Das Land der Anderen von Leila Slimani


Intensives, von der Familiengeschichte der Autorin inspiriertes Drama

 

Die Französin Mathilde landete am 1. März 1946 in Rabat, wo sie ihren Mann Amine endlich wieder trifft. Kennen und lieben gelernt haben sich die beiden im Herbst 1944, als Amines Regiment in ihrem Heimatdorf bei Mülhausen im Elsass stationiert gewesen ist und auf seinen Marschbefehl gen Westen gewartet hat. Denn der gutaussehende Amine versprach der in ihrer wilden Natur nach einem Abenteuer dürstenden Mathilde den Ausbruch aus ihrem recht behüteten, gutbürgerlichen Leben. Doch ihre Weiterreise zum Land, das Amine von seinem Vater Kadour Belhaj, einem ehrenwerten Offizier, in der Nähe von Meknes geerbt hat, verzögert sich. Denn das ist seit dem Tod des Vaters, der 1939 gestorben ist, verpachtet und der Pächter weigert sich, den Hof vor Ablauf des Vertrags zu verlassen. So harren Mathilde und Amine in Meknes aus, wo sie bei Amines Mutter und seiner Schwester wohnen.

 

Die ungewöhnliche Liebesgeschichte von Mathilde und Amine
“Das Land der Anderen” wird zunächst aus der Perspektive von Mathilde wiedergegeben. Da dauert es nur wenige Kapitel, bis sich ihr Traum von einem Leben in einem anderen Land an der Seite ihres schönen Mannes in einen Albtraum verwandelt hat. Die Anreise im Flugzeug ist zwar beschwerlich, weil sie das erste Mal fliegt, doch ist sie voller Glück, als sie in Rabat eintrifft, um Amine wiederzusehen. Denn die junge Mathilde ist in Liebe zu diesem Mann entbrannt. Sogar mit ihrer Schwiegermutter Mouilala versteht sie sich erstaunlich gut, obgleich sich in ihrer beider Sicht auf die Welt ihre grundlegend verschiedenen Lebensweisen deutlich widerspiegeln. Erst hält sich Mathilde aus der Küche fern, die das Reich von Mouilala ist. Auch hindern sie sprachliche Barrieren an einer fließenden Kommunikation, indem Mathilde nur Französisch spricht und sich so mit ihrer Schwiegermutter nicht verständigen kann. Mouilala respektiert ihre Schwiegertochter jedoch als gebildete Frau, die sie in ihrem Haus beherbergt, wenn Mathilde ihre Zeit mit Lesen sowie dem Schreiben von langen Briefen an ihre Familie in die französische Heimat verbringt.

 

Mathildes Integration in ein Land und eine Kultur, die ihr fremd sind
Die sprachlichen Hürden überwindet Mathilde im weiteren Verlauf von “Das Land der Anderen” zügig, indem sie die Sprache rasch lernt. Der erste Ramadan stellt aber einen Kulturschock für sie dar, als ihr das Fasten, dem sie sich anschließt, schwerfällt. Auch im Beobachten der untergeordneten Rolle, die die Frau im Haushalt einzunehmen hat, versagt ihr die Akzeptanz. Ein Beispiel dafür beobachtet sie am Ramadan im Verhalten ihrer Schwiegermutter, die den ganzen Tag in der Küche mit Kochen und Backen verschiedener, für den Festtag angedachter Gerichte verbracht hat, ohne dass sie etwas davon essen durfte. Am Abend dann, nachdem die Sonne untergegangen ist, tischt Mouilala den Männern im Haus die zubereiteten Speisen auf, während die Frauen warten müssen, bis sie gegessen haben. Erst danach durfte endlich auch ihre Schwiegermutter etwas zu sich nehmen.

 

Zu den Diskriminierungen und Schikanen, denen Mathilde und Amine ausgesetzt sind
Die Ehe von Mathilde und Amine leidet unter den Vorurteilen, mit denen sie u.a. in Meknes konfrontiert werden. Wenn sie sich gemeinsam in der Öffentlichkeit zeigen, sind sie diesen ausgesetzt. Aber auch allein ist Mathilde nicht davor gefeit. Als sie hochschwanger gewesen ist, ist sie auf der Straße von zwei unbekannten Frauen angerempelt worden. Ihr Verhalten rechtfertigten sie damit, dass Mathilde sich von einem Araber hat ein Kind machen lassen. Und wenn Mathilde, die sich bei Amine untergehakt hat, durch die Viertel der Stadt schlendert, bleibt es oft nicht bei missbilligenden Blicken. Dann werden sie von der Polizei angehalten, bis Amine seine Papiere vorgelegt hat. Erst wenn das Gegenüber Amines perfektes Französisch feststellt und seine Verdienste im Krieg bemerkt, können sie weiterziehen. Ihre anfänglich so innige Liebe hält die Belastungen, denen sie durch fortwährende Schikane und diskriminierendes Verhalten der anderen aufgesetzt sind, nicht aus. Und so streiten Mathilde und Amine bereits viel, als ihre erstgeborene Tochter Aicha noch ganz klein ist.

 

Starke Charakterisierungen bei ruhiger Erzählweise und sachlichen Beschreibungen
“Das Land der Anderen”, das von der Familiengeschichte der Autorin inspiriert ist und im Roman “Schaut, wie wir tanzen" fortgeführt wird, lebt von seinen gelungenen Charakterisierungen. Das schließt zum einen Mathilde mit ein, deren Entwicklung von Slimani glaubwürdig geschildert wird. Auf dem Hof hat Mathilde auch wegen ihrer gutbürgerlichen Herkunft zu kämpfen. So fällt es ihr schwer sich darauf einzustellen, sich dort von morgens bis abends den Rücken krumm arbeiten zu müssen. Ihrem harten Leben versucht sie, einen Hauch von Schönheit zu verleihen, wenn sie in der Nacht hübsche Kleider für ihre Tochter näht. Zum anderen betrifft das Mathildes Mann Amine, der an den Schwierigkeiten zu zerbrechen droht, wenn er es in endlosen Versuchen nicht schafft den kargen Boden, der zum Hof gehört, zu bestellen und diesem Land Erträge abzuringen, und sogar die kleine Aicha, deren Welt ins Wanken gerät, als sie die Schule in der Stadt zu besuchen hat. Dabei verfällt die Autorin nie der Versuchung, das beschwerliche Leben auf dem Hof in nostalgischer Verklärung zu beschönigen, sondern fängt es in nüchternen, realistisch anmutenden Beschreibungen ein.
Die ruhige Erzählweise, die beinahe schon sachlich wirkt, jedoch aufgrund der Dichte der Ereignisse nicht für ein langsames Erzähltempo sorgt, prägt Slimanis Art ihren Roman zu erzählen. Das geht jedoch nie zu Lasten des Dramas, das in seiner intensiven Schilderung die Tragik im Leben ihrer Figuren betont.

 

Ein von der Familiengeschichte der Autorin inspirierter Roman
Wo in vergleichbaren Romanen, die ebenfalls auf der Familiengeschichte des Autors oder der Autorin basieren, wie beispielsweise im Porzellanzimmer von Sunjeev Sahota, dessen Schreibstil zu überzeugen weiß, das Korsett der tatsächlichen Ereignisse, die darin wiedergegeben werden, sowie fehlende Kenntnisse darüber letztlich zu einer für einen gelungenen Roman eher wenig geeigneten Geschichte führen oder in Wandering Souls von Cecile Pin ab und an zu dick aufgetragen wird, wenn der Roman ins Dramatische kippt und die Autorin dann auf die Tränendrüse drückt, beweist Prix Goncourt-Preisträger Slimani ihre große Klasse. Denn ihr gelingt in “Das Land der Anderen” der Balanceakt, indem sie ein intensives Drama erzählt, das sich gerade in den stillen Momenten zeigt und dessen Geschichte auch für einen großen Roman geeignet ist.

4,5 Sterne *****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Le Pays Des Autres
  • Herausgeber: btb Verlag
  • Erscheinungsdatum: 14. Dezember 2022
  • Seitenzahl: 384
  • ISBN-10: 3442772613
  • ISBN-13: 978-3442772612
  • Preis: 13 €

Romane der Trilogie:

  • Band 1: Das Land der Anderen
  • Band 2: Schaut, wie wir tanzen