Der Friedhof der vergessenen Bücher von Carlos Ruiz Zafón

 

Wunderschöne Erzählungen an der Grenze zwischen Realität und Traum

 

"Kurz darauf verlieren sich Vater und Sohn,
Dunstgestalten, im Gedränge auf den Ramblas,
ihre Schatten gehen für immer unter im Schatten des Windes."

"Der Friedhof der vergessenen Bücher" stellt die Fortführung des Romans "Schatten des Windes" von Carlos Ruiz Zafón dar. Die im Friedhof der vergessenen Bücher enthaltenen Kurzgeschichten habe ich gelesen, ohne die Schatten des Windes zu kennen. Auch so konnte ich den Stories folgen. Ob die Kurzgeschichten in diesem Buch mit Kenntnis des Vorgänger-Romans eine darüber hinausgehende Tiefe besitzen, indem sie weitere Interpretationsmöglichkeiten bieten, vermag ich aber nicht zu beurteilen.
Die Geschichten dieses Bandes stellen kleine, trotz ihrer Kürze in sich abgeschlossene Kunstwerke dar. Denn diese Stories sind nicht offen gehalten, wenn sie mit einem Abschied, ohne dass es ein Wiedersehen geben wird, oder mit einem Verlust - teils einer Hauptfigur, teils einer zentralen Nebenfigur - enden.

 

Poetischer Schreibstil an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit
Der poetische Schreibstil von Carlos Ruiz Zafón, der seine Geschichten prägt, hat mich bezaubert. In lyrischen Beschreibungen erweckt der Autor eine Welt zwischen den Schatten, an der Grenze zwischen Traum und Realität zum Leben. Dazu gehört etwa eine düstere Bücherfabrik in Barcelona. Dort sucht eine namenlose, hochschwangere, junge Frau in einer einsamen Nacht des Jahres 1905 Hilfe und Zuflucht. Dabei würde diese Bücherfabrik, die durch ihren extravaganten Stil besticht, der sich in zahllosen Türmen, Minaretten, Kuppeln, Gewölben und auf den Simsen hockenden Wasserspeiern niederschlägt, auch jedem Fantasy-Roman zur Ehre gereichen.
Zudem lässt der Autor in seinen Geschichten wiederholt die Grenze zwischen Traum und Wachzustand, Illusion und Wirklichkeit verschwimmen. So etwa in der Geschichte "Blanca und der Abschied", die von der einzigen Freundin Blanca des erst acht Jahre alten David Martín erzählt. David, der trotz seines jungen Alters bereits davon träumt Autor zu werden, denkt sich Geschichten für seine Freundin Blanca aus. Denn Blanca liebt Geschichten, da ihr Vater Autor ist. Und David ersinnt Schauermären und romantische Abenteuer, die von den Gespenstern in der Kathedrale handeln. Die Geschichte "Ein junges Mädchen aus Barcelona" schildert das Leben von Laia, die im Alter von fünf Jahren lernt die Trauer anderer zu lindern. So tröstet Laia Doña Eulalia, indem sie die Illusion ihrer verstorbenen Tochter zum Leben erweckt. Laia wird zu dem kleinen Engel, den Doña Eulalia verloren hat, wenn sie deren Kleider trägt und mit ihrem Spielzeug spielt. Um diese Illusion zu vervollkommnen, muss Laia aber ihr eigenes Selbst vergessen, um stattdessen ganz in der Persönlichkeit von Doña Eulalias Tochter aufzugehen.

 

Charakterisierung der Protagonisten und Beziehung der Figuren zueinander:
Carlos Ruiz Zafón überzeugte mich mit den komplexen Protagonisten und ungewöhnlichen Nebenfiguren seiner Geschichten. So ist Laia eine interessante Hauptfigur. Der Autor erzählt aus Laias Leben beginnend in ihrer Kindheit, bis sie eine junge Frau geworden ist. Sie besitzt das einzigartige Talent, die Illusion eines anderen Menschen heraufzubeschwören, indem sie dessen Persönlichkeit anhand von Erinnerungen und anderen Fundstücken annimmt, um dann ganz zu diesem zu werden. Dabei verschwindet Laia selbst hinter der von ihr getragenen Maske. Innerlich ist sie leer. Es sei denn sie streift sich die Fassade eines anderen Menschen über, indem sie dessen Persönlichkeit vortäuscht.
Die Beziehungen, in denen die verschiedenen Figuren zueinander stehen, sind gut von Carlos Ruiz Zafón herausgearbeitet. Damit meine ich etwa die besondere Freundschaft von David und Blanca. Für Blanca denkt sich der junge, von seinem zukünftigen Autorendasein träumende David Geschichten aus. Die beiden sind genauso einsam, bis sie einander finden. Dabei steht ihre Freundschaft von Anfang an unter keinem guten Stern, da Blanca eine Tochter aus gutem Hause ist, die sich aufgrund ihrer Herkunft nicht mit David abgeben soll. Und so beginnen sich David und Blanca heimlich zu treffen, um ihre Leidenschaft für Geschichten auszuleben. Glaubwürdig beschrieben ist ebenfalls die Beziehung zwischen Laia und Doktor Sentís, der seine Tochter verloren hat und für Laia zum einzigen Vater wird, den sie je kannte.

 

Mein Fazit
Da viele Geschichten mit einem endgültigen Abschied oder Todesfall enden, sind diese oft tragisch, mal dramatisch, mal traurig. Da konnte ich die Verzweiflung und den Schmerz über den erlittenen Verlust der überlebenden bzw. zurückgebliebenen Figuren nachvollziehen. In manchen Geschichten hat mich der Autor aber mit seinem feinen Sinn für Humor überrascht, der etwa die Dialoge zwischen David und Vater Sebastián prägt. Denn dem Vater sind die heimlichen Treffen von David und Blanca, die in seiner Kirche stattfinden, nicht entgangen.
Zudem lässt der Autor nebenher bestechende Analysen zwischenmenschlicher Beziehungen einfließen. Die Erkenntnis, was zum tiefen Fall des einst so geachteten und erfolgreichen Doktor Sentís geführt hat, ist etwa die folgende: "Der Sturz der Gerechten wird stets von jenen betrieben, die ihnen am meisten zu verdanken haben. Man verrät nicht jene, die einem Böses wollen, sondern jene, die einem die Hand reichen, und sei es nur, weil man nicht wahrhaben will, wie tief man in ihrer Schuld steht."

 

4,5 Sterne *****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: La Ciudad de Vapor
  • Herausgeber: S. Fischer
  • Erscheinungsdatum: 26. Mai 2021
  • Seitenzahl: 224
  • ISBN-10: 3103970935
  • ISBN-13: 978-3103970937
  • Preis: 19 €