Rezensionen im Januar 2024

 

Das neue Jahr habe ich mit einem düsteren Psychothriller, der von den Abgründen des sonst so beschaulichen, wohlhabenden Oslo handelt ("Die den Schnee fürchten"), begonnen und mich von Susan Choi in ihrem ungewöhnlich erzählten Drama um eine berühmt berüchtigte Schauspielschule, das dabei eine sogartige Wirkung entfaltet, in seinen Bann ziehen lassen ("Vertrauensübung"). Und von Evelyn Skye habe ich mich auf den Pfad des Feuers führen lassen ("Damsel").

 

27. Januar 2024: Damsel von Evelyn Skye

17. Januar 2024: Die weite Wildnis von Lauren Groff

10. Januar 2024: Die den Schnee fürchten von H.S. Palladino 

3. Januar 2024: Vertrauensübung von Susan Choi 

 

27. Januar 2024: Damsel von Evelyn Skye

 

Ein an ein Märchen erinnernder Fantasy Roman um eine so starke wie ungewöhnliche Heldin

 

Zum Inhalt: Elodie begleitet ihren Vater, Lord Bayford, auf einem Ritt durch Inophe, bei dem er jeden seiner Pächter besucht, um seine Hilfe anzubieten, wenn diese benötigt wird. Denn das Land wird von einer bereits seit Jahrzehnten währenden Dürre geplagt. Da wird unerwartet ein Schiff am Horizont sichtbar, das aus dem Königreich Aurea stammt und mit Lieutenant Ravella als Gesandter an Bord am Hafen anlegt. Erst durch dessen Ankunft erfährt Elodie, dass von ihrem Vater hinter ihrem Rücken eine Verlobung mit Henry, der Prinz in diesem wohlhabenden Reich ist, arrangiert wurde. Denn diese Verbindung könnte durch die seitens Aurea zugesicherte Unterstützung die Not in Inophe lindern und dem vorherrschenden Hunger ein Ende setzen.

 

Aufwendige, detailverliebte Gestaltung durch den dekorativen Farbschnitt und mehr

Der Roman Damsel, der von Evelyn Skye primär aus Sicht von ihrer Hauptfigur Elodie geschildert wird, auch wenn in einzelnen Kapiteln zusätzlich der Blickwinkel anderer Frauen aus Gegenwart wie Vergangenheit mit eingebunden wird, ist in der vorliegenden Ausgabe in passender Weise gestaltet, die die erzählte Geschichte ergänzt. Das beginnt bei dem farbig gehaltenen Buchschnitt, in dem die Farben auf dem Cover aufgegriffen werden, und setzt sich in den verschnörkelt gestalteten Buchstaben eines jeden Kapitelbeginns fort.

 

Zur Charakterisierung von Hauptfigur Elodie

Mit Elodie hat Evelyn Skye eine ungewöhnliche Protagonistin für ihren Roman gefunden, die mir in ihrer speziellen Art aber gleich ans Herz gewachsen ist. Als sie erst zehn Jahre alt war, hat sie ihre Mutter verloren und bemüht sich seitdem, deren Pflichten an der Seite ihres Vaters zu erfüllen. Ein Beispiel dafür ist die Begleitung ihres Vaters auf dessen regelmäßig erfolgenden Rundritten durchs Land. Trotz Lady Lucinda Bayford, ihrer Stiefmutter, ist sie auch in die Mutterrolle für ihre sieben Jahre jüngere Schwester Floria hineingewachsen, die sogar ihre Leidenschaft für Rätsel teilt. So entwirft Elodie gern Irrgärten für Floria, indem sie Freude am Lösen derselben hat.

Elodie setzt sich mit Hingabe für die Belange der Einwohner von Inophe ein, denen sie zu helfen sucht, wo sie nur kann. Dabei ist sie sich nicht zu schade, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn sie etwa beim Hausbau unterstützt, indem sie die Latrinen ausgräbt. Da Elodie viele Freiheiten in ihrer Jugend genossen hat, hat sie ihren eigenen Kopf, ist darüber hinaus aber auch eine ausgezeichnete Reiterin, kann hervorragend auf Bäume klettern und anhand der Sterne mit Hilfe eines aus einer Haarnadel improvisierten Sextanten navigieren. Dass sie sich als Tochter des Herzogs bei öffentlichen Anlässen oft unbeholfen verhält, wenn sie durch ihre unbedacht geäußerten Ansichten von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt, hat sie für mich nur umso sympathischer werden lassen.

 

Liegt etwas im Argen im paradiesisch anmutenden Königreich Aurea?

Ein Wermutstropfen an der sonst so schön gestalteten Schmuckausgabe von Damsel ist leider sein Klappentext, der meiner Ansicht nach zu viel verrät. Gerade am ersten Drittel dieses Fantasy Romans, der durch seine märchenhaften Züge überzeugt, hat man meiner Ansicht nach umso mehr Spaß, je weniger man über dessen weiteren Verlauf weiß. Denn wenn die am Ende des Klappentextes enthüllten Informationen nicht bekannt sind, gelingt es Evelyn Skye erstaunlich lange in der Schwebe zu halten, was denn da eigentlich im Königreich Aurea vor sich geht. Als Elodie mit ihrer Familie einen Tag früher als geplant auf dieser einsam gelegenen Insel eintrifft, erwarten sie dort paradiesische Zustände. Von ihrer goldenen Kutsche aus, in der sie vom Hafen zum Schloss fährt, beobachtet sie Felder voller prächtigen Weizen, Bäume mit saftigen Silberbirnen, Ranken von Blutbeeren und kuschelige Schafe mit schwarzen Knopfaugen, die einem Bilderbuch entsprungen zu sein

scheinen. Bereits vor ihrer Hochzeit wird sie von der Königsfamilie mit Prunk und Luxus überhäuft, was in ihrem ganz in gold gehaltenen, im Turm gelegenen Zimmer im Schloss beginnt und bei prächtigen Geschenken wie wertvollen Haarkämmen endet, deren Verkauf ausreichen würde, ihr Volk in Inopfe einen ganzen Winter lang zu ernähren. Und Elodie, die erschlagen ist von all dem Überfluss, erliegt dem Charme des gutaussehenden Prinzen Henry.

Doch schafft es Evelyn Skye wiederholt Hinweise darauf einzustreuen, dass jenseits dieser paradiesischen Zustände etwas im Argen auf der Insel Aurea liegen mag, die ein dunkles Geheimnis verbergen könnte. Denn schon am Abend ihrer Ankunft verwundert es Elodie und ihre Schwester Floria, dass sie durch den Dienstboteneingang ins Schloss geführt werden, statt von der Königsfamilie empfangen zu werden. Zudem beobachten die Schwestern einen eindrucksvollen Fackelzug auf dem Berg von Aurea, der früher ein Vulkan gewesen ist. Für Irritation sorgt schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen am folgenden Tag das Verhalten des Königs von Aurea und damit von Elodies künftigen Schwiegervater, das vom Hofstaat jedoch auf dessen Gesundheitszustand geschoben wird.

 

Zum Spannungsbogen im weiteren Verlauf dieses Romans

Der märchenhaft anmutende Beginn von Damsel mag darüber hinwegtäuschen, dass es in dessen weiteren Verlauf deutlich düsterer zugeht, wenn die Geschichte, die dann unerwartet brutal und blutig ausfällt, in abgründigem Ton fortgeführt wird. Der Kipppunkt, der nach etwa dem ersten Drittel dieses Buchs erreicht wird, ist ein drastischer Schlag in die Magengrube, dessen Effekt umso größer ist, je weniger einem zuvor als Leser über die Entwicklung dieses Romans bekannt ist. Denn der Autorin gelingt es nicht nur Hinweise einzustreuen, ohne dabei jedoch zu viel zu verraten, sondern sie schafft es auch, ihre recht ungleichen Teile zu einem erstaunlich stimmigen Ganzen zusammenzuführen.

 

Mein Fazit

Nach seinem ruhigen Einstieg gleicht der Roman Damsel in seinem weiteren Verlauf einer atemlosen Hatz, in der Evelyn Skye kaum den Fuß vom Gas nimmt, um mir bei der Lektüre zumindest eine kurze Verschnaufpause zu gönnen. Stattdessen zieht sie die Daumenschrauben immer weiter an, wenn sie die Spannungskurve sowohl in Szenen einer offenen Konfrontation als auch während eines beklemmenden Katz-und-Maus-Versteckspiels stetig nach oben treibt. Denn Elodie hat als Heldin wider Willen vielfältige Herausforderungen und Abenteuer zu bestehen, denen sie sich teils mit Raffinesse und ihrem hellen Verstand stellt, oft nur aber durch pures Glück entgeht und bei denen sie bisweilen Hilfe von unerwarteter Seite erhält. Dabei mausern sich Höhlenschwalben, mal durch die erzeugte Tragik, mal durch ihre betörende Schönheit, zum Szenendieb in jedem Kapitel, in dem sie auftreten. Trotz der eingeschobenen Abschnitte, die die Blickwinkel anderer Frauen in Vergangenheit und Gegenwart beleuchten, entwickelt sich Damsel immer mehr zur One-Woman-Show von Hauptfigur Elodie, während sie über sich selbst hinauswachsen muss, um zur Heldin zu reifen. Bei der Schilderung der Entwicklung ihrer Protagonistin ist Evelyn Skye das Kunststück gelungen, diese ungeachtet des durch die enge Taktung der Ereignisse hohen Erzähltempos über den gesamten Roman hinweg für mich glaubwürdig und nachvollziehbar werden zu lassen.

 

4,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Damsel
  • Herausgeber: Heyne
  • Erscheinungsdatum: 13. Dezember 2023
  • Seitenzahl: 416
  • ISBN-10: 3453274482
  • ISBN-13: 978-3453274488
  • Preis: 24 €

 

17. Januar 2024: Die weite Wildnis von Lauren Groff

 

Effekthascherisch inszenierte blutig brutale Gewaltexzesse treffen auf eine inkonsistent charakterisierte Hauptfigur und eine sich früh abzeichnende Auflösung

 

Zum Inhalt: Ein Mädchen flieht aus dem Fort, indem sich englische Siedler in Nordamerika zu Beginn des 17. Jahrhunderts niedergelassen haben, da dies von den indigenen Powhatan belagert wird. Infolgedessen herrscht unter den Siedlern eine Hungersnot, die sie langsam vor sich hin siechen und nach und nach sterben lässt. Als auch die kleine Bess, die das dem Mädchen seit seiner Geburt anvertraute Kind ist, von ihr gegangen ist, hält sie nichts mehr an diesem Ort, der nur von Elend, Krankheit und Tod heimgesucht wird. So flieht sie durch die Wildnis Richtung Norden, um zu den französischen Siedlungen in Kanada zu gelangen.

 

Zur in sich nicht stimmigen Beschreibung der Protagonistin dieses Romans

Aus ihrer interessanten Grundprämisse holt Lauren Groff meiner Ansicht nach viel zu wenig heraus. Das beginnt bei der Charakterisierung der Hauptfigur von “Der weiten Wildnis”, die ein namenloses Mädchen bleibt, was ich noch als besonderen Stil auslegen kann. Schwerer wiegt hingegen deren inkonsistente Figurenzeichnung, die dieses Mädchen wenig glaubwürdig auf mich hat wirken lassen, so dass ich mit ihr weder mitfiebern noch mitleiden konnte. Denn einerseits gilt dieses Mädchen, das nur die Stadt kennt, weil sie dort groß geworden ist, als naiv, beinahe schon beschränkt. Denn ihre primäre Aufgabe bestand neben der Fürsorge für die kleine Bess, die die Tochter ihrer Dienstherrin ist, aus Singen und Tanzen, mit dem sie wie ein kleines Äffchen die Gäste ihrer Herrin zu unterhalten wusste. Auch hat ihr Lieblingsfranzose, der der Grund dafür ist, dass sie sich für die Flucht gen Norden entschieden hat, ihr für jeden Kuss, den sie ihm gegeben hat, ein Wort in seiner Sprache beigebracht und ihr stets die Hände ins Mieder gesteckt, um dort Süßigkeiten zu hinterlassen.

Andererseits stellt sie sich insbesondere in Anbetracht ihres Hintergrundes bereits zu Beginn unerwartet geschickt auf ihrer Flucht an, was das Überleben in der kargen Wildnis, die noch vom Winter im Griff gehalten wird, betrifft. Das stellt auch der Krieger fest, der dem Mädchen nachgeschickt wurde, um sie tot oder lebendig zum Fort zurückzubringen. Denn schon in der ersten Nacht in der Natur gelingt es ihr, einen angenehm warmen Unterschlupf zu bauen und Nahrung zu finden.

 

Eine in sich nicht schlüssig beschriebene Hauptfigur wird ergänzt um unterschiedliche Teile, die nicht zueinander passen wollen

Die inkonsistente Charakterisierung des Mädchens setzt sich für mich in den ungleichen Komponenten “Der weiten Wildnis” fort, die einfach nicht zueinander passen wollten. Dabei stellt Lauren Groff beeindruckende Naturbeschreibungen, wie sie das Mädchen auf seiner Flucht erlebt und die sie in teils malerischen, beinahe schon märchenhaft anmutenden Bildern heraufbeschwört, einem Realismus gegenüber, der sich unter anderem in ausführlich ausgefallenen Schilderungen der alltäglicher Handlungen des Mädchens niederschlägt, die in deren häufiger Iteration rasch repetitiv auf mich gewirkt haben. Diese umfassen etwa das Aufwärmen ihrer Hände zwischen den Schenkeln oder die Beschaffenheit ihres Stuhlgangs. Darüber hinaus greift die Autorin wiederholt blutige Gewaltexzesse auf, die mich in deren effekthascherisch zur Schau gestellten Brutalität an Hannibal Lecter haben denken lassen, statt zum Inhalt ihres Romans beizutragen. Denn für den Fortgang von dessen Handlung wären sie nicht zwingend erforderlich gewesen. An diesen Stellen, zu denen beispielsweise die detailliert beschriebene Rache der Powhatan Frauen zählt, nachdem eine der ihren von einem Siedler vergewaltigt wurde, erinnerte mich "Die weite Wildnis" eher an einen billigen Abklatsch der Thriller-Serie Hannibal, die ebenfalls Gewaltexzesse auskostet, der es dabei jedoch gelungen ist, einen besonderen Stil an den Tag zu legen, den Groff missen lässt, und die begangenen Taten mit einer Erklärung in Form eines Motivs zu unterlegen. Die enge Verwandtschaft von “Der weiten Wildnis” und Hannibal, die trotz des so unterschiedlichen Genres vorhanden ist, wird zudem von einem wesentlichen Teil der Auflösung zum Schluss dieses Romans betont. Dieser unmittelbare Vergleich gereicht Groff nicht gerade zu ihrem Vorteil, da sie dabei deutlich den Kürzeren zieht.

 

Eine zu schwach geratene One-Woman-Show, der eine zusätzliche Anreicherung um weitere Perspektiven gut getan hätte

Nachdem ich zuletzt den Roman Damsel von Evelyn Skye gelesen habe, der mit Millie Bobby Brown ("Stranger Things") in der Hauptrolle als Serie realisiert werden soll und der von seiner Autorin ebenfalls als One-Woman-Show angelegt ist, zeigen sich in der Gegenüberstellung mit “Der weiten Wildnis” Schwächen im Aufbau bei Groff. Stärker sind ihr dagegen die Passagen geraten, in denen sie den Blickwinkel gewechselt hat - beispielsweise zu einem seit Jahrzehnten in der Wildnis hausenden Jesuiten. Je weniger sich “Die weite Wildnis” auf sein namenloses Mädchen als dessen Hauptfigur konzentriert hat, desto mehr ist mein Interesse an diesem Roman geweckt worden. Insofern hätte dieses Buch meiner Ansicht nach weit überzeugender ausfallen können, wenn die Autorin dies insgesamt weniger als One-Woman-Show angelegt hätte, sondern stattdessen zusätzliche Perspektiven integriert hätte, um aus deren Sicht einen größeren Teil der Handlung wiederzugeben und dabei weitere Informationen zu ihrem Hintergrund - wie insbesondere zu deren Lebensgeschichte - mit einfließen zu lassen.

 

Ein von der Einsamkeit der Wildnis in den Wahnsinn getriebener Jesuit, der mehr Zeit und Raum verdient hätte

Indem Groff den Ansatz verfolgt hätte, “Die weite Wildnis” aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen, hätte ihr das die Möglichkeit eröffnet, ausgewählten Nebenfiguren mehr Raum zu geben. Auf diese Weise hätte sie etwa den Wahnsinn, dem der ehemalige Jesuit in seinem einsamen Leben in der Wildnis nach und nach verfallen ist, derart beschreiben können, dass die Tragik im Leben dieser Figur tatsächlich nachvollziehbar geworden wäre. Indem der Fokus von Groff jedoch ganz auf ihrer Hauptfigur liegt, wird die gesamte Lebensgeschichte des Jesuiten derart schnell in einem einzigen kurzen Kapitel abgehandelt, dass dessen Leben mehr wie eine steckbriefartige Beschreibung der Stationen in einem Lebenslauf angemutet und er in seinem Wahnsinn - ebenso wie quasi jeder andere Mann in diesem Roman - nur abstoßend auf mich gewirkt hat.

 

Mein Fazit

Lauren Groff enttäuscht mit ihrem neuen Roman, indem mehr möglich gewesen wäre, da sie viel ungenutztes Potenzial verschenkt. Denn ihr stilistisches Talent für einzigartige Beschreibungen scheint auch in diesem Buch immer wieder durch, wenn es ihr mit dessen Hilfe gelingt, recht gewöhnlichen, in der Wildnis angesiedelten Szenen einen besonderen Touch zu verleihen. "Die weite Wildnis" hätte dadurch an Tiefe gewinnen können, wenn Groff den Fokus weniger auf ihre Protagonistin gelegt hätte, sondern anstelle dessen anderen Blickwinkeln mehr Raum gegeben hätte. Dafür hätten sich beispielsweise die in ihrer Geschichte als Antagonisten angelegten Figuren angeboten. Deren Sichtweise hätte dazu beitragen können, Intensität in diesem Roman durch das Ausloten menschlicher Abgründe zu erzeugen, die so nur im Resultat in Gestalt von blutig brutalen Gewaltexzessen wenig nachvollziehbarer grausamer Taten ersichtlich sind.

 

 3 Sterne ***

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Vaster Wilds
  • Herausgeber: Claassen
  • Erscheinungsdatum: 28. September 2023
  • Seitenzahl: 288
  • ISBN-10: 3546100352
  • ISBN-13: 978-3546100359
  • Preis: 25 €

 

10. Januar 2024: Die den Schnee fürchten von H.S. Palladino

 

Durch seine intensive Atmosphäre bestechender Thriller, der mit einer ungewöhnlichen Hauptfigur überzeugt

 

Zum Inhalt: Bjørk Isdahl, die früher als Profilerin für die Polizei tätig gewesen ist, verbringt einen kalten Winterabend alleine, als sie unerwartet einen Anruf von Azora erhält. Die ist ihr aus ihrer Jahre zurückliegenden Praktikumszeit in einer Entzugsklinik bekannt. Azora beharrt darauf, dass sie Bjørk unbedingt sprechen muss und lockt sie mit der Aussicht, dass sie weiß, warum Bjørk von Albträumen geplagt wird, zu einem Treffen in eine einsame Gegend. Doch der Abend nimmt eine fatale Wendung und Bjørk gerät in einen Strudel aus Ereignissen, der sie in den Abgrund zu ziehen droht, als sie mit ihren Nachforschungen beginnt.

 

Zur Charakterisierung von Protagonistin Bjørk Isdahl

Mit Bjørk hat H.S. Palladino eine passende Hauptfigur für ihren düsteren Roman, der über weite Strecken erst eine Kombination aus Psychothriller und Drama darstellt, gefunden. Bjørk, die sich wie ihr Ex-Freund Kristian feststellt, über ihre Arbeit definiert, die sie etwa über deren Beziehung stellt, lässt sich auch anhand ihres beruflichen Werdegangs beschreiben. Nach ihrem Studium der Psychologie und einem Praktikum, das sie in Kontakt mit Drogenabhängigen gebracht hat, hat sie bei der Polizei angefangen. Als Profilerin ist sie jedoch weniger spektakulären Serienmördern auf der Spur gewesen, von denen es nicht so viele in Norwegen gibt, sondern hat gewöhnliche Täter dank ihrer guten Intuition und der präzisen Analyse ihres Verhaltens überführt. Nachdem eine Fehleinschätzung ihrerseits den Tod eines Verdächtigen zur Folge gehabt hat, ist sie aber zur meistgehassten Frau Norwegens geworden und musste ihre Arbeit bei der Polizei aufgeben. Nun betreut sie, um über die Runden zu kommen, eine Gruppe von Männern mit Aggressionsproblemen, die sie bei deren Bewältigung unterstützt.

 

Zur abgründigen Seite des sonst so beschaulichen, wohlhabenden Oslo

In eindringlich geratenen Beschreibungen hat H.S. Palladino mir schnell ein Gefühl für ihre Hauptfigur Bjørk vermittelt, die sich selbst für die Fehleinschätzung bestraft, die sie den Job gekostet hat. So hat sie insbesondere ihre Beziehung zu ihrem Ex-Freund Kristian sabotiert, obwohl sie diese glücklich gemacht und sie ihn wirklich geliebt hat. Zudem zweifelt Bjørk an ihrem eigenen Urteilsvermögen und stellt in zunehmendem Maße ihre Intuition in Frage, auf die sie sich früher stets verlassen konnte. In stimmiger Weise wird das ergänzt von einer erst primär im Drogenmilieu angesiedelten Handlung, in dem Bjørk mit ihren Nachforschungen beginnt. Denn zunächst befragt sie Obdachlose, wenn sie mehr über Azora, die auf der Straße gelebt hat, und insbesondere ihre Vergangenheit in Erfahrung zu bringen sucht. Die Abgründe, die sich dabei auftun, liegen mehr in der Tragik der Nebenfiguren begründet, wenn Bjørk nach und nach mehr über deren hartes, erbarmungsloses Leben auf der Straße lernt. Selten hat das sonst gleichermaßen wohlhabende wie beschauliche Oslo so düster wie in den Beschreibungen in diesem Thriller gewirkt, wenn von H.S. Palladino als Schauplätze der Handlung erst Obdachlosenschlafplätze, Drogenhöhlen und Entzugskliniken gewählt werden, die ein Bild, das von Elend, Hoffnungslosigkeit und Armut geprägt ist, heraufbeschworen haben.

 

Zum Spannungsaufbau in diesem Thriller, der von einem diffusen Bild der Bedrohungslage geprägt ist

"Die den Schnee fürchten" von H.S. Palladino wird in zum Titel passender Weise von der Schilderung eines Albtraums eingeleitet, indem Schnee eine zentrale Rolle spielt. Davon wird Bjørk oft in der Nacht gequält, obwohl sie sich diesen Traum nicht erklären kann. Im weiteren Verlauf dieses Thrillers schafft es die Autorin, für lange Zeit im Unklaren zu lassen, von welcher Seite eine möglicherweise im Leben ihrer Hauptfigur vorhandene Bedrohung herrühren mag. Dabei gelingt es Palladino in der Schwebe zu halten, welche der Ereignisse sich nur im Kopf von Bjørk abspielen und welche nicht, wenn sie in geschickter Weise mit der Frage spielt, welchen Teil der Handlung dieses Romans sich Bjørk nur eingebildet hat und was tatsächlich passiert ist. Ist sie von einem unerkannt gebliebenen Stalker bis zu sich nach Hause verfolgt worden, der sie zudem mit Anrufen terrorisiert? Hat sie selbst das Fenster in ihrer Küche offen gelassen oder ist ein Fremder in ihr Heim eingebrochen?

 

Mein Fazit zum Schluss

Palladino gelingt es, in der von ihr erzählten Geschichte von Anfang an ein diffuses Gefühl der Bedrohung zu erzeugen, das sich erst allmählich einschleicht, um sich dann nach und nach zu intensivieren. Verstärkt wird das von einer ganzen Reihe von Verdächtigen, die von der Autorin dadurch eingeführt werden, dass Hauptfigur Bjørk alles und jeden in Frage zu stellen beginnt. Obwohl dabei erst einmal über weite Strecken recht wenig passiert, ist es Palladino zumindest bei mir gelungen, durch die verschiedenen, von ihr aufgeworfenen Fragen Spannung in ihrem Thriller aufzubauen. Dazu zählen beispielsweise: Ist Azora von ihrem Drogendealer unter Druck gesetzt worden? Was hat Azoras Ex-Freund zu verbergen? Kann Bjørk den Mitgliedern ihrer Aggressionsbewältigungsgruppe trauen? Und welche gemeinsame Vergangenheit teilen Azora und sie? Ergänzt wird dieses Arsenal von Fragen um eine beklemmend intensive Atmosphäre und eine Vielzahl potentieller Verdächtiger, zwischen denen Bjørk sich nicht zu entscheiden vermag. Dabei konnte Palladino auch mich mit dem zum Schluss enthüllten Täter überraschen, den ich zwar im Verdacht hatte, dessen Motiv ich so aber nicht habe kommen sehen.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Den som frykter snøen
  • Herausgeber: Blanvalet Taschenbuch Verlag
  • Erscheinungsdatum: 13. Dezember 2023
  • Seitenzahl: 448
  • ISBN-10: 3734112710
  • ISBN-13: 978-3734112713
  • Preis: 12€

 

3. Januar 2024: Vertrauensübung von Susan Choi


Ungewöhnlich erzähltes, in seiner sogartigen Wirkung bestechendes Drama um eine berühmt berüchtigte Schauspielschule

Inhalt: Es ist 1982. Mr. Kingsley, der das Schwerpunktfach Bühne an der CAPA (Citywide Academy for the Performing Arts) leitet, gibt auch der erst fünfzehnjährigen Sarah Schauspielunterricht, die diese Schule seit einem Jahr besucht. Nachdem sich Sarah und David an der CAPA kennengelernt und ineinander verliebt haben, haben sie die Ferien miteinander verbracht, obwohl sie aus unterschiedlichen Verhältnissen stammen. Da trifft Davids privilegierte Herkunft auf die triste Realität der größten Armen-Siedlung der Stadt, in der Sarah mit ihrer alleinerziehenden Mutter wohnt. Hat ihre gerade begonnene Romanze, von der sie so gegensätzliche Vorstellungen haben, dennoch eine Chance?

Der Roman "Vertrauensübung", der den National Book Award erhalten hat, ist in drei Akte gegliedert, zwischen denen Zeitsprünge liegen und der Blickwinkel, aus dem primär die Handlung geschildert ist, gewechselt wird. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht die CAPA als besondere Schule, für die aus den öffentlichen Bildungseinrichtungen nur die Begabtesten ausgesucht werden. Diese auserwählten Schüler werden dort zusätzlich zum normalen Schulalltag in Fächern wie Bühnenkunde, Vom-Blatt-Singen oder Shakespeare unterrichtet, um sie auf ihre zukünftige Karriere als Schauspieler oder Musical-Star vorzubereiten. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Stunden sind die von Mr. Kingsley vermittelten Vertrauensübungen. Eine solche Übung kann daraus bestehen, sich von einer Leiter dem Rest der Klasse in die Arme fallen zu lassen. In einer fortgeschrittenen Variante sitzen sich zwei Schüler gegenüber, wenn der erste eine Aussage über den anderen vorgibt, die dieser dann in der Ich-Form zu wiederholen hat. Dabei können die einander zugespielten Sätze eine den anderen beschreibende Tatsache oder eine Meinung über denselben enthalten. Ergänzt werden diese Übungen von esoterisch psychologisch angehauchten Weisheiten, die als Ziel des Unterrichts die Rekonstruktion des Egos vorgeben. Die Basis dafür ist die Dekonstruktion des Egos.
Mit Mr. Kingsley hat Susan Choi eine charismatische Figur für ihren Roman ersonnen, deren dunkle Seite zwar für den Leser, aber nicht für seine jungen Schützlinge offensichtlich wird. Ausgestattet mit der passenden Vita, da er am Broadway in New York Karriere machte, bis er zur Originalbesetzung von Cabaret zählte, bevor er Lehrer an der CAPA wurde, folgen ihm seine Schüler blind. Denn sie wollen Mr. Kingsley unbedingt gefallen, indem sie derart nach dessen Aufmerksamkeit verlangen, dass sie sogar seinen Tadel als Auszeichnung empfinden. So zögert Sarah nicht, sich vor Mr. Kingsley die Seele aus dem Leib zu heulen, als sie ihm ihr Herz ausschüttet und detailliert von jedem der sie belastenden Probleme berichtet. Das sind ihr die Termine wert, zu denen er sie in seinem Büro empfangen hat, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Im Grunde ist Sarah eine interessant angelegte Protagonistin, aus deren Sicht der erste Teil dieses Romans geschildert wird. Damit sie sie versorgen kann, arbeitet Sarahs allein erziehende Mutter in ihren beiden Jobs fast zwanzig Stunden am Tag. Weil Sarah von der Unabhängigkeit träumt, die ihr ein eigenes Auto bietet, übernimmt sie am Wochenende die Frühschicht in einer französischen Bäckerei. Das schwierige Verhältnis zwischen Sarah und ihrer Mutter kann sich schon mal in einem aggressiven Streit entladen, wenn Sarah einen Stuhl durch die Scheibe schleudert, hat aber auch seine unerwartet fürsorglichen Momente etwa in den Brötchen von Sarahs Mutter, die sie für ihre Tochter wie im Restaurant mit Fleisch aus dem Feinkostladen belegt, mit Dijon-Senf würzt und Salatblättern wie Tomatenscheiben garniert.
Doch statt sich auf die Sarahs Alltag prägende Armut und die sich daraus ergebende komplizierte Beziehung zu ihrer Mutter zu konzentrieren, fokussiert sich Susan Choi auf ihre Romanze mit David, die hauptsächlich aus deren leidenschaftlichem Begehren besteht und abgesehen von Effekthascherischen, expliziten sexuellen Szenen in ihrer stereotyp geratenen Beschreibung ziemlich blass geblieben ist. Stärker wäre "Vertrauensübung" ausgefallen, wenn die Autorin der ersten Liebe, die sich zwischen Sarah und David entspinnt, nicht derart viel Raum gegeben hätte, sondern komplexere Aspekte von Sarahs Leben in den Mittelpunkt gerückt und ihre Mitschüler, die eine abwechslungsreich zusammengestellte Gruppe bilden, früher eingeführt hätte. Daraus sticht der ebenfalls aus armen Verhältnissen stammende Manuel hervor, der als einziger in der Klasse hispanischer Herkunft ist. Dessen starker Akzent lässt ihn jedes Vorsprechen meiden und so zum absoluten Außenseiter werden.

Ähnlich dem ersten Akt zeigt der zweite Schwächen in seinem einleitenden Teil, indem Susan Choi ihre ungewöhnliche Erzählweise dadurch zu betonen sucht, dass die Protagonistin ihre Gedankengänge beinahe zwanghaft um die Aufzählung von Synonymen, die Herkunft der verwandten Worte und Listen von homonymen Verben ergänzt. Der Verzicht auf diesen ausufernden Einsatz von Synonymen und Homonymen hätte dem zweiten Teil gut getan, da das nur die an sich aufgebaute Intensität unterbricht. Auch stellt das keine plausible Erweiterung der Charakterisierung der im Mittelpunkt stehenden Figur dar, da diese keine Schriftstellerin ist.
Dafür entfalten der erste wie zweite Akt von "Vertrauensübung" in deren weiteren Verlauf eine sogartige Wirkung, die mich in ihren Bann gezogen hat. In deren Fokus rücken dann die Inszenierung wie die Premiere eines besonderen Stücks und die daraus resultierenden Ereignisse. Dagegen fällt der dritte Teil dieses Romans deutlich ab, in dem die Autorin darum bemüht gewesen ist, ihre so stark angelegte Geschichte abzurunden. Als gelungener hätte ich "Vertrauensübung" empfunden, wenn Susan Choi dieser Versuchung widerstanden hätte und das starke Finale, das sie für den zweiten Teil ihres Buchs gefunden hat, auch als Abschluss ihres Romans gewählt hätte. Denn dieser ist zwar nicht unbedingt unerwartet für mich gekommen, hat mich aber in dem Mut der Autorin überzeugt, das von ihr enthüllte Drama derart konsequent zu Ende zu erzählen.

 

4,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Trust Exercise
  • Herausgeber: Kjona Verlag
  • Erscheinungsdatum: 24. Juli 2023
  • Seitenzahl: 352
  • ISBN-10: 3910372112
  • ISBN-13: 978-3910372115
  • Preis: 25 €