Ein großer, mystischer Roman um einen besonderen Autor und sein Werk, der zum Ende hin abfällt
Inhalt: Während der junge Schriftsteller Diégane Latyr Faye eines Abends durch die Pariser Straßen
streift, trifft er zufällig auf die berühmte Siga D., die eine radikal ehrliche, senegalesische Autorin ist. Nach der gemeinsam verbrachten Nacht liest Siga Diégane ein paar Seiten aus dem
Labyrinth des Unmenschlichen vor, dessen Autor Elimane ihm bekannt ist. Dieser Roman ist das als verschollen geltende Werk, nach dem Diégane bereits seit langem sucht, diesem aber nie auf die
Spur zu kommen vermochte. Daraufhin leiht Siga ihm ihren wertvollsten Besitz, damit auch er das Labyrinth des Unmenschlichen lesen kann, nicht ohne ihm kryptische Warnungen mit auf den Weg zu
geben. Und so beginnt Diéganes Reise.
Protagonist Diégane Latyr Faye
Mit der geheimsten Erinnerung der Menschen hat Mohamed Mbougar Sarr den französischen Literaturpreis Prix
Goncourt des Jahres 2021 gewonnen.
Der Protagonist Diégane Latyr Faye dieses Romans, der aus dem Norden Senegals stammt, lebt mittlerweile in Paris und widmet sich seiner Promotion. Nach seinem ersten kurzen Roman "Anatomie der
Leere" arbeitet er nun an seinem Opus Magnum. Da stößt er auf das mysteriöse Werk "Das Labyrinth des Unmenschlichen", dessen Autor Elimane nur diesen einen großen Roman geschrieben hat. Danach
ist Elimane verschwunden und niemand weiß etwas über seinen weiteren Verbleib. Zum ersten Mal hat Diégane während seiner Zeit auf dem Militärinternat vom Labyrinth des Unmenschlichen gehört. Er
konnte aber seitdem keine weiteren Informationen über diesen Roman in Erfahrung bringen, bis er Siga D. kennenlernt.
Ungewöhnliche Kombination aus philosophischer Diskussion und mythischen Elementen
Mit seinem ersten Teil, der den Titel "Das Netz der Spinnenmutter" trägt, hat Mohamed Mbougar Sarr einen starken Beginn für seinen Roman gefunden. Denn dieser mysteriöse Einstieg, der um ein
verschollenes Buch kreist, das Diégane schließlich in Händen halten wird, hat mich gleich gefesselt. Doch damit, dass Diégane endlich diesen Roman von T.C. Elimane gelesen hat, ist seine Suche
nicht zu Ende, sondern hat gerade erst begonnen.
Am Auftakt der geheimsten Erinnerung der Menschen hat mich die dafür gefundene Kombination aus mythischen Elementen, philosophischen Diskussionen, die im Drogeninduzierten Rausch beginnen und im
Zustand absoluter Entspannung enden, sowie Exkursen zur senegalesischen Literatur im Speziellen und dem Schriftstellerdasein im Allgemeinen fasziniert. Denn der Autor hat es geschafft, dass diese
ungleichen Teile einander nicht widersprechen, sondern sich zu einem erstaunlich harmonischen, größeren Ganzen zusammenfügen. Dabei führen die tiefsinnigen Gespräche von Siga und Diégane zu
Erkenntnissen wie "Ein Zufall ist immer nur ein Schicksal, das man nicht kennt." Und die mythisch angehauchten Elemente umfassen die im Labyrinth des Unmenschlichen erzählte Geschichte, die von
einem sagenumwobenen, grausamen König handelt, aber auch die Charakterisierung von Siga D. als Ghul, als bösartige Pythia und Spinnenmutter.
Auch im weiteren Verlauf dieses Romans hat Mohamed Mbougar Sarr mich mit seinen ungewöhnlichen Kombinationen, die von seinem ausdrucksstarken Schreibstil geprägt sind, überzeugt. So wurde etwa
abwechselnd von Diéganes erster großer Liebe in Paris im Zeitraffer und dem aus der Veröffentlichung des Labyrinths des Unmenschlichen erwachsenden Skandal erzählt. Letzteres geschieht in Gestalt
von Zeitungsartikeln, die Diégane im Pressearchiv liest. Diese reichen von der ersten, begeisterten Besprechung des Romans über weitere Kritiken und dem darauf folgenden Eklat bis hin zu
klärenden Interviews.
Schwächer ausgefallene Handlungsstränge
Obgleich Mohamed Mbougar Sarr seine Geschichte stets gekonnt erzählt und jede seiner Charakterisierungen gut herausgearbeitet ist, habe ich doch einige Teile als stärker im Vergleich zu anderen
empfunden. So ist Siga D. schon bei ihrem ersten Auftritt eine faszinierende Persönlichkeit, über die ich gern mehr erfahren wollte. Ebenso hat mich das große Rätsel um das Labyrinth des
Unmenschlichen und dessen mysteriösen Autor Elimane gleich in seinen Bann gezogen. Dagegen sind mir manch andere Handlungsstränge kaum in Erinnerung geblieben und die darin agierenden Figuren
wirkten ein wenig blass auf mich. Das schließt etwa die aus Kamerun stammende Autorin Béatrice Nanga mit ein, die so wie Diégane zum Kreis der jungen afrikanischen Schriftsteller in Paris
gehört.
Das Labyrinth
des Unmenschlichen als im Mittelpunkt dieses Romans stehendes Werk
Dafür hat mich die rätselhafte Geschichte um das Labyrinth des Unmenschlichen und seinen Autor Elimane,
dessen Geheimnisse erst nach und nach enthüllt wurden, fasziniert. Im Verlauf des Romans habe ich mehr über Elimane, seine Familie und Freunde, dessen Vergangenheit und seine Suche erfahren.
Dabei erinnerte mich die geheimste Erinnerung der Menschen trotz des experimentellen Schreibstils phasenweise an einen Kriminalroman. Damit meine ich u.a. die Passagen, in denen erzählt wird, wie
verschiedene Figuren dem verschwundenen Elimane nachgespürt haben. Und obwohl der Roman so mehr von der Abwesenheit Elimanes als von diesem mysteriösen Autor selbst geprägt ist, ist Mohamed
Mbougar Sarr doch in Elimane das einzigartige Porträt einer charismatischen Persönlichkeit gelungen.
Mein Fazit zum Schluss
Nur im Buch Drei, das das letzte Drittel dieses Romans bildet, fällt diese Charakterisierung von Elimane leider schwächer aus. Da hat das Buch eine unerwartet politische Wendung genommen, die
kunstvoll in tatsächliche historische Ereignisse eingebunden ist. Das politische Drama gewinnt dabei schnell eine fast schon unangenehme Intensität auch aufgrund seiner expliziten, an Brutalität
kaum zu überbietenden Szenen des politischen Protests. Davon wird die Geschichte um Elimane, der in diesem Teil ungewohnt blass bleibt, sein Werk und Dieganes Suche danach in den Hintergrund
gedrängt. Da hätte mir besser gefallen, wenn Mohamed Mbougar Sarr sich auf seine eigentliche Geschichte konzentriert und die politischen Themen außen vor gelassen hätte. Leider ist das schwächer
ausfallende Ende dieses zuvor so großen Romans für mich auch nicht von seinem Epilog herausgerissen worden. Da hätte ich einen Schluss, der dem ähnelt, den Raphaela Edelbauer für ihren
philosophischen Science-Fiction-Romans Dave gefunden hat, als gelungener empfunden.
4,5 Sterne ****
Allgemeine Angaben zum Buch: