Ungewöhnlich erzähltes Familienporträt um das Brüderchen
Inhalt: Mutter und Vater, die in einem Bergdorf in den Cevennen leben, haben bereits einen ältesten
Sohn und eine zweitgeborene Tochter, als sie ein weiteres Kind bekommen. Bei der Geburt des Babys sind alle glücklich und das jüngste Mitglied der Familie wird innig geliebt. Doch allmählich
schleicht sich der Verdacht ein, dass das Kind blind ist. Sich daran anschließende Untersuchungen übertreffen die schlimmsten Befürchtungen. Denn das Brüderchen kann nicht sehen, nicht sprechen
und nicht greifen. Nur hören kann es. Mit dieser Diagnose bricht die Welt der Eltern zusammen und das Drama nimmt seinen Lauf.
Grundlegender Aufbau des Romans und Perspektive der Erzählung
Brüderchen von Clara Dupont-Monod ist in drei Teile gegliedert ("Der große Bruder", "Die Schwester", "Der Nachgeborene"), die von den Geschwistern des Kindes und deren Beziehung zu ihm erzählen.
Ungewöhnlich ist die Perspektive, aus der die Geschichte dieser Familie geschildert wird. Denn das ist die Sichtweise der rötlichen Steine im Hof, die das Drama der Familie miterleben. Dabei
stehen die Steine stets auf der Seite der Kinder, weil sie die einzigen sind, die mit ihnen spielen, wenn sie den Steinen Namen geben, sie bunt anmalen oder zu neuen Gebilden übereinander
schichten.
Der älteste Sohn und sein Umgang mit dem Brüderchen
Während die Eltern damit befasst sind nicht zusammenzubrechen und den unerbittlichen Kampf gegen die Tretmühlen der Bürokratie anzutreten, da die Hilfe, die sie für ihr behindertes Kind brauchen,
beantragt werden muss, kümmert sich der älteste Sohn um das Brüderchen. Er wechselt seine Windeln, füttert ihm Brei und schreibt Einkaufslisten mit allem, das benötigt wird. Auch bringt er das
Kind hinaus in die den Hof umgebenden Wiesen und Wälder, damit es deren Schönheit hören kann, und beschreibt ihm genau, was es nicht
sehen kann. Gerade vor dem Hintergrund der Natur etwa in Gestalt von rauschenden Stromschnellen und im Schatten der brüchigen Schieferberge findet Clara Dupont-Monod starke Bilder für die Art von
Frieden, die das in sich ruhende Kind hat, wenn ihm warm ist und es satt und trocken ist.
Das erste Drittel des Romans ist ein eindringliches Porträt der intensiven Beziehung des großen Bruders zu dem Kind, das so emotional berührend wie gelungen ausgefallen ist, da die Autorin auf zu
viel Pathos verzichtet und Klischees vermeidet. Das Brüderchen verändert den ältesten Sohn, der vor dessen Geburt der geborene Anführer gewesen ist. Es prägt sogar seine Sicht auf sein Umfeld und
insbesondere auf andere Menschen, wenn er die ablehnenden Reaktionen ihm fremder Personen auf sein behindertes Brüderchen miterleben muss und durch die Probleme seiner Eltern mit der
französischen Bürokratie ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Behörden entwickelt. Dass Clara Dupont-Monod dabei immer wieder zukünftige Ereignisse im Leben des großen Bruders mit einfließen
lässt, ist zwar kunstvoll umgesetzt. Damit hat die Autorin aber stellenweise zu viel für mich vorweg genommen, so dass mir eine rein chronologische Erzählweise besser gefallen
hätte.
Die große Schwester und ihre Sichtweise auf das Brüderchen
Nach dem großen Bruder wird die Beziehung seiner älteren Schwester zum Brüderchen geschildert. Interessant ist am Wechsel der Sichtweisen der Unterschied, der zwischen der Wahrnehmung von außen
und innen besteht und der dadurch von der Autorin hervorgehoben wird. Der älteste Sohn hatte sich gefreut, dass seine kleine Schwester trotz der Belastungen, denen die Familie ausgesetzt ist,
nicht ihre Lebensfreude verloren hat, obgleich er sie aufgrund der ihn voll und ganz in Anspruch nehmenden Pflege seines jüngeren Bruders nur wenig beachtet hat. Das steht im Kontrast zur
tatsächlichen Gefühlslage seiner Schwester, die zunächst weder Eltern noch Bruder, sondern nur den Steinen im Hof aufgefallen ist. Zudem reagieren seine beiden Geschwister grund verschieden auf
die Anwesenheit des Brüderchens. Während der älteste Sohn in seiner Rolle als großer Bruder aufgeht, lehnt die Schwester das Kind ab, das sie als abstoßend ansieht. Obwohl sie das Brüderchen
ignoriert und ihm aus dem Weg geht, wo sie kann, hat sie mit ihrer Wut zu kämpfen. Je älter sie wird, umso stärker rebelliert sie und weiß nicht, wohin mit ihrem Zorn und ihrer Aggression. Indem
sie fortwährend provoziert, fliegt sie von Schulen, prügelt sich und beginnt früh zu viel Alkohol zu trinken. Erst in der Beziehung zu ihrer Großmutter lebt sie wieder auf.
Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Da ich die ungewöhnlichen Ansätze, die Clara Dupont-Monod für Brüderchen gefunden hat, als interessant empfunden habe, hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin diese stringenter in ihrem Roman
umgesetzt hätte. Das beginnt beim grundlegenden Aufbau dieses Buchs und der Wahl der Perspektiven. Stärker wäre der Roman für mich ausgefallen, wenn dieses Familienporträt ausschließlich aus
Sicht der Steine im Hof erzählt worden wäre. Denn diese einzigartige Perspektive, die mich zu überraschen vermochte, hat diesem Buch einen besonderen Touch gegeben und zugleich verhindert, dass
die Handlung in ein gefühlsduseliges Drama abdriftet. Nur ist diese Sichtweise leider wenig konsequent von der Autorin verfolgt worden, indem sie dann doch oft in die Gedankengänge der
Geschwister gerutscht ist.
Auch ist es Clara Dupont-Monod nicht gelungen, die ungleichen Teile ihres Romans, die auf der einen Seite aus dem Kapitel des großen Bruders und der Schwester bestehen, auf der anderen Seite aber
aus dem zeitlich später angesiedelten Kapitel des Nachgeborenen, zu
einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen. Dabei sind der Autorin die bewegenden Drama-Teile, mit denen ihr Roman beginnt, weit stärker geraten als dessen gefälliges Ende. Denn als Familien-Drama,
das trotz seiner ruhigen Erzählweise zu polarisieren weiß, indem es keine einfachen Lösungen anbietet, wenn die Familie von einem nach dem nächsten, stoisch ertragenden Schicksalsschlag getroffen
wird, bis dann doch einer weinend zusammenbricht oder sich der lang unterdrückte Zorn in einem Gewaltausbruch Bahn bricht, hat dieser Roman eine fast schon unangenehme Intensität gewonnen, die in
eindrucksvollem Kontrast zu den Beschreibungen der den Hof umgebenden Natur steht. Eine solche Wirkung vermag Clara Dupont-Monod mit dem letzten Drittel ihres Romans um den Nachgeborenen nicht zu
erzielen, auf das sie entweder besser verzichtet hätte oder dem sie aufgrund der zu den bisherigen Ereignissen des Romans konträr verlaufenden Entwicklungen mehr Zeit und Raum hätte einräumen
müssen. Denn nur so hätte das von der Autorin gefundene Ende für mich ebenso nachvollziehbar werden können wie die zuvor erfolgende Einsicht in das Leben der großen Geschwister des
Brüderchens.
4,5 Sterne ****
Allgemeine Angaben zum Buch: