nur die Möglichkeit zur Bestrafung ihres Ehemanns sieht, und der charismatische Kriminelle Joseph Jones angeboten.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Wrong Place, Wrong Time
  • Herausgeber: Piper
  • Erscheinungsdatum: 27. April 2023
  • Seitenzahl: 432
  • ISBN-10: 3492064167
  • ISBN-13: 978-3492064163
  • Preis: 17 €