Oh, William! von Elizabeth Strout


Ruhig erzählter Roman über lang verborgene Familiengeheimnisse, die ans Licht kommen

Inhalt: William Gerhardt, der bald siebzig wird, ist in dritter Ehe mit der weit jüngeren Estelle verheiratet. Die kleine Bridget ist ihre gemeinsame Tochter, mit der sie zusammen in ihrer kostspieligen, überbordend eingerichteten Wohnung in New York residieren. William, der sich mit seinen morgendlichen Übungen und den zehntausenden Schritten, die er jeden Tag geht, fit hält, wird seit kurzem nachts von für ihn unerklärlichen Ängsten überfallen, die ihn am Schlafen hindern. Diese kreisen um seine verstorbenen Eltern und die Furcht vor seinem eigenen Tod. Doch die beiden einschneidende Erlebnisse, die sein in geordneten Bahnen verlaufendes Leben tiefgreifend verändern werden, stehen ihm noch bevor.

Protagonistin Lucy Barton, Schriftstellerin und Williams erste Frau
Pulitzerpreisträgerin Elizabeth Strout schildert “Oh, William!” aus Sicht von Williams erster Ehefrau, der Schriftstellerin Lucy Barton. Dieses Buch hat für mich die erste Begegnung mit der genannten Figur dargestellt, die die Autorin bereits in anderen ihrer Romane - wie beispielsweise in "Die Unvollkommenheit der Liebe" - hat auftreten lassen. Dabei wurden relevante Informationen, die bereits in anderen Werken wiedergegeben wurden, in “Oh, William!” nebenher erwähnt, so dass ich leicht den Gedankengängen der Protagonistin folgen konnte.
Lucy betrauert noch den Verlust ihres zweiten Ehemanns, des Cellisten David, dem sie wegen der ähnlichen Verhältnisse, in denen sie abgeschottet von der Außenwelt aufgewachsen sind, verbunden gewesen ist. Die als unsicher charakterisierte Lucy ist von der von William ausgestrahlten Autorität angezogen worden, die ihr ein Gefühl der Sicherheit vermittelt hat. Denn die immer wieder von Ängsten geplagte Lucy leidet an den Folgen ihrer traumatischen Kindheit, die eine PTBS nach sich gezogen hat. Ihre beiden Töchter Chrissy, die als Juristin mit einem Banker verheiratet ist, und Becka, deren Mann Dichter ist, sind für sie neben ihrem Schriftstellerdasein mit das Wichtigste in ihrem Leben.

Zu Lucys ersten Mann William und seiner Mutter Catherine
Lucy ist William in ihrem zweiten Studienjahr am College in Chicago begegnet, der als Doktorand ihren Biologiekurs betreut hat. Auch mit seinen bald siebzig Jahren sucht er, der Dozent für Mikrobiologie an der New York University gewesen ist, noch jeden Tag sein Labor auf, um sich der Forschung in seinem Fachgebiet der Parasitologie zu widmen. William, der in seiner distanzierten Art oft recht verschlossen wirkt, kann schlecht mit Lucys Unsicherheit umgehen, wenn er nichts mit ihren von Ängsten geprägten Zuständen anzufangen weiß. Selbst belastet ihn die Vergangenheit seines Großvaters, von dem er ein am Krieg verdientes Vermögen geerbt hat, und seines Vaters Wilhelm Gerhardt, der auf Seiten der Deutschen im zweiten Weltkrieg gekämpft hat. Seine Mutter Catherine, die die Frau des Kartoffelfarmers Clyde Task gewesen ist, hat Wilhelm kennengelernt, als er nach seiner Gefangennahme im Schützengraben auf den Feldern im ländlichen Maine arbeiten musste.
Den Mittelpunkt von “Oh, William!” bildet jedoch weniger die Titelgebende Figur, sondern vielmehr dessen Mutter Catherine. Lucy hat ihre Schwiegermutter stets als elegante Dame wahrgenommen, die ihre Zeit mit Golf spielen und auf exklusiven Reisen verbracht hat. Ihren Wohlstand verdankte Catherine der Lebensversicherung ihres früh verstorbenen zweiten Ehemanns Wilhelm und ihrem Geschick als Maklerin für hochpreisige Immobilien. Obwohl Catherine ihre Schwiegertochter in ihrem Bekanntenkreis als “Das ist Lucy, sie war früher gar niemand." vorgestellt hat, hat Lucy sie als freundlich empfunden - abgesehen von ihren letzten Tagen, in denen sie sie im Nebel ihrer Schmerzen und von Morphium berauscht aufs Übelste beschimpft hat. Lediglich daran dass Lucy sich selbst nie ihre Kleidung aussuchen durfte, da sie von Catherine mit einer neuen Garderobe ausgestattet worden ist, die dabei ihre alten Sachen entsorgt hat, hat sie sich gestört.

Lang verborgene Familiengeheimnisse im ländlichen Maine
Im weiteren Verlauf dieses Romans werden für Lucy und ihren Mann William unerwartete Seiten in Catherines Leben enthüllt, wenn lang verborgene Geheimnisse aufgedeckt werden, die sie ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter gegenüber mit keinem Wort erwähnt hat. So werden die eingangs eingeführten Figuren nach und nach um neue Wesenszüge erweitert, die sich erstaunlich gut zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen, obgleich diese eher konträr zur bisher entworfenen Charakterisierung zu verlaufen scheinen.
Ein Highlight dieses Romans ist für mich dessen zweiter zentraler Schauplatz der Handlung gewesen. Dieser ist im ländlichen Maine angesiedelt, das von der selbst von dort stammenden Elizabeth Strout in atmosphärischen Beschreibungen eingefangen wird. Da hat die Autorin in gelungenen Bildern einen besonderen Roadtrip, den Lucy an der Seite von ihrem Ex-Mann William unternimmt, vor meinem inneren Auge lebendig werden lassen. Dieser beginnt mit ihrer Ankunft am kleinen Flughafen, der Lucy in seiner Weitläufigkeit als ehemaliger Armeestützpunkt, die im Kontrast zu dessen Leere steht, irritiert, setzt sich in idyllischen, aus der Zeit gefallenen Kleinstädten fort und reicht über heruntergekommene Motels bis hin zu verlassenen Ortschaften, überwucherten Straßen und zugewachsenen Häusern, die eher einem Horrorfilm entsprungen zu sein scheinen.

Kleine Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Die einfach gehaltene Handlung, die den Kern dieses Romans bildet, wird durch die kunstfertige Erzählweise von Elizabeth Strout kaschiert. Denn Lucy springt in ihren Gedankengängen von der Gegenwart in die Vergangenheit, wenn das Hier und Jetzt Assoziationen an frühere Ereignisse in ihr weckt. So erinnert sie sich an Bestrafungen durch ihre Mutter in ihrer Kindheit wie das Auswaschen ihres Mundes mit Seife, ihre Ankunft im College, bei der sie von ihrer Lieblingslehrerin begleitet wurde und die eine unbändige Freude in ihr ausgelöst hat, an den Beginn sowie das Ende der Beziehung mit ihrem verstorbenen Mann David und natürlich auch an ihre Schwiegermutter Catherine. Dazu zählen deren Kennenlernen, bei dem sie von Catherine freundlich aufgenommen worden ist, deren erster gemeinsam verbrachter Urlaub auf den Kaimaninseln, der von ihrer Schwiegermutter organisiert worden ist, bis hin zu ihren letzten Wochen, während dessen Lucy bei ihr eingezogen ist, um sie zu pflegen. Durch die einerseits zwar geschickt erfolgende Einbindung der Vergangenheit konnte ich problemlos folgen, da ich stets den Überblick behalten habe. Andererseits ist die Gegenwart derart oft durch frühere Ereignisse unterbrochen worden, dass die im Hier und Jetzt angesiedelte Handlung wiederholt ins Stocken geraten ist.
Dabei hat Elizabeth Strout immer wieder starke Bilder gefunden, die sie in originelle Szenen umgesetzt hat. Diese umfassen etwa Lucys einzige Reise nach Maine für eine Lesung, zu der kein einziger Mensch erschienen ist, Lucys merkwürdige Erfahrung ihrer Besichtigung einer Kaserne draußen beim Flughafen, in der Williams Vater stationiert gewesen ist, sowie ein Licht, das nachts im Turm eines Museums gebrannt und Lucy in einer schwierigen Zeit in ihrem Leben Halt gegeben hat. Diese haben bei mir jedoch keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, indem diese zu rasch abgehandelt worden sind. Da hätte ich mir gewünscht, dass diesen von der Autorin der durch die ruhige Erzählweise bedingte Raum zugestanden worden wäre, damit das in diesem Roman enthaltene Drama seine Wirkung hätte entfalten können. Ohne an den meisten Stellen in die Tiefe zu gehen, habe ich "Oh, William!" als Potpourri empfunden, bei der jeder Erinnerung die Rolle eines Punktes in einem impressionistischen Gemälde zugekommen ist. Diese haben so zwar ein in sich stimmiges Gesamtbild ergeben, verblassten dagegen aber im Einzelnen, wenn sie nur für sich betrachtet ohne größere Bedeutung geblieben sind.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Oh William!
  • Herausgeber: btb Verlag
  • Erscheinungsdatum: 12. April 2023
  • Seitenzahl: 224
  • ISBN-10: 3442773202
  • ISBN-13: 978-3442773206
  • Preis: 12 €