Rezensionen im Juli 2023

 
Im Juli habe ich mich von Elizabeth Strout an der Seite ihrer aus verschiedenen Romanen bekannten Heldin Lucy Barton in die Großstadt New York sowie in das ländliche Maine entführen lassen. Düstere Abgründe habe ich auf der dunklen Seite von L.A. entdeckt ("Nex" von Emma Berquist) und die schleichende Ausbreitung des Bösen im an sich so beschaulichen Norrtälje verfolgt ("Unwesen" von John Ajvide Lindqvist). Geheimnissen, die lang in der Vergangenheit begraben gewesen sind, sind in der idyllischen Vorstadt von Story Cove ans Licht gekommen ("Die Geheimnisse der anderen" von Loreth Anne White) und von Stephen Moss habe ich viel Unerwartetes über die zehn Titelgebenden Vögel erfahren ("Wie zehn Vögel die Welt veränderten").


30. Juli 2023: Die Geheimnisse der anderen von Loreth Anne White

22. Juli 2023: Wie zehn Vögel die Welt veränderten von Stephen Moss

16. Juli 2023: Unwesen von John Ajvide Lindqvist

8. Juli 2023: Nex von Emma Berquist

2. Juli 2023: Oh, William! von Elizabeth Strout

 

30. Juli 2023: Die Geheimnisse der anderen von Loreth Anne White


Mehr Krimi-Drama als Thriller mit Längen über die Abgründe in der Vorstadt-Idylle

 

Psychotherapeutin Dr. Lily Bradley ist gerade mitten in einer früh morgendlichen Sitzung mit der jungen Tarryn, deren einflussreiche Mutter draußen im Wagen auf ihre Tochter wartet, als ihr Mann Tom von seiner trotz des wütenden Sturms absolvierten Joggingrunde nach Hause kommt. Da Lily und Tom am Abend zuvor einen furchtbaren Streit hatten, achtet sie mehr auf ihren Mann als ihre Patientin und beobachtet so, dass er im Garten-Schuppen verschwindet statt gleich ins Haus zu kommen. Kurz darauf trifft die von ihrem Mann gerufene Polizei mit Blaulicht und Sirenen ein, weil Tom beim Joggen am Grotto Beach die Leiche einer Frau gefunden hat. Doch indem die von Tom gemachten Aussagen nicht gänzlich stimmig sind, wirkt er auf Detective Rulandi Duval und ihren Partner Toshi Hara verdächtig, die in einer brutalen Mordserie ermitteln.

 

Starker Einstieg und abwechslungsreiche Erzählweise auf verschiedenen Zeitebenen
In "den Geheimnissen der anderen" treibt Loreth Anne White die Spannung erst durch den geschickten Schachzug hoch, dass sie an den Anfang ihres Krimi-Dramas stellt, wie dieses endet. Denn das Buch beginnt mit der Schilderung einer zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Frau, die von einem maskierten Täter durch den Wald gejagt wird, bevor sie von der Klippe stürzt, und der sich daran anschließenden Vernehmung von Tom durch die Polizei, nachdem er aufs Revier in der Innenstadt mitgenommen wurde.
Nach diesem starken Einstieg werden “Die Geheimnisse der anderen” abwechslungsreich aus unterschiedlichen Perspektiven auf mehr als einer Zeitebene erzählt, die neben dem Hier und Jetzt auch vergangene Ereignisse aus den Monaten davor, die nach und nach enthüllen, wie es zu dem Mord kommen konnte, mit einschließen. Zu den verschiedenen Sichtweisen, die in diesem Krimi wiedergegeben werden, zählen die Gedankengänge von Detective Rulandi Duval, von Familie Bradley, die aus Mutter Lily, Vater Tom und deren Kindern Matthew und Phoebe besteht, von Lilys Freundin Hannah und von Phoebes Freund Joe.

 

Mitglieder der Familie Bradley, die im Mittelpunkt dieses Krimi-Dramas stehen
Familie Bradley wohnt im idyllischen Story Cove. Sohn Matthew geht seiner Leidenschaft für das heimliche Beobachten, Ausspionieren und Fotografieren seiner Mitmenschen nach, für die er Fallakten anlegt, weil er von einer Karriere als Investigativ-Journalist oder Undercover-Polizist träumt. Manga-Liebhaberin Phoebe, die die einzige Vegetarierin in ihrer Familie ist, hat seit kurzem einen älteren Freund. Tom ist Professor für Psychologie an der Kordel University und Lily behandelt als Psychotherapeutin ihre Patienten im Haus. Denen bietet sie dort einen sicheren Raum, um über alles Belastende sprechen zu können, indem das absolut vertraulich von ihrer der Schweigepflicht unterliegenden Therapeutin behandelt wird. Nach einer traumatischen Vergangenheit, die Lily mehr in sich vergraben und verdrängt, denn verarbeitet zu haben scheint, hält sie zwanghaft an der Kontrolle über ihr Leben fest, um sich selbst im Griff zu haben. Dazu passt das von ihr sorgsam gehegte Bild, das sie nach außen hin als professionelle Therapeutin, perfekte Ehefrau und Mutter vermittelt.

 

Zur Einbindung einer realen historischen Vorlage in Form eines brutalen Mehrfachmordes
Dass Loreth Anne White als Ausgangspunkt für ihren Krimi deutliche Parallelen zu einem tatsächlich geschehen brutalen Mehrfachmord, der die kanadische Provinz erschüttert hat, zieht, finde ich vom Ansatz her spannend. Dieses faktisch belegte Verbrechen wird dann von der Autorin in einer rein fiktiven Handlung, die Jahrzehnte später angesiedelt ist, fortgesetzt. Weil ich die ursprüngliche Tat nicht kannte, sind für mich auch die Informationen, die nach und nach deren Hergang enthüllt haben, interessant gewesen.
Obwohl die Autorin zur Integration dieses Mehrfachmordes in ihre Geschichte im Verlauf der "Geheimnisse der anderen" eine dritte Zeitebene, die weit früher spielt, und zusätzliche Figuren einführt, haben sich nach dem starken ersten Drittel dieses Krimis Längen bei mir eingeschlichen. Teilweise liegt das wohl darin begründet, dass ich den entscheidenden Twist, der den Zusammenhang zwischen dem ursprünglichen Verbrechen und der daraus gesponnenen Fiktion herstellt, aus Mangel an Alternativen früh vermutet habe. Denn obgleich Loreth Anne White im aktuellen Mordfall eine Vielzahl falscher Fährten legt, können sich diese Finten doch aufgrund von deren zeitlich bedingten Diskrepanzen nicht auf die Verbindung zwischen True Crime und in der Gegenwart angesiedelter Handlung beziehen.
Stärker wären "Die Geheimnisse der anderen" ausgefallen, wenn Loreth Anne White ihre an sich gut konstruierte Geschichte nicht auf drei, sondern lediglich zwei Zeitebenen gleichzeitig erzählt hätte. Dazu hätte nach der Schilderung von "Wie es endet" für "Wie es beginnt" zunächst auf die Darstellung der Gegenwart verzichten werden sollen, um fokussierter die vergangenen Ereignisse wiedergeben zu können, die letztlich zum eingangs beschriebenen Mord an der Joggerin geführt haben.

 

Verbesserungsvorschläge im Hinblick auf verschenktes Potenzial

Bei den prinzipiell für einen spannenden Thriller vorhandenen Zutaten, die aus einem schockierenden, tatsächlich geschehenen Verbrechen, einem unheimlichen Stalker im sonst so sicheren Story Cove und einer brutalen Mordserie an Joggerinnen bestehen, hat Loreth Anne White Potenzial verschenkt. Diese hätten besser genutzt werden können, indem etwa detaillierter über die Ermittlungen von Detective Rulandi Duval im Joggerinnen-Fall berichtet worden wäre und es mehr abgründige Stalker-Szenen gegeben hätte, in denen Lily und ihre Familie aus den Schatten heraus beobachtet worden wären, da diese einen interessanten Kontrast zur perfekten Fassade des malerischen Story Cove gebildet hätten. Stattdessen hat die Autorin den Schwerpunkt ihres Krimis auf die emotionalen Dramen in vier verschiedenen Familien gelegt, die recht monoton darin geraten sind, dass die größte Sorge von jeder der Ehefrauen darin besteht, dass ihr Mann eine Affäre hat. So haben mich die "Geheimnisse der anderen" über weite Strecken kaum an einen Thriller erinnert.

 

Zum psychologischen Kontext dieses Krimis im Vergleich mit anderen Romanen
Dabei hätten sich die Diagnose des Täters vom ursprünglichen Verbrechen sowie der fiktive Hintergrund von der als Therapeutin tätigen Lily und ihrem Mann Tom, der als Professor abnorme Psychen studiert, für einen psychologisch angehauchten Thriller angeboten. Die wenigen Kapitel, die Sitzungen von Lily mit ihren Patienten beschreiben, sind allesamt stark ausgefallen und abwechslungsreich in den darin geschilderten Problemen gehalten. Davon hätte es mehr gebraucht. Ebenso hätte es dem Roman gut getan, wenn die Autorin nicht nur den historisch belegten Mehrfachmord genau recherchiert hätte, sondern genau so viel Zeit auf eine psychologische Analyse von Soziopathen verwandt hätte. Denn dann hätte dieser Krimi ähnlich dem Thriller "Gnadenloses Spiel" von Angela Marsons als präzise Charakterstudie eines Soziopathen überzeugen können. Bei Loreth Anne White pilchert es aber im Schlussteil eher als dass sich da die Abgründe etwa in der Psyche eines Soziopathen auftun würden.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Patient’s Secret
  • Herausgeber: Amazon Publishing Deutschland
  • Erscheinungsdatum: 9. Mai 2023
  • Seitenzahl: 447
  • ISBN-10: 2496713673
  • ISBN-13:  978-2496713671
  • Preis: 9,99 €

 

22 Juli 2023: Wie zehn Vögel die Welt veränderten von Stephen Moss


Abwechslungsreich gehaltenes Sachbuch, das eine große Bandbreite an Themen abdeckt

 

Die zehn Vögel, die die Welt veränderten, sind für Stephen Moss der Kolkrabe, der Guanokormoran, der Schmuckreiher, der Weißkopfseeadler, der Feldsperling, der Kaiserpinguin, der Truthahn, der bereits ausgestorbene Dodo, die Darwinfinken, die nicht einen einzigen Vogel, sondern eine Sammlung von 14-16 verschiedenen Vogelarten darstellen, sowie die Haustaube als der Vogel, den ich am wenigsten in diesem Buch zu finden erwartet hatte. Jedes Kapitel wird von einer schön illustrierten Zeichnung des Vogels, der darin behandelt wird, eingeleitet. Die Beschreibung des jeweiligen Vogels ist recht ausführlich geraten, ohne dabei jedoch Längen für mich zu haben. Dazu trägt auch der gut lesbare Schreibstil des Autors bei, der von zum wiedergegebenen Inhalt passenden Zitaten ergänzt wird, indem diese in stimmiger Weise eingebunden sind. Die einzelnen Kapitel sind abwechslungsreich ausgefallen, da neben dem speziellen Schwerpunkt, den sie setzen (u.a. zur mythologischen Bedeutung und deren Einfluss auf die Literaturgeschichte, zum heldenhaften Einsatz in verschiedenen Kriegen, zur Evolutionstheorie und -biologie), eine große Bandbreite weiterer Themen angeschnitten wird.

 

Schwerpunkt Mythen am Beispiel des Kolkraben
Beispielsweise steht beim Kolkraben dessen Auftreten in Mythen im Mittelpunkt. Das beginnt bei den berühmten Odin Raben Hugin (“Gedanke”) und Munin (“Gedächtnis” oder “Geist”), denen der Gott den Beinamen Ravneguden (“Rabengott”) verdankt, reicht über den Raben als Schöpfer der Erde und des Universums, als den ihn die indigenen, im Pazifischen Westen Nordamerikas angesiedelten Völker angesehen haben, bis hin zu seiner Rolle als Trickster, in der er im russischen Kamtschatka wahrgenommen wurde. Die mythologischen Anfänge, die den Ursprung des Bildes vom Raben markieren, unterlegt Stephen Moss mit begründeten Spekulationen vom Zusammenleben des Menschen mit dem Raben, das einst vor dem Übergang vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern vor rund 10.000 Jahren symbiotisch gewesen ist.

 

Zum Auftreten des Raben in der Literaturgeschichte bis hin zu Film und Fernsehen
Im Anschluss daran zitiert sich der Autor einmal quer durch die literarische Welt. Dazu hätte ein chronologisches Vorgehen entlang der literarischen Zeitachse, bis die Gegenwart in Gestalt der Popkultur erreicht wird, besser als die sprunghafte Erzählweise gepasst. Denn eine systematische Behandlung hätte dieses Kapitel übersichtlicher ausfallen lassen. Dabei erwähnt Stephen Moss etwa die Rolle, in der Shakespeare den Raben Leitmotiv-artig in verschiedenen Stücken auftreten lässt, den Raben Grip, den sich Charles Dickens als Haustier hielt und in seinem Roman Barnaby Rudge verewigt hat, sowie das bekannte Gedicht von Edgar Allen Poe, das um einen Raben kreist. Diese Klassiker der literarischen Welt werden mit aktuelleren Werken verknüpft, indem deren Einfluss auf den Hobbit von J. R. R. Tolkien, das Lied von Eis und Feuer von George R. R. Martin, Disney-Filme und eine Halloween-Folge der Simpsons wiedergegeben wird.
Weitere Themen, die im Kapitel des Kolkraben angeschnitten werden, betreffen u.a. eine allgemeine Beschreibung dieses Vogels, dessen Unterscheidung von dem ihrem Äußeren nach ähnlich aussehenden Krähen, seine Intelligenz sowie dessen unabhängiges Verhalten, das wohl seine Vermenschlichung begründet und ihn von der Taube etwa in der Geschichte von der Arche Noah abgrenzt.

 

Unerwartetes Wissen über die Haustaube zur Ehrenrettung dieses sonst so geächteten Vogels
Von den zehn Vögeln, die die Welt veränderten, hat mich die sonst so geächtete Haustaube, der Stephen Moss eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, am meisten überrascht. Der thematische Schwerpunkt liegt dabei auf deren heldenhaftem Einsatz in verschiedenen Kriegen, zu denen u.a. der Napoleonische Krieg Anfang des 19. Jahrhunderts sowie der erste und zweite Weltkrieg zählen. In diesen hat die Taube sogar Menschenleben gerettet, wenn sie als Bote Nachrichten überbracht hat. Ein Beispiel dafür ist Cher Ami, die das Überleben des Lost Bataillon sicherte. Deswegen hat sie von der französischen Regierung das Croix de Guerre mit Palmzweig erhalten und ist nun im National Museum of American History in Washington ausgestellt. Auch die Crew eines Flugzeugs, das nach dem Einsatz zu einer Notlandung im Wasser gezwungen war, verdankt Winkie ihr Leben, als dieser Vogel zweihundert Kilometer weit nach Hause geflogen ist, obwohl er von Salzwasser und Öl durchtränkt war. Zudem entkräftet der Autor die meisten Behauptungen, die heutzutage angeführt werden, um die Vertreibung und Ausrottung von Tauben in den Städten zu rechtfertigen.

 

Auseinandersetzung mit Legenden, die sich um die Darwinfinken ranken
Ebenfalls räumt Stephen Moss im Kapitel der Darwinfinken mit der Legende auf, dass Darwin seine Erkenntnisse zur Evolutionstheorie quasi als blitzartige Eingebung auf seiner Reise zu den Galapagos-Inseln hatte, während er die dort heimischen Finkenarten studierte. Denn sein Werk zur Evolutionstheorie hat Darwin erst ein Vierteljahrhundert später verfasst. Auch finden sich diese Finken in den Einträgen seiner Reisetagebücher kaum erwähnt. Andere Tiere hatten ihn da weit mehr interessiert. In diesem Kapitel geht der Autor dem Ursprung der Legende um die Darwinfinken auf den Grund und legt eine Zeitachse an, die deren erstes Auftreten und die daraus resultierende, immer weiter um sich greifende Verbreitung illustriert. Dieser werden dann die Biologen gegenübergestellt, denen schließlich der Nachweis für die Bedeutung der sog. Darwinfinken auf die Evolutionsbiologie gelungen ist. Dazu zählen Hobby-Ornithologe und Vater der Evolutionsökologie David Lack, der im zweiten Weltkrieg zu den Galapagos-Inseln gereist ist, sowie das Biologen-Ehepaar Peter und Rosemary Grant, die in einer Langzeit-Feldstudie auf Daphne Major das sprunghafte Voranschreiten des Prozesses der adaptiven Radiation (d.h. der Diversifizierung einer Vorgängerart in verschiedene ökologische Nischen) beobachten konnten.

 

Detaillierte Anhänge und Anregungen zur Verbesserung dieses interessanten Sachbuchs
Abgerundet wird "Wie zehn Vögel die Welt veränderten" von einer ausführlichen Liste, die Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln enthält, sowie einem detaillierten Literaturverzeichnis. Dabei haben mir aber Übersichten etwa in Form von Steckbriefen gefehlt, die ich im Anschluss an die Lektüre dieses Sachbuchs zum Nachschlagen hätte verwenden können. Zumindest für die zehn Vögel, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, hätte ich dies als sinnvoll erachtet. Gewünscht hätte ich mir dies aber auch für die vielen, zusätzlich auftauchenden Vögel wie beispielsweise den Rotmilan, die Saatkrähe, den Wanderfalken oder die Spottdrossel, die vom Autor oft nur nebenher erwähnt werden. Solche Steckbriefe hätten neben der wissenschaftlichen Bezeichnung des Vogels bestehend aus Gattung und Art Informationen zu seinem Aussehen (u.a. zu seiner Größe und Flügelspannbreite), seinem Verbreitungsgebiet, seinem Verhalten und dessen Abgrenzung zu anderen verwandten Arten, mit denen er sich leicht verwechseln ließe, umfassen können.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Ten Birds That Changed the World
  • Herausgeber: Gräfe und Unzer
  • Erscheinungsdatum: 4. Mai 2023
  • Seitenzahl: 320
  • ISBN-10: 3833891815
  • ISBN-13: 978-3833891816
  • Preis: 24 €

 

16. Juli 2023: Unwesen von John Ajvide Lindqvist

 

Intensiv erzähltes Coming-of-Age Drama mit Mystery-Elementen und schwachem Schluss

 

Die Freunde Johan und Max erklimmen an dessen rostigen Sprossen das verlassene Silo in Norrtälje und werden dabei von einer improvisierten Bergsteigerausrüstung unterstützt, da sie sich nicht sicher sind, ob jede der Sprossen sie tragen wird. Oben angekommen hat Max eine schreckliche Vision der Zukunft. Er sieht einen Samhall-Bus ins Schlingern geraten, als dessen Fahrer die Kontrolle über das Fahrzeug verliert, weil er mit zu hoher Geschwindigkeit fährt und abgelenkt ist. Zeitgleich stößt ein Mann, indem er sich an einer Frau mit ihrem Kinderwagen vorbei schiebt, den Wagen an, ohne dass das von der Mutter bemerkt wird. Und der Wagen mit dem Baby darin rollt los, die Treppe hinab und direkt auf den Bus zu.

 

Beschreibung zentraler Figuren in jungen Jahren im Prolog
Im vorangestellten Prolog, der zeitlich Ende September 2002 angesiedelt ist, sind die Freunde Johan und Max sowie die darin ebenfalls eine Rolle spielende Siw erst dreizehn Jahre alt. Johan und Max sind zwar beste Freunde seit der ersten Klasse, stammen aber aus ungleichen Verhältnissen. Johan lebt mit seiner sich an schlechten Tagen in ihren Wahnvorstellungen verlierenden Mutter, die er deswegen ständig im Auge behalten muss, in einer verwahrlosten Sozialwohnung. Da Johan kein Taschengeld bekommt, klingelt er an Türen und gibt sich als Pfadfinder aus, um Pfandflaschen zu erbetteln. Nur von dem erlogenen Geld kann er sich eine Konsole und die Spiele dafür leisten.
Der Vater von Max dagegen hat sich hochgearbeitet und gehört nun zu den zwanzig reichsten Einwohnern von Norrtälje. Der selbstbewusste Max, der von seinem Vater die Fähigkeit geerbt hat, seine Emotionen nicht zu zeigen, hat Johan zu der Herausforderung überredet, das Silo zu erklettern. Nur Johan weiß von den Visionen, die Max heimsuchen und die von außen betrachtet eher an einen epileptischen Anfall erinnern. Dabei durchlebt Max einen schlimmen Todesfall, von dem er dann am nächsten Tag von seinen Eltern hören oder in der Zeitung lesen muss. Begonnen hat das mit dem furchtbaren Unglück, als sich im Dorf Björnö ein erst sechs Jahre altes Kind im Futtermischer versteckt hat und sein Vater, ohne das zu wissen, die Maschine gestartet hat.

 

Auf den Prolog folgt ein Zeitsprung ...
Nach dem Prolog gibt es einen Zeitsprung von über einem Jahrzehnt. Siw, Max und Johan sind nun knapp dreißig Jahre alte Erwachsene. Aus Siw, die als Kind einen ungewöhnlichen Kleidungsstil gepflegt und in den Pausen vom Schulunterricht vorzugsweise intellektuelle, schwer verständliche Romane gelesen hat, ist eine übergewichtige Frau geworden, die an der Kasse im Lebensmittelmarkt arbeitet. Ihre Freizeit verbringt sie mit ihrer eigenwilligen Tochter Alva und ihrer einzigen Freundin Anna.

 

Von ruhiger Erzählweise geprägtes, intensives Coming-of-Age-Drama
Auch nach diesem Zeitsprung lässt John Ajvide Lindqvist wiederholt Episoden aus der Vergangenheit von Siw, Max und Johan in gekonnter Weise mit einfließen, so dass mich Unwesen ähnlich dem Roman “So finster die Nacht” als intensiv erzähltes Coming-of-Age-Drama überzeugt hat. Die verschiedenen Charaktere und deren Entwicklung, die nach und nach enthüllt wird, sind dabei gut herausgearbeitet. Das schließt neben Siw, Max und Johan die toughe, aus einer Verbrecherfamilie stammende Anna und Marko, der sich als bosnischer Flüchtling in der Schule mit Johan und Max anfreundet, bevor er dem Ehrgeiz verfällt, mit ein.
Der Roman ist von der ruhigen Erzählweise von John Ajvide Lindqvist geprägt, die sich Zeit in der Vorstellung seiner Figuren lässt und mir die Gelegenheit gab, diese näher kennenzulernen, so dass ich mich besser auf diese einlassen konnte. Dabei ist die Tragik in ihrem Leben, die in den traumatischen Erlebnissen ihrer Vergangenheit verankert ist und sich auf die Gegenwart etwa in Gestalt von unterdrückten Wutausbrüchen auswirkt, für mich nachvollziehbar geworden.

 

Mystery-Elemente, brutaler Todesfälle und besondere Gaben

Der als Charakterstudie angelegte Einstieg von Unwesen erhält einen besonderen Touch durch die Mystery-Elemente, die der Autor von Beginn an in die Handlung integriert. Diese bestehen zunächst in der Vorsehung brutaler Todesfälle. Und wenn da ein Kind im Futtermischer stirbt oder der Kopf eines Babys vom Bus überrollt wird, sind diese zwar seltenen, doch dafür umso blutigeren Gewaltspitzen weniger gut für zu Zartbesaitete geeignet. Insgesamt besteht in der ersten Hälfte des Romans, bevor der mysteriöse Container im Hafenareal auftaucht und geöffnet wird, der Horror eher im Schrecken des Krieges, vor dem Markos Familie geflohen ist, im verzweifelten Zusammenbruch des keine zehn Jahre alten Johans, der überfordert ist, nachdem seine Mutter deren Wohnung im Winter in eine Sauna verwandelt und sich selbst verletzt hat, oder in einer abstoßenden Vergewaltigung, die dem Opfer die herrschenden, den Täter schützenden Machtverhältnisse deutlich vor Augen führt.

 

Nerdiger Humor trifft auf grausame Szenen des sich schleichend ausbreitenden Bösen
Indem sich John Ajvide Lindqvist dabei Zeit lässt, die durch den Container ausgelösten Veränderungen zu beschreiben, breitet sich das Böse schleichend in Norrtälje aus. Das bleibt zunächst ein wenig greifbarer Schrecken, der dann immer mehr Gestalt annimmt, als die Todesrate steigt, wenn Selbstmorde und grundlose erscheinende, aus dem nichts kommende Attacken, deren Gewalt aus dem Ruder läuft, zunehmen. Erträglich werden die grausamen Szenen durch den oft nerdlastigen Humor, den der Autor immer wieder mit einfließen lässt, und die sich entwickelnde Liebesgeschichte, in deren Mittelpunkt die Pokemon-Go Gruppe Roslagen steht.

 

Stärken und Schwächen in der weiteren Entwicklung des ersten Teils Entei
Der erste Teil Entei hat mich mit seiner abwechslungsreichen Erzählweise überzeugt, die die gegenwärtigen, um den Container kreisenden Ereignisse mit dem Leid derer, die darin gefangen gewesen sind, mit der Siw, Anna, Johan, Max und Marko belastenden Vergangenheit, und mit Momentaufnahmen, die die durch losgelassene Grauen in Norrtälje umschlagenden Stimmung illustrieren, kombiniert. Nach dem starken Entei fällt das darauf folgende Suicune deutlich ab. Da haben sich für mich schon zu dessen Beginn Längen eingeschlichen, die teilweise in unnötigen Wiederholungen begründet lagen wie etwa des letzten Abschnitts aus dem von Johan verfassten Buch. Auch scheint die Handlung auf der Stelle zu treten, wenn die vom Autor in Entei immer weiter angezogenen Spannungsschrauben, als ein Selbstmord, brutaler Angriff oder Mordversuch auf den nächsten folgte, wieder gelockert werden.

 

Kleine Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge für den zweiten Teil Suicune
Suicune wäre stärker ausgefallen, wenn darin die in Entei begonnenen Entwicklungen in konsequenter Weise fortgeführt worden wären. So hätte ich etwa erwartet, dass die in Entei eindringlich geschilderten Schrecken, die Markos Vater Goran im Krieg erlebt hat, Johans tief verwurzelter Hass, der im Umgang der Kommunalverwaltung mit seiner an Wahnvorstellungen leidenden Mutter begründet liegt, und Markos Groll, der in einer demütigenden Begegnung bei einem von Max eingefädelten Treffen mit dessen Vater Göran geweckt wurde und seitdem sein Dasein bestimmt, in Suicune eine größere Rolle spielen würden. Denn diese überzeugenden Elemente hätten durch das in Norrtälje angekommene Unwesen derart forciert werden können, dass diese beinahe schmerzhafte Intensität gewonnen hätten. Stattdessen hat sich John Ajvide Lindqvist in neu eingeführten Handlungssträngen verstrickt, die nicht an die Qualität von denen in Entei heranreichen und im Vergleich dazu blass geblieben sind. Auch zeigt der Autor Schwächen in seinen Massen-Szenen, die eigentlich ein Norrtälje, das auf den gähnenden Abgrund zusteuert, wenn sich der um sich greifende Wahnsinn in Gewalt und Aggression entlädt und die ganze Stadt in Chaos versinkt, vor meinem inneren Auge hätten lebendig werden lassen sollen.

 

Mein Fazit zum Schluss
Besser sind dem Autor die Kammerspiel-artigen Teile seiner Geschichte gelungen, die sich auf die jeweiligen persönlichen Konstellationen konzentrieren und nur die daran beteiligten Personen in den Mittelpunkt stellen. So wäre dieser Roman für mich stärker ausgefallen, wenn der Autor das Norrtälje beherrschende Grauen ganz auf Ebene seiner gut ausgearbeiteten Figuren und deren Beziehungen untereinander beschrieben hätte. Zudem hat mich das gefällige Ende, bei dem sich plötzlich alles in Wohlgefallen auflöst, nicht vollends überzeugt. Denn dabei sind Fragen für mich offen geblieben, die die Geschichte des Unwesens, das Norrtälje heimgesucht hat, betreffen. Dazu hätte ich mir mehr Informationen gewünscht. Auch scheint mir die Erklärung, die sich auf die besonderen Fähigkeiten von Max, Siw und deren Familie bezieht, nicht gänzlich schlüssig zu sein. Insgesamt hätte ich mir eher einen Schluss wie den von "So finster die Nacht" gewünscht, der in konsequenter Weise die darin erzählte Geschichte abgerundet und dessen ambivalente Note Raum für die sie dadurch eröffnenden Abgründe gelassen hat.

 

3,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Vänligheten
  • Herausgeber:  dtv Verlagsgesellschaft
  • Erscheinungsdatum: 18. Mai 2023
  • Seitenzahl: 768
  • ISBN-10: 3423283386
  • ISBN-13: 978-3423283380
  • Preis: 26 €

 

8. Juli 2023: Nex von Emma Berquist

 

Crime-Story in phantastischem Setting um eine brutale Mordserie auf der düsteren Seite von L.A.

 

Lexi arbeitet als Barkeeperin im Nex, dem Club von Urie Porchowsky. Davor zieht sich eine lange Schlange Abend für Abend um den Block, da wegen der besonderen, in die Drinks gemixten Zutaten, die von Hexen hergestellt wurden, jeder, der davon trinkt, bessere Laune bekommt, unbeschwerter wird und weniger Schmerzen vom ausgelassenen Tanzen hat. Als Lexi eines Nachts den Club betritt, stößt sie mit der erst achtzehn Jahre alten, bildhübschen Highschool-Schülerin Jane Morris zusammen und sieht dabei deren brutal aufgeschlitzte Kehle, die sie bei ihrer anstehenden, blutigen Ermordung davon tragen wird. Doch trotz ihres Wissens darum schweigt Lexi und so nimmt das Drama seinen Lauf.

 

Zum phantastischen Setting dieser in L.A. angesiedelten Crime-Story
Alexandra Iwanowitsch, die von allen Lexi genannt wird, ist die Protagonistin in diesem Roman von Emma Berquist, in dessen Mittelpunkt ebenfalls der Club Nex steht. Sein Besitzer Urie hat eine eingeschworene Gemeinschaft magisch Begabter um sich geschart, die aus Heilern und Hellsehern, Zauberern und Hexen besteht. Einige Mitglieder haben ausgefallene Fähigkeiten wie beispielsweise Theo, der Tätowierungen zu stechen vermag, die Zauber für Stärke und Gesundheit darstellen oder Lokalisierungen ermöglichen. Der Pyrokinetiker Urie sorgt für den Schutz der magisch Begabten, sofern sie bereit sind, sich strikt an seine fest vorgegebenen Regeln zu halten. Die wichtigste davon lautet, niemals Außenstehenden gegenüber die Gemeinschaft preiszugeben.

 

Zur Charakterisierung von Protagonistin Alexandra Iwanowitsch, genannt Lexi
Lexi, die früh ihre Mutter verloren hat, meidet zwanghaft andere Menschen und ist aus diesem Grund ohne Abschluss von der Highschool abgegangen. Sie ist eine ungewöhnliche Hauptfigur. Das beginnt bei ihrem Look, der aus ihren kurz geschorenen Haaren und einem dunklen Hoodie besteht, auch wenn es dafür viel zu warm ist, so dass sie auf den ersten Blick als Junge durchgehen kann, reicht über ihre Gewohnheit, sich freiwillig für drei Tage in die geschlossene Psychiatrie einweisen zu lassen, damit sie dort Ruhe findet, bis hin zu der besonderen Fähigkeit, die sie von ihrem Großvater Deda geerbt hat. Indem Lexi einen beliebigen Menschen berührt, erlangt sie das Wissen darüber, wann und wie er sterben wird. Mit Toten kann sie kommunizieren, da sie deren Geister nicht nur zu sehen, sondern sogar zu berühren und mit Hilfe ihrer Magie auf die andere Seite zu schieben vermag.
Nur selten darf eine Protagonistin derart kaputt wie Lexi sein, die in einem dreckigen Apartment in einem schäbigen Wohnkomplex haust und sich nicht einmal einen Computer von ihrem Gehalt als Barkeeperin leisten kann. Sie lebt in dem abgründigen Teil von Los Angeles, an den Träume kommen, um zu sterben, und wo hinter Yoga, Smoothies und dem so idyllisch erscheinenden Strand nur Verzweiflung lauert. Das hat mich an die düstere Seite von L.A. erinnert, wie sie in den Harry Bosch-Büchern von Michael Connelly beschrieben wird.

 

Zur Crime-Story, die im Mittelpunkt dieses Romans steht
Obwohl “Nex – Die letzte Nacht” in einem phantastischen Setting angesiedelt ist, fällt der Roman eher als Krimi mit Mystery-Elementen aus. Das liegt darin begründet, dass Emma Berquist Lexis Suche nach dem Mörder von Jane und anderen Opfern in dessen Fokus rückt. Dabei ist Lexis Motivation ihr schlechtes Gewissen, weil sie Janes Tod nicht verhindern konnte. Unterstützt wird sie von Urie und seinen Leuten, die sich jedoch erst für die Vermissten Fälle interessieren, als einer der spurlos Verschwundenen ein magisch Begabter ist.
Obwohl die Handlung im Mittelteil dieses Buchs lange Zeit auf der Stelle tritt, da weder Lexi noch die Polizei in ihren Ermittlungen Fortschritte erzielen, wenn sich keine Hinweise auf den Täter finden lassen, habe ich mich gut unterhalten gefühlt. Das Spannungslevel hätte jedoch höher ausfallen können. Dazu hätte die Autorin falsche Fährten in ihrem Krimi auslegen sollen, wenn Lexi auf verschiedene Verdächtige in dieser brutalen Mordserie gestoßen wäre. Dafür ist der Überraschungseffekt zum Schluss für mich umso größer gewesen, indem ich den dann enthüllten Täter nicht habe kommen sehen. Nur hätte ich mir weitere Informationen zum Hintergrund des Mörders und seinem Motiv, das ich in der vorliegenden Form als nicht gänzlich schlüssig angesehen habe, gewünscht, um diesen besser verstehen zu können.

 

Interessante Kombination von Genres durch Lexis Wohnsituation als WG mit Geist
Einen besonderen Touch erhält die in diesem Roman erzählte Crime-Story neben deren phantastischen Setting durch die Kombination mit ungewöhnlichen Elementen. Als gelungen habe ich Lexis Wohnsituation empfunden, die eine WG mit Geist darstellt, da ihr Mitbewohner Trevor Jahrzehnte zuvor bei einem Autounfall gestorben ist. Denn der fast Sitcom-artige Humor in diesen Szenen bildet einen angenehmen Kontrast zu der sonst düsteren Grundstimmung dieses Romans und lockert diese ein wenig auf. Dagegen ist der Handlungsstrang, der um mehr als eine Liebesgeschichte kreist, schwächer ausgefallen. Dieser ist mir in seinem Hin- und Her, das dadurch bedingt ist, dass zwar einer der daran Beteiligten in den anderen verliebt ist, der wiederum aber über seine Gefühle im Unklaren bleibt, zu stereotyp geraten. Das Drama, das in einer erfolgten Zurückweisung, die wieder zurück genommen und letztlich in der Schwebe gehalten wird, begründet liegt, ist für mich nicht greifbar geworden, sondern blass geblieben. Im Gegensatz dazu hat die Autorin in der eindringlichen Schilderung der Tragik um die besondere Gabe, mit der Lexi gesegnet oder doch verflucht ist, Intensität erzeugt.

 

Ungewöhnliche Erzählweise durch Anreicherung um wissenschaftliche Beschreibungen
Ihren flüssigen Schreibstil reichert Emma Berquist um wissenschaftliche Beschreibungen an, die auf dem Interesse ihrer Protagonistin für Molekular- und Moderne Biologie basieren. Mit diesen in Lexis Gedankengängen eingebundenen Vergleichen, die sie Situationen spontan mit der Atemfrequenz eines Erwachsenen im Ruhezustand, der Anzahl der Atemzüge pro Minute, der Knochen eines Babys oder eines Erwachsenen assoziieren lässt, versucht die Autorin ihrer Erzählweise einen eigenwilligen Touch zu verleihen. Diese Ausführungen fügen sich aber nicht gut in den Rest des Romans ein, indem sie zu konstruiert wirken. Als passender hätte ich statt der biologisch physikalischen Erklärungen, in denen Lexi sich mit ihrer Fähigkeit auseinandersetzt, Dedas Erläuterungen empfunden, die eher mythisch angehaucht sind. So hätte ich mir gewünscht, dass sich Emma Berquist anstelle des wissenschaftlichen Ansatzes, den sie verfolgt hat, auf die zu Beginn nur kurz angerissenen Geschichten, die Deda und Lexi als Nachfahren Rasputins oder als von der Baba Jaga Verfluchte ansehen, im weiteren Verlauf ihres Romans konzentriert hätte.

3,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Missing, Presumed Dead
  • Herausgeber: dtv
  • Erscheinungsdatum: 18. Mai 2023
  • Seitenzahl: 336
  • ISBN-10: 3423740949
  • ISBN-13:  978-3423740944
  • Preis: 15,95€

 

2. Juli 2023: Oh, William! von Elizabeth Strout


Ruhig erzählter Roman über lang verborgene Familiengeheimnisse, die ans Licht kommen

Inhalt: William Gerhardt, der bald siebzig wird, ist in dritter Ehe mit der weit jüngeren Estelle verheiratet. Die kleine Bridget ist ihre gemeinsame Tochter, mit der sie zusammen in ihrer kostspieligen, überbordend eingerichteten Wohnung in New York residieren. William, der sich mit seinen morgendlichen Übungen und den zehntausenden Schritten, die er jeden Tag geht, fit hält, wird seit kurzem nachts von für ihn unerklärlichen Ängsten überfallen, die ihn am Schlafen hindern. Diese kreisen um seine verstorbenen Eltern und die Furcht vor seinem eigenen Tod. Doch die beiden einschneidende Erlebnisse, die sein in geordneten Bahnen verlaufendes Leben tiefgreifend verändern werden, stehen ihm noch bevor.

Protagonistin Lucy Barton, Schriftstellerin und Williams erste Frau
Pulitzerpreisträgerin Elizabeth Strout schildert “Oh, William!” aus Sicht von Williams erster Ehefrau, der Schriftstellerin Lucy Barton. Dieses Buch hat für mich die erste Begegnung mit der genannten Figur dargestellt, die die Autorin bereits in anderen ihrer Romane - wie beispielsweise in "Die Unvollkommenheit der Liebe" - hat auftreten lassen. Dabei wurden relevante Informationen, die bereits in anderen Werken wiedergegeben wurden, in “Oh, William!” nebenher erwähnt, so dass ich leicht den Gedankengängen der Protagonistin folgen konnte.
Lucy betrauert noch den Verlust ihres zweiten Ehemanns, des Cellisten David, dem sie wegen der ähnlichen Verhältnisse, in denen sie abgeschottet von der Außenwelt aufgewachsen sind, verbunden gewesen ist. Die als unsicher charakterisierte Lucy ist von der von William ausgestrahlten Autorität angezogen worden, die ihr ein Gefühl der Sicherheit vermittelt hat. Denn die immer wieder von Ängsten geplagte Lucy leidet an den Folgen ihrer traumatischen Kindheit, die eine PTBS nach sich gezogen hat. Ihre beiden Töchter Chrissy, die als Juristin mit einem Banker verheiratet ist, und Becka, deren Mann Dichter ist, sind für sie neben ihrem Schriftstellerdasein mit das Wichtigste in ihrem Leben.

Zu Lucys ersten Mann William und seiner Mutter Catherine
Lucy ist William in ihrem zweiten Studienjahr am College in Chicago begegnet, der als Doktorand ihren Biologiekurs betreut hat. Auch mit seinen bald siebzig Jahren sucht er, der Dozent für Mikrobiologie an der New York University gewesen ist, noch jeden Tag sein Labor auf, um sich der Forschung in seinem Fachgebiet der Parasitologie zu widmen. William, der in seiner distanzierten Art oft recht verschlossen wirkt, kann schlecht mit Lucys Unsicherheit umgehen, wenn er nichts mit ihren von Ängsten geprägten Zuständen anzufangen weiß. Selbst belastet ihn die Vergangenheit seines Großvaters, von dem er ein am Krieg verdientes Vermögen geerbt hat, und seines Vaters Wilhelm Gerhardt, der auf Seiten der Deutschen im zweiten Weltkrieg gekämpft hat. Seine Mutter Catherine, die die Frau des Kartoffelfarmers Clyde Task gewesen ist, hat Wilhelm kennengelernt, als er nach seiner Gefangennahme im Schützengraben auf den Feldern im ländlichen Maine arbeiten musste.
Den Mittelpunkt von “Oh, William!” bildet jedoch weniger die Titelgebende Figur, sondern vielmehr dessen Mutter Catherine. Lucy hat ihre Schwiegermutter stets als elegante Dame wahrgenommen, die ihre Zeit mit Golf spielen und auf exklusiven Reisen verbracht hat. Ihren Wohlstand verdankte Catherine der Lebensversicherung ihres früh verstorbenen zweiten Ehemanns Wilhelm und ihrem Geschick als Maklerin für hochpreisige Immobilien. Obwohl Catherine ihre Schwiegertochter in ihrem Bekanntenkreis als “Das ist Lucy, sie war früher gar niemand." vorgestellt hat, hat Lucy sie als freundlich empfunden - abgesehen von ihren letzten Tagen, in denen sie sie im Nebel ihrer Schmerzen und von Morphium berauscht aufs Übelste beschimpft hat. Lediglich daran dass Lucy sich selbst nie ihre Kleidung aussuchen durfte, da sie von Catherine mit einer neuen Garderobe ausgestattet worden ist, die dabei ihre alten Sachen entsorgt hat, hat sie sich gestört.

Lang verborgene Familiengeheimnisse im ländlichen Maine
Im weiteren Verlauf dieses Romans werden für Lucy und ihren Mann William unerwartete Seiten in Catherines Leben enthüllt, wenn lang verborgene Geheimnisse aufgedeckt werden, die sie ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter gegenüber mit keinem Wort erwähnt hat. So werden die eingangs eingeführten Figuren nach und nach um neue Wesenszüge erweitert, die sich erstaunlich gut zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen, obgleich diese eher konträr zur bisher entworfenen Charakterisierung zu verlaufen scheinen.
Ein Highlight dieses Romans ist für mich dessen zweiter zentraler Schauplatz der Handlung gewesen. Dieser ist im ländlichen Maine angesiedelt, das von der selbst von dort stammenden Elizabeth Strout in atmosphärischen Beschreibungen eingefangen wird. Da hat die Autorin in gelungenen Bildern einen besonderen Roadtrip, den Lucy an der Seite von ihrem Ex-Mann William unternimmt, vor meinem inneren Auge lebendig werden lassen. Dieser beginnt mit ihrer Ankunft am kleinen Flughafen, der Lucy in seiner Weitläufigkeit als ehemaliger Armeestützpunkt, die im Kontrast zu dessen Leere steht, irritiert, setzt sich in idyllischen, aus der Zeit gefallenen Kleinstädten fort und reicht über heruntergekommene Motels bis hin zu verlassenen Ortschaften, überwucherten Straßen und zugewachsenen Häusern, die eher einem Horrorfilm entsprungen zu sein scheinen.

Kleine Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Die einfach gehaltene Handlung, die den Kern dieses Romans bildet, wird durch die kunstfertige Erzählweise von Elizabeth Strout kaschiert. Denn Lucy springt in ihren Gedankengängen von der Gegenwart in die Vergangenheit, wenn das Hier und Jetzt Assoziationen an frühere Ereignisse in ihr weckt. So erinnert sie sich an Bestrafungen durch ihre Mutter in ihrer Kindheit wie das Auswaschen ihres Mundes mit Seife, ihre Ankunft im College, bei der sie von ihrer Lieblingslehrerin begleitet wurde und die eine unbändige Freude in ihr ausgelöst hat, an den Beginn sowie das Ende der Beziehung mit ihrem verstorbenen Mann David und natürlich auch an ihre Schwiegermutter Catherine. Dazu zählen deren Kennenlernen, bei dem sie von Catherine freundlich aufgenommen worden ist, deren erster gemeinsam verbrachter Urlaub auf den Kaimaninseln, der von ihrer Schwiegermutter organisiert worden ist, bis hin zu ihren letzten Wochen, während dessen Lucy bei ihr eingezogen ist, um sie zu pflegen. Durch die einerseits zwar geschickt erfolgende Einbindung der Vergangenheit konnte ich problemlos folgen, da ich stets den Überblick behalten habe. Andererseits ist die Gegenwart derart oft durch frühere Ereignisse unterbrochen worden, dass die im Hier und Jetzt angesiedelte Handlung wiederholt ins Stocken geraten ist.
Dabei hat Elizabeth Strout immer wieder starke Bilder gefunden, die sie in originelle Szenen umgesetzt hat. Diese umfassen etwa Lucys einzige Reise nach Maine für eine Lesung, zu der kein einziger Mensch erschienen ist, Lucys merkwürdige Erfahrung ihrer Besichtigung einer Kaserne draußen beim Flughafen, in der Williams Vater stationiert gewesen ist, sowie ein Licht, das nachts im Turm eines Museums gebrannt und Lucy in einer schwierigen Zeit in ihrem Leben Halt gegeben hat. Diese haben bei mir jedoch keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, indem diese zu rasch abgehandelt worden sind. Da hätte ich mir gewünscht, dass diesen von der Autorin der durch die ruhige Erzählweise bedingte Raum zugestanden worden wäre, damit das in diesem Roman enthaltene Drama seine Wirkung hätte entfalten können. Ohne an den meisten Stellen in die Tiefe zu gehen, habe ich "Oh, William!" als Potpourri empfunden, bei der jeder Erinnerung die Rolle eines Punktes in einem impressionistischen Gemälde zugekommen ist. Diese haben so zwar ein in sich stimmiges Gesamtbild ergeben, verblassten dagegen aber im Einzelnen, wenn sie nur für sich betrachtet ohne größere Bedeutung geblieben sind.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Oh William!
  • Herausgeber: btb Verlag
  • Erscheinungsdatum: 12. April 2023
  • Seitenzahl: 224
  • ISBN-10: 3442773202
  • ISBN-13: 978-3442773206
  • Preis: 12 €