Rezensionen im September 2023

 
Im September habe ich Abgründe in einem düsteren Serienmörder-Thriller ausgelotet, der mit einem starken Antagonisten zu überzeugen wusste ("Fürchte das Böse" von Mark Griffin), und die Hitze des Sommers 1994 in Stockholm erlebt, das von einer brutalen Vergewaltigungsserie heimgesucht wurde ("Sommersonnenwende"  von Pascal Engman und Johannes Selåker). Von Mieko Kawakami bin ich ins ferne Tokyo entführt worden, das ich noch nie einer derart betörenden Schönheit der Lichter bei Nacht wie durch die Augen der unsicheren Korrekturleserin Fuyuko gesehen habe ("All die Liebenden der Nacht") und von Prof. Dr. Ingo Froböse habe ich viel Lehrreiches über Muskeln in seinem Sachbuch, das in seinem konsequent verfolgten wissenschaftlichen Ansatz in die Tiefe geht, erfahren ("Muskeln - die Gesundmacher").


24. September 2023: Fürchte das Böse von Mark Griffin

16. September 2023: All die Liebenden der Nacht von Mieko Kawakami

10. September 2023: Sommersonnenwende von Pascal Engman Johannes Selåker

3. September 2023: Muskeln - die Gesundmacher von Ingo Froböse

 

24. September 2023: Fürchte das Böse von Mark Griffin

 

Abgründiger Serienmörder-Thriller mit starkem Antagonisten

 

Inhalt: Eines Abends klopft PC Jefferson im strömenden Regen an die Tür von Immobilienmaklerin Sandra Newsome und ihrem Mann, dem Informatiker John. Er möchte sie befragen, da in einem der von ihr betreuten Häuser eine grausam zugerichtete Leiche aufgefunden worden ist. Indem der PC zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, darf er dem Paar nichts Näheres dazu verraten, als ihm Kaffee und Kekse angeboten werden. Doch dann nimmt das Gespräch ein abruptes Ende und die forensische Psychiaterin Holly Wakefield hat in einem weiteren Mordfall zu ermitteln.

 

Zur Beschreibung der Hauptfiguren Holly Wakefield und William Bishop
“Fürchte das Böse” ist nach “Dark Call - Du wirst mich nicht finden”, “White Sleep - Unschuldig in den Tod” und “Silent Death - Du entkommst mir nicht” bereits der vierte Fall für Holly und DI William Bishop von der Metropolitan Police, der vor seiner Zeit bei der Polizei bei der Air Force gedient hat und mit den Spezialkräften in Afghanistan eingesetzt gewesen ist.
Obwohl dieser Thriller für mich den ersten Band der Reihe dargestellt hat, den ich gelesen habe, habe ich Holly im Zuge dieser sie auf persönlicher Ebene betreffenden Ermittlung dadurch rasch kennengelernt, dass Mark Griffin relevante Informationen aus ihrer traumatischen Vergangenheit hat mit einfließen lassen. Denn keiner versteht antisoziale Serienmörder derart gut wie Psychopathenflüsterin Holly, was in ihrer eigenen Lebensgeschichte begründet liegt. Als sie neun Jahre alt war, hat sie Sebastian Carstairs aka die Bestie dabei überrascht, wie er über den Leichen ihrer Eltern in der Blut getränkten Küche stand, die er brutal ermordet hatte. Doch hat er sie verschont. Abgesehen von Holly halten alle das Kapitel Carstairs für abgeschlossen, nachdem er drei Monate zuvor Komplikationen im Zusammenhang mit seinem Krebsleiden auf der Krankenstation im Gefängnis erlegen ist, während er seine Haftstrafe verbüßt hat. Obwohl Holly bei seiner Einäscherung anwesend gewesen ist, glaubt sie nicht, dass er verstorben ist.

 

Ein Nachahmungstäter oder ist Serienmörder Carstairs von den Toten auferstanden?

Spannung kommt in “Fürchte das Böse” damit nicht nur durch die Mordserie auf, sondern wird ebenfalls durch die Frage erzeugt, ob da ein von Carstairs ausgebildeter Nachahmungstäter am Werk ist oder ob es doch Carstairs selbst ist, der von den Toten auferstanden ist. Weil Holly die Theorie des Nachahmungstäters von Anfang an vehement ablehnt, indem sie auf Carstairs als Mörder beharrt, werden Bishop und sie nach Einmischung von höchster Stelle von dem Fall abgezogen. Um weitere politisch bedingte, Polizei interne Konflikte zu vermeiden, können die beiden nur noch im Verborgenen ermitteln. Insbesondere müssen sie ohne andere Ressourcen auskommen, wenn sie nur auf sich allein gestellt agieren und ihre neue Operationsbasis in dem den Bauarbeiten überlassenen Teil des Reviers liegt.

 

Zum psychologischen Kontext in der präzisen Charakterisierung von Psychopathen

“Fürchte das Böse” wird abwechslungsreich aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, die neben der Sichtweise von Hauptfigur Holly auch die von DI Bishop sowie der Bestie umfassen. Dabei besticht dieser Thriller durch seinen starken Antagonisten, der um eine präzise Charakterisierung von Psychopathen ergänzt wird. Letzteres beginnt bei der Beschreibung von deren Eigenschaften, die während einer von Holly am Londoner King's College gehaltenen Vorlesung aufgezählt werden. Diese reichen von Empathielosigkeit und krankhaftem Lügen über ein übersteigertes Selbstwertgefühl und nur oberflächlich ausgeprägte Emotionen bis hin zum fehlenden Schuldbewusstsein. Intensiv ist Mark Griffin die Schilderung der Sitzungen zwischen Psychologe Hedley Phelps und Carstairs geraten, den Hedley als Therapeut behandelt hat. Denn der Autor verdeutlicht geschickt, wer da wen durch das Gespräch führt und stellt so das manipulative Verhalten von Carstairs heraus, dem sich auch ein Psychologe nicht zu entziehen vermag.

 

Stärken und Schwächen in der Beschreibung wesentlicher Nebenfiguren
Im Spannungsfeld zwischen der traumatisierten forensischen Psychiaterin und dem psychopathischen Serienmörder sind einige der an sich interessant angelegten Nebenfiguren blass geblieben. Da bleibt etwa ein Großteil des Potentials, das in einer Annie Wilkes oder Cassandra Carstairs steckt, ungenutzt. Annie fristet ihr Dasein in der Haftanstalt New Hall für psychisch kranke Straftäter, nachdem sie des Mordes an ihrem Bruder und ihrer Schwägerin für schuldig befunden worden ist, und Cassandra, die die Schwester von Sebastian Carstairs ist, ist in jungen Jahren dem physischen wie psychischen Missbrauch durch deren Eltern ausgesetzt gewesen. "Fürchte das Böse" hätte stärker ausfallen können, wenn sich Mark Griffin in der ersten Hälfte seines Thrillers nicht nur auf das Leid von Protagonistin Holly konzentriert hätte, sondern der belastenden Vergangenheit von Annie und Cassandra mehr Raum gegeben hätte. Denn in den wenigen Abschnitten, die der Autor diesen Figuren in der vorliegenden Form zugesteht, habe ich deren Charakterisierung als zu eindimensional empfunden. Indem Annie recht gleichgültig und Cassandra zu hysterisch auf mich wirkte, ist das Drama in deren Leben für mich schwer greifbar geblieben.

 

Zum Spannungsaufbau im weiteren Verlauf und mein Fazit zum Schluss
In der zweiten Hälfte leidet der Spannungsaufbau von "Fürchte das Böse" darunter, dass Mark Griffin eine Stop-and-Go Mentalität an den Tag legt, wenn er immer wieder durch nicht unbedingt notwendige Einschübe auf die Bremse drückt und kein hohes Erzähltempo aufkommen lässt. Die sich anbahnende Liebesgeschichte mag für jeden, der alle bisherigen Bände der Reihe gelesen hat, eine lang gehegte Erwartung erfüllen. Da dies mein erster Thriller um Holly Wakefield gewesen ist, hat das für mich aber nur Spannung rausgenommen, als ich ein hohes Erzähltempo erwartet habe, das konsequent auf ein intensives Finale zusteuern sollte. Weil ich den größten Teil der Auflösung durch die in den aus Tätersicht geschilderten Kapiteln vorliegenden Andeutungen, aber auch aus einem Mangel an Alternativen zuvor vermutet habe, hatte "Fürchte das Böse" in seinem weiteren Verlauf Längen für mich. So hätte diesem Thriller gut getan, wenn der Autor länger in der Schwebe gehalten hätte, ob Carstairs selbst von den Toten auferstanden ist oder doch ein Nachahmungstäter am Werk ist, und andere falsche Fährten in dessen Handlung integriert hätte.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: When Evil Wakes
  • Herausgeber: HarperCollins
  • Erscheinungsdatum: 27. Juni 2023
  • Seitenzahl: 384
  • ISBN-10: 3365002898
  • ISBN-13: 978-3365002896
  • Preis: 12 €

Holly Wakefield-Reihe:

  • Band 1: Dark Call: Du wirst mich nicht finden
  • Band 2: White Sleep: Unschuldig in den Tod
  • Band 3: Silent Death: Du entkommst mir nicht
  • Band 4: Fürchte das Böse

 

16. September 2023: All die Liebenden der Nacht von Mieko Kawakami

 

Ungewöhnliche, einfühlsam erzählte Liebesgeschichte um die Korrekturleserin Fuyuko

 

Inhalt: Fuyuko Irie, die als Korrekturleserin für einen größeren Verlag arbeitet, geht tagein tagaus dem gleichen routinierten Ablauf nach. Sie ist aber so einsam, dass sie sogar ihren Geburtstag allein mit einem Spaziergang bei Nacht verbringt. Aber dann trifft sie inspiriert von der selbstbewussten Hijiri Ishikawa, die beim Verlag für die freiberuflichen Korrekturleser zuständig ist, eine folgenschwere Entscheidung. Sie beginnt zu trinken und das Drama nimmt seinen Lauf.

Zur Charakterisierung der ungewöhnlichen Hauptfigur Fuyuko

Mit Fuyuko hat Mieko Kawakami eine ungewöhnliche Hauptfigur für ihren Roman ersonnen, die sie nicht der Lächerlichkeit preisgibt, sondern der sie sich in ihrer aufmerksamen Betrachtung einfühlsam nähert. Fuyuko, die Mitte dreißig ist, stammt ursprünglich aus dem ländlichen Nagano. In Tokyo hat sie weder Freunde noch Familie oder einen Partner. Solange sie als Korrekturleserin in einem kleinen Verlag festangestellt gewesen ist, hatte sie ihre freien Abende mit Nichtstun zu füllen. Doch als Selbständige steckt sie ihre ganze Zeit in ihre Arbeit, indem sie sich einem ihr zugeteilten Auftrag widmet, bis das entsprechende Buch fertig Korrektur gelesen ist. Nur an ihrem in den Dezember fallenden Geburtstag gönnt Fuyuko sich den Luxus und unternimmt einen Spaziergang durch die Stadt, an deren Lichtern sie sich erfreut. In diesen Szenen zeigt Mieko Kawakami ein ausgeprägtes poetisches Talent, das eine betörende Schönheit, die in der Nacht liegen kann, heraufbeschwört. Da diese unerwartet verträumten Momente diesem Roman einen besonderen Touch gegeben haben, hätte ich davon gern mehr gelesen.

 

Zur Beschreibung von Nebenfiguren und Fuyukos Beziehung zu diesen
Fuyuko, die als unsichere Person charakterisiert wird, tut sich schwer im Umgang mit anderen Menschen, aber auch mit den von ihr getroffenen Entscheidungen. So meidet sie soziale Situationen wie gemeinsame Mittagessen mit Kollegen, was während ihrer Festanstellung im Verlag zu Problemen geführt hat. Erst wurde sie kaum beachtet, dann ausgegrenzt und hinter ihrem Rücken über sie gelästert, bis ihr schließlich die Kollegen deren Meinung offen ins Gesicht gesagt haben. Trotz ihrer passiven Hauptfigur gelingt es Mieko Kawakami, dass sich "All die Liebenden der Nacht" recht flüssig liest. Ins Stocken gerät der Roman nur, wenn Gespräche mit Hijiri wiedergegeben werden, da Fuyuko in ihrer Gegenwart nicht weiß, was sie sagen soll, und ihre Sätze unvollständig enden lässt. Die extrem oberflächliche Hijiri eckt mit ihrem übertriebenen Selbstbewusstsein an und schwingt gern Monolog artige Reden über Banalitäten, die sie in verworrenen Gedankengängen zu tiefgründigen Aussagen aufzubauschen sucht. Dabei ist für mich schwer nachvollziehbar geblieben, warum Fuyuko sich derart stark von Hijiri angezogen fühlt, die abgesehen von ihrem gutaussehenden Äußeren wenig vorzuweisen hat. Denn Hijiri nimmt entscheidenden Einfluss auf Fuyukos Leben, indem sie sie zur hauptberuflichen Selbständigkeit überredet, so dass sie mehr Aufträge für Hijiris Verlag erledigen kann, und sie zum Trinken motiviert.

 

Zur weiteren Entwicklung von Fuyuko nach einer folgenschweren Entscheidung
Fuyuko hat nie wieder Alkohol angerührt, nachdem sie diesen nur ein einziges Mal in jungen Jahren probiert hat und ihr davon zu schlecht geworden ist. Die Handlung von “All die Liebenden der Nacht” beginnt Fahrt aufzunehmen, als Fuyuko sich zum Trinken entschließt. Bier und Sake lassen sie mutiger werden, selbstbewusster auftreten und flüssig mit anderen kommunizieren. Weil sie plant etwas für sie gänzlich Neues zu probieren, besucht sie das Culture Center. Dort will sie sich für einen Kurs anmelden, um zu lernen, womit sie bislang nicht in Berührung gekommen ist. Im Culture Center macht sie die Bekanntschaft von Herrn Mitsutsuka, einem Physiklehrer an der Oberschule. Trotz ihres angetrunkenen Zustandes ist er nett zu Fuyuko und unterstützt sie, als sie seiner Hilfe bedarf.

 

In seiner intensiven Schilderung gelungenes Porträt vom Abrutschen in die Sucht
Zugleich entwirft Mieko Kawakami ein intensiv geratenes Porträt, das in ruhigem Ton aus Sicht von Fuyuko wiedergegeben wird und deren Abrutschen in die Sucht beschreibt. Ihre Entwicklung zur Alkoholikerin wird von Aussetzern begleitet, aber auch dem angenehmen Gefühl, wie in Watte gepackt zu sein. Von der Autorin werden jedoch die damit einhergehenden Schwierigkeiten nicht ausgespart. Fuyuko hat mit Übelkeit zu kämpfen, ist peinlichen Situationen ausgesetzt, wenn Fremde feststellen, dass sie betrunken ist, und sie unbeabsichtigt an für sie ungewöhnlichen Orten einschläft. Eines Tages bleibt sie, als sie nach Hause kommt, einfach im Eingangsbereich ihres Appartements liegen oder ist plötzlich für einige Stunden beim Warten auf einer Bank weggetreten, so dass ihr währenddessen die Handtasche gestohlen wird.

 

Kleine Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Stärker wäre "All die Liebenden der Nacht" ausgefallen, wenn Mieko Kawakami ihrer in der Gegenwart derart passiv agierenden Protagonistin dadurch mehr Profil gegeben hätte, dass sie weitere Episoden aus deren Vergangenheit in die Geschichte ihres Romans integriert hätte. Denn die nur vereinzelt auftauchenden Szenen haben mich allesamt überzeugt, indem ich die Schilderung traumatischer Erlebnisse aus ihrer Schulzeit als eindringlich und den vor Jahren getroffenen Entschluss, ihren Geburtstag am Weihnachtsabend mit einem Spaziergang bei Nacht zu verbringen, als betörend schön empfunden habe. Die so stille Fuyuko geht in der Interaktion mit der selbstbewussten Hijiri und deren ausgeprägten Geltungsbedürfnis, aber auch neben dem lebhaften Rededrang ihrer ehemaligen Kollegin Kyoko sowie einer den Kummer über die Tristesse ihrer Ehe ausschüttenden Schulfreundin unter. Dabei ist Fuyuko im Vergleich zum oberflächlichen Gehabe der genannten Frauen, die sich ganz in ihren alltäglichen Problemen verlieren und in deren hysterisch übertriebenen Umgang damit wenig nahbar für mich geblieben sind, die interessantere Figur gewesen. Denn hinter ihrer ruhig erscheinenden Oberfläche haben sich für mich unerwartete Facetten verborgen.

 

Mein Fazit zum Schluss
Auch hätte ich mir gewünscht, dass der nach und nach von der Autorin entwickelten, ungewöhnlichen Liebesgeschichte mehr Raum gegeben worden wäre. Diese hätte etwa dadurch mehr in den Mittelpunkt gestellt werden können, dass weitere Szenen in der Art wie ihr Besuch eines Buchladens in die Handlung eingebunden worden wären. Dort stößt Fuyuko zufällig auf die Regale, die die Ratgeber zu Heirat, Ehe, Kinderkriegen enthalten und kommentiert diese in Gedanken. Zudem ist mir der Schluss, den die Autorin für ihren Roman gefunden hat, zu abrupt gewesen, obgleich ein Jahre später angesiedeltes, Epilog artiges letztes Kapitel Antworten auf die sonst offen gebliebenen Fragen liefert. Meinem Empfinden nach hätte diese in ihrem eigenen, eher langsamen Rhythmus erzählte besondere Geschichte jedoch verdient nicht derart schnell zu ihrem Ende hin abgehandelt zu werden.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Subete mayonaka no koibitotachi
  • Herausgeber: DuMont
  • Erscheinungsdatum: 19. Juni 2023
  • Seitenzahl: 260
  • ISBN-10: 3832182292
  • ISBN-13: 978-3832182298
  • Preis: 24 €

 

10. September 2023: Sommersonnenwende  von Pascal Engman Johannes Selåker

 

Ambitioniertes Krimi-Drama um eine Serie brutaler Vergewaltigungen in 1994

 

Inhalt: Die bosnische Muslimin Nadija Alihodzic ist als Kriegsflüchtling und Asylbewerberin erst seit einem Jahr in Schweden gewesen, bevor sie vor einem Flüchtlingswohnheim ermordet worden ist. Währenddessen ist ihr Ehemann Elvedin unterwegs gewesen, weil er nachts in einem nahe gelegenen Industriegebäude putzt. Indem sein betrunkener Bruder Kristian vor dem Polizeirevier damit prahlt, die Tat begangen zu haben, wird Tomas Wolf, Kriminalkommissar bei der Mordkommission in Stockholm, in den Fall verwickelt, da er seinem Bruder zwar diverse kriminelle Machenschaften zutraut, dieses Verbrechen aber nicht zu ihm zu passen scheint. So nimmt Tomas die Ermittlungen auf und stellt den Zusammenhang in einer abgründigen Serie von Vergewaltigungen her.

 

Zur Charakterisierung der Hauptfiguren Tomas Wolf und Vera Berg
“Sommersonnenwende” wird von Engman und Selaker neben der Perspektive des Polizisten Tomas Wolf auch aus Sicht der Journalistin Vera Berg sowie des bekannten Schauspielers Micael Bratt erzählt.
Tomas Wolf ist ein von seiner Arbeit überforderter Kommissar, nachdem er bereits eine Leiche zu viel gesehen hat und nun von den Geistern der Verstorbenen verfolgt wird, die er an den Orten, an denen sie ihren Tod gefunden haben, nicht aus dem Kopf bekommen kann. Seine schwierige Situation wird durch seinen mit Abwesenheit glänzenden Partner und ehemaligen Mentor Lars Johansson, der von allen Zingo genannt wird, verschärft, indem er Tomas nicht nur keine Unterstützung ist, sondern seinerseits dessen Hilfe benötigt, wenn Tomas für sein fortwährendes Fehlen dem Chef gegenüber Ausreden parat haben muss. Zudem verfolgen Tomas die grausamen Taten, deren Zeuge er im in Bosnien-Herzegowina tobenden Krieg ein Jahr zuvor geworden ist. Seine Familie, die aus seiner Frau Klara und seinen zwei kleinen Kindern Alexander und Ebba besteht, wird von seiner Liebe zur schönen Azra belastet, die er als einzige Überlebende eines Massakers in einem bosnischen Dorf entdeckt hat.
Auch Vera Berg hat mit ihrer traumatischen Vergangenheit zu kämpfen, da ihr kleiner Bruder Vincent früh gestorben ist und deren Eltern, die ihr die Schuld daran gegeben haben, ihr den Rücken gekehrt und sie nicht mehr als ihre Tochter angesehen haben. So kann sie den sechsjährigen Sigge, der der Sohn ihres Ex-Freundes Johnny ist, weder dem Jugendamt übergeben noch seinem Vater überlassen, der tagelang verschwinden kann, wenn er auf Droge ist, und sich mit Betrügereien, Diebstählen und Raubüberfällen über Wasser hält. Kurzerhand nimmt sie Sigge mit nach Stockholm, als sie dort ihre neue Stelle bei der Kvällsposten antritt, um das anspruchsvolle Ressort der überregionalen Berichterstattung zu vertreten. Im Zuge ihrer Arbeit kommt Vera ebenfalls in Kontakt mit der brutalen Mordserie, deren Opfer Nadija Alihodzic geworden ist.
In die Vita des Polizisten Tomas Wolf und der jungen Vera Berg ist von Engman und Selaker eine Vielzahl von Problemen integriert worden, die fast schon ein wenig des Guten zu viel ist. Dabei ist den Autoren jedoch ein komplexes Porträt nach wie vor relevanter Themen gelungen, die die Charakterisierung ihrer beiden Protagonisten prägen, weil deren ambivalente Auseinandersetzung damit beschrieben wird. Im Gegensatz dazu ist der berühmte Micael Bratt recht eindimensional geraten. In jeder Szene, in der er auftritt, neigt er zu Größenwahnsinn und schafft es sein zuvor bereits an den Tag gelegtes unhöfliches Verhalten noch zu toppen. Zudem ist sein Handlungsspielraum dadurch, dass er quasi permanent betrunken ist, ziemlich eingeschränkt.

 

Zur gekonnten Integration tatsächlicher historischer Ereignisse des Sommers 1994
Abgesehen von einem vorangestellten Prolog und einem nachgelagerten Epilog ist “Sommersonnenwende” zeitlich vom 6. Juni bis 18. Juli 1994 angesiedelt und wird von Anfang an abwechslungsreich aus mehreren Perspektiven geschildert. Denn Engman und Selaker nutzen den traumatisierten Ermittler und die unter ihrer Vergangenheit leidende Journalistin nicht dafür ein in typischer Weise ruhig erzähltes skandinavisches Krimi-Drama zu entspinnen, indem das Buch eine große Bandbreite unterschiedlicher Themen abdeckt, die meisten davon aber nur anschneiden kann. Auch werden die Hauptfiguren neben der im Mittelpunkt stehenden Vergewaltigungsserie mit weiteren Verbrechen wie einem schockierenden Massaker, das das beschauliche Falun erschüttert hat, konfrontiert. Durch die verschiedenen, begonnenen Handlungsstränge und die Vielzahl der angerissenen Themen, obgleich die Auseinandersetzung mit diesen meist nicht in der Tiefe erfolgt, die deren Bedeutung gerecht werden würde, erreicht "Sommersonnenwende" eine gewisse Komplexität. Dabei hat mich die gekonnte Integration tatsächlicher historischer Ereignisse aus dem Jahr 1994 wie des Amoklaufs in Falun oder der Erfolge, die die schwedische Nationalmannschaft bei der in den USA ausgetragenen Fußball-WM erzielt hat, in die von den Autoren ersonnene Kriminalgeschichte überzeugt, indem die Übergänge zwischen Fiktion und Realität fließend ausgefallen sind.
Dagegen ist die Entwicklung der erst so stark eingeführten Protagonisten Wolf und Berg weniger gelungen, da die nicht gänzlich schlüssig ist. Inkonsistenzen zeigen sich etwa bei den Gedächtnislücken von Wolf, die durch dessen traumatische Erlebnisse während seines Einsatzes im Bosnien-Krieg bedingt sind.

 

Eine Entwicklung, die zulasten der Glaubwürdigkeit der Hauptfiguren geht

Nachdem Engman und Selaker eingangs noch eindringlich PTBS-Symptome und deren Auslöser wiedergegeben haben, sind diese Aussetzer von Wolf im späteren Verlauf des Romans dann plötzlich über weite Strecken verschwunden. Berg trifft kaum nachvollziehbare Entscheidungen, wenn sie wiederholt allein bzw. höchstens mit Verstärkung des kleinen Sigge Tatverdächtige mit ihrer Theorie von Angesicht zu Angesicht konfrontieren muss, damit sie deren Reaktion ablesen kann. So bringt sie sich nur unnötigerweise in Gefahr, was zwar die Spannung in diesen Szenen hochtreibt, aber spätestens als sich bei Berg durch diese Aktionen kein Lerneffekt einstellt, zulasten der Glaubwürdigkeit ihrer Figur geht. Der Charakterisierung von Schauspieler Bratt hätte gut getan, wenn diese nicht derart einseitig geraten wäre, sondern die Autoren andere Seiten von ihm - wie etwa seine in Armut verbrachte Kindheit - näher beleuchtet hätten.

 

Zum Spannungsaufbau im weiteren Verlauf und mein Fazit zum Schluss
Nach einem starken Einstieg haben sich bei mir in den Mittelteil von "Sommersonnenwende" Längen eingeschlichen, weil die Verfolgung der falschen Fährten, die ich meist schnell als solche identifizieren konnte, aufgrund der Behinderung durch den Mittsommer-Feiertag, die Urlaubszeit sowie die Fußball-WM viel Zeit in Anspruch genommen hat. Da ich den zum Schluss enthüllten Täter recht früh vermutet habe, hätte ich diesen Krimi als gelungener empfunden, wenn Engman und Selaker statt der exzessiven Beschreibung der Finten interessanten Nebenfiguren mehr Raum gegeben hätten, um deren Handlungen für mich plausibler werden zu lassen. Dazu zählen Veras Ex-Freund Jonny und sein ambivalentes Verhältnis zu seinem Sohn Sigge, Wolfs Partner Zingo und dessen ausufernde Abwesenheitszeiten im Job sowie Wolfs jüngerer Bruder Peter und die Auswirkung der radikalen Aktionen von Thomas auf dessen weitere Entwicklung.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Till minne av en mördare
  • Herausgeber: Ullstein
  • Erscheinungsdatum: 29. Juni 2023
  • Seitenzahl: 592
  • ISBN-10: 3864932394
  • ISBN-13: 978-3864932397
  • Preis: 17,99 €

 

3. September 2023: Muskeln - die Gesundmacher von Ingo Froböse

 

Wissenschaftlich fundierter, verständlich geschriebener Ratgeber ohne praktischen Teil rund um das Thema Muskeln

 

Der bekannte Sportwissenschaftler Ingo Froböse, der Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln ist, beginnt "Muskeln – die Gesundmacher" bei den Basics, wenn er Muskeln ihrer Physiologie und Anatomie nach vorstellt. Das fängt bei den Namen der Muskeln an, deren lateinische Bezeichnung und Zusammensetzung aus mehreren Bestandteilen erläutert wird, und wird in der Klassifikation von Muskeln anhand von deren Funktion fortgeführt, die sich nach Skelett-, Herz- und glatter Muskulatur unterscheiden lassen. Zudem setzt sich der Autor mit dem Aufbau der Muskulatur, dem Bindegewebe sowie den unterschiedlichen Typen von Muskelfasern auseinander.

 

Flüssiger Schreibstil trotz präziser, Zahlen orientierter Erzählweise
Dabei hat mir gut gefallen, dass sich der Schreibstil in diesem Sachbuch flüssig liest, da die Ausführungen verständlich gehalten sind, obgleich präzise beschrieben wird. Die sich an konkreten Zahlen orientierende Erzählweise von Ingo Froböse bleibt nicht im Vagen, indem etwa Prozentangaben zur Muskelmasse bei Männern, Frauen oder Sportlern in Abhängigkeit von deren Körpergewicht enthalten sind. Auch spart der Autor nicht am korrekten wissenschaftlichen Vokabular, sondern verwendet die entsprechenden Termini, nachdem er diese eingeführt hat. Beispielsweise werden den Energiestoffwechsel betreffend, deren Motor die Muskeln sind, die Mitochondrien und das Adenosintriphosphat (ATP) erklärt. Die Mitochondrien stellen die Minikraftwerke in den Zellen dar und das ATP ist die von den Mitochondrien produzierte Energie, die wir zum Leben benötigen.

 

Strukturierte und übersichtliche Aufbereitung des vermittelten Wissens
Zum strukturierten Vorgehen, das "Muskeln – die Gesundmacher" prägt, haben für mich die in den Fließtext integrierten Schaukästen beigetragen. Diese umfassen wichtige Fakten, so dass sich diese zum späteren Nachschlagen nach der Lektüre dieses Sachbuchs anbieten, und interessante Tatsachen zu Muskeln. Diese listen etwa Weltrekorde der Muskeln auf, die neben dem stärksten, größten, längsten und kleinsten auch den aktivsten, schnellsten oder fleißigsten der 654 Muskel im Körper angeben. Als übersichtlich habe ich die in tabellarischer Form aufbereiteten Informationen empfunden. Dazu zählen beispielsweise eine Gegenüberstellung von Herz-, Skelett- und glatter Muskulatur anhand von deren Merkmalen (wie u.a. deren Länge, Dicke, Anordnung der für die An- und Entspannung der Muskeln zuständigen kontraktilen Filamente, d.h. Proteinfäden) und ein Vergleich von verschiedenen Typen von Muskelfasern. Zudem werden Verweise auf andere Kapitel gegeben, die in Zusammenhang mit dem gerade Gelesenen stehen (z.B. vom Abschnitt zur "Feinstruktur des Skelettmuskels" auf die motorische Einheit für Kraft und Steuerung).

 

Kleine Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Teilweise hätte ich mir jedoch mehr Verlinkungen gewünscht. So hätte ich etwa bei der Einführung der Mitochondrien eine Erwähnung des später folgenden Kapitels, das sich in detaillierter Weise den Mitochondrien als Energielieferant des Muskels widmet, als nützlich angesehen. An mancher Stelle haben mir Abbildungen gefehlt. Beispielsweise hätte ich bei der Ausführung, dass die Herzmuskulatur auch quer gestreifte Muskulatur genannt wird, da in einer Betrachtung mit Fokus auf die Gewebeart auf mikroskopischer Ebene helle und dunkle Bahnen als Streifen sichtbar werden, gern eine Aufnahme derselben zur Veranschaulichung vor Augen gehabt anstelle der nur in Fließtext erfolgenden Beschreibung.

 

Ein fachlich versierter Autor, der in diesem Buch in die Tiefe geht ...
Angesprochen hat mich, dass Ingo Froböse in “Muskeln – die Gesundmacher” theoretisches Hintergrundwissen nicht nur in oberflächlicher Form vermittelt, sondern stattdessen in die Tiefe geht. Dabei verliert der Autor nie den Schwerpunkt seines Sachbuchs aus dem Blick und bindet bereits in seinen einleitenden, sich mit der Physiologie und Anatomie von Muskeln auseinandersetzen Kapiteln Informationen zum Problemfall der glatten Muskulatur, zu verklebten Faszien als Schmerzursache sowie zur Veränderung der Muskelfasertypen durch Training mit ein.

 

Basierend auf einem wissenschaftlichen Ansatz einschl. des Zitierens relevanter Studien
In diesem Kontext steht der von Ingo Froböse verfolgte wissenschaftliche Ansatz, den ich als passend für die Materie empfunden habe. Denn wenn der Autor auf den positiven Effekt eingeht, den Training auf die Muskulatur sowie die allgemeine Gesundheit haben kann, werden verschiedene Studien zitiert. Dazu zählen die Veröffentlichung von Prof. Henneman aus dem Jahr 1957, die die Zusammenarbeit der Neuronen in den motorischen Einheiten, der motorischen Einheiten untereinander und miteinander in der Skelettmuskulatur erläutert, aber auch aktuellere Studien zum Muskeltraining bei Frauen von Prof. Petra Platen von der Universität Bochum aus 2009 bzw. zu Menschen mit spastischen Störungen, die in der Rehabilitation nachhaltig von Stretching profitieren können, von Doktor Zhihao Zhou von der Universität Peking aus 2016. Abgerundet wird dies von einem detaillierten Literaturverzeichnis, das sich im Anhang findet.

 

Große Bandbreite abgedeckter, auch für mich interessanter Themen
Zudem widmet sich Ingo Froböse Themen wie dem Muskeltraining bei Frauen oder im Alter, die sonst eher am Rande behandelt werden. Insgesamt deckt “Muskeln – die Gesundmacher” eine große Bandbreite unterschiedlicher Themen ab. Diese umfassen u.a. die “Muskelkraft und Muskelmasse im Altersverlauf”, Sarkopenie als krankhaften Muskelverlust im Alter, dem sich mit einem geeigneten Training entgegenwirken lässt, sowie für mich unerwartete Kapitel zur Verbindung von Muskeln und Gefühlen bzw. von Muskeln und Gehirn. Denn gezielte Muskelentspannung kann Abhilfe bei Stress, Angst oder durch Anspannung ausgelöstem Zähneknirschen verschaffen und körperliche Aktivität beeinflusst kognitive Funktionen.

 

Myokinen als thematischer Schwerpunkt im weiteren Verlauf dieses Sachbuchs
Ein Schwerpunkt liegt im weiteren Verlauf dieses Sachbuchs auf den Myokinen als Heilstoffen der Muskulatur. Indem Myokine, die von der Muskulatur produzierte Botenstoffen darstellen, das Immunsystem unterstützen, Entzündungen bekämpfen, den Stoffwechsel aktivieren oder das Erinnerungsvermögen optimieren, sind Muskeln viel mehr als nur für Bewegungen zuständig. Überrascht hat mich zu erfahren, dass die Forschung zu den Myokinen noch in den Kinderschuhen steckt. Von den vermuteten ca. 3.000 Myokinen sind derzeit erst 600 bekannt.
Interessant fand ich auch zu lesen, welch vielfältigen Schutz Muskeln für unsere Gesundheit bedeuten, weil entsprechendes Training ganz unterschiedlichen Krankheitsbilder lindern kann. Dazu zählen etwa Herz-Kreislauferkrankungen, Adipositas, Diabetes, Rückenbeschwerden oder Arthrose. Nach der ganzen Theorie hat mir dann aber ein praktischer Teil gefehlt, in dem für die beschriebenen Krankheitsbilder wie insbesondere die Rückenschmerzen konkrete Übungen vorgestellt und mittels geeigneter Abbildungen bzw. via QR-Code verlinkter Videos illustriert worden wären. Da hätte das Wort zum Schluss, dass "Muskeln regelmäßiges Training brauchen”, eine andere Wirkung erzielen können, wenn ich das gleich anhand von konkreten Übungen in die Tat hätte umsetzen können.

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Herausgeber: Ullstein
  • Erscheinungsdatum: 30. März 2023
  • Seitenzahl: 320
  • ISBN-10: 3864932203
  • ISBN-13: 978-3864932205
  • Preis: 19,99 €