Rezensionen im Dezember 2022

 

Im Dezember bin ich im Friedhof der vergessenen Bücher an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit gewandelt, habe phantastische Elemente in historischem Kontext im Monster und die ungewöhnliche Kombination aus philosophisch-literarischen Exkursen, die im großen Roman von Mohamed Mbougar Sarr auf Mystik trifft, erlebt. Auch habe ich bei spannenden Kriminalfällen im beschaulichen St. Andrews, im Milieu der albanischen Mafia und im zum Dezember passenden eiskalten Kopenhagen mitgerätselt.

 

30. Dezember 2022: Der lauernde Tod von Marion Todd

26. Dezember 2022: Schneeflockengrab von Heidi Amsinck

22. Dezember 2022: Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr

19. Dezember 2022: Das Leuchten der Rentiere von Ann-Helén Laestadius

14. Dezember 2022: Das Monster und andere Geschichten von Stephen Crane

10. Dezember 2022: Sag Nichts von Patricia Gibney

6. Dezember 2022: Er will dein Ende von Peter James

2. Dezember 2022: Der Friedhof der vergessenen Bücher von Carlos Ruiz Zafón

 

30. Dezember 2022: Der lauernde Tod von Marion Todd

 

Fieberhafte Suche nach einem entführten Baby im beschaulichen St. Andrews

 

Inhalt: An einem Sonntag Ende September wollen DS Chris West und seine Chefin DI Clare Mackay am Wohltätigkeitslauf in St. Andres teilnehmen. Doch kurz vor dessen Start kommt es zu einem Tumult, als sich Vertreter der NEFEW im Zuge ihrer Protestaktion den startenden Läufern in den Weg legen. Die NEFEW demonstriert auf diese Weise gegen McIntosh Water, einen der Sponsoren des Wohltätigkeitslaufs. Denn McIntosh Water plant eine neue Flaschenabfüllanlage in Priory Marsh zu bauen. Durch das ausbrechende Chaos sind Kevin und Lisa Mitchell abgelenkt, die auch am Lauf teilnehmen wollen. So lassen sie den Kinderwagen kurz aus den Augen und ihre Tochter Abi wird entführt. Die ist erst sechs Monate alt und leidet an einem angeborenen Herzfehler.

 

Zur Einordnung in die Reihe um DI Clare Mackay
Der lauernde Tod ist nach den Nummern des Todes der zweite Fall für Clare Mackay. Clare ist zwar kein DCI, sondern bekleidet "nur" den Rang des DI. Damit ist sie aber vor Ort in St. Andrews die ranghöchste Polizistin und leitet somit die fieberhafte Suche nach dem entführten Baby Abi. Aufgrund von dessen Erkrankung beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, weil das Baby auf ein bestimmtes Medikament angewiesen ist.
Der Fall ist damit zwar nicht so außergewöhnlich wie der des ersten Bandes der Reihe.Das Spannungslevel ist aber wegen der dramatischen Ausgangssituation von Anfang an hoch. Auch für Clare ist es ein Start von 0 auf 100. An diesem Sonntag, der für sie dienstfrei sein sollte, ist sie gerade aus ihrem entspannten Frankreich Urlaub zurückgekehrt. Doch schon das erste Kapitel dieses Krimis endet mit einem vermissten Baby.
Indem der lauernde Tod einen eigenständiger Fall darstellt, lässt sich dieses Buch ohne Kenntnis des Vorgängers lesen. Am Rande fließen aber Andeutungen zu einigen unerwartet dramatischen Szenen der Nummern des Todes mit ein. So wäre zu empfehlen die Krimis in der richtigen Reihenfolge zu lesen, um sich in diesem ersten Band der Reihe überraschen zu lassen. Zeitlich ist der zweite Fall von Clare wenige Monate nach dem ersten angesiedelt.

 

Protagonistin Clare Mackay und ihr Umgang mit dem aktuellen Fall
An der logisch analytischen Clare mag ich ihre strukturierte Art an die Ermittlung heranzugehen. Denn dabei beschränkt sich Clare auch als Chefin nicht nur auf das Managen und Führen ihrer Mitarbeiter, indem sie Aufgaben verteilt, Ergebnisse zusammenträgt und das weitere Vorgehen bestimmt. Den wichtigsten Hinweisen geht sie stets selbst nach und ist so tief in die tatsächliche Arbeit eingebunden. Wiederholt rekapituliert Clare den aktuellen Stand der Ermittlungen, wenn sie ihre Gedanken sortiert, um alle relevanten Ansätze zu berücksichtigen und keine Spur, die von Bedeutung sein könnte, außer acht zu lassen. Dabei kann Clare sich auf ihren guten Instinkt verlassen, der sie brauchbare Hinweise vom Rest unterscheiden lässt. Als Chefin verdient Clare sich den Respekt ihrer Mitarbeiter durch ihren Einsatz und nicht etwa durch autoritäres Gehabe. Nur manchmal überschreitet sie eine Grenze und behandelt gerade Chris ein wenig zu mütterlich.
Da es in diesem Fall um ein entführtes Baby geht, haben Clare und ihr Team anders als in vielen anderen Ermittlungen kaum mit unkooperativen Zeugen oder mutmaßlich Verdächtigen zu kämpfen. Zwar sind zu den Hausdurchsuchungen, die Clare und ihr Team gerade zu Beginn durchführen, einige nur widerstrebend bereit. Auf Durchsuchungsbefehle oder richterliche Beschlüsse müssen die Polizisten dafür aber nicht warten. Das treibt das Tempo der Ermittlung hoch, weil es so zu wenig Verzögerung kommt. Schließlich ist es aber ein unerwarteter Zeuge, der Clare auf die richtige Spur bringt.

 

Interessante Nebenfiguren und deren Beziehung zueinander
Weil ein Baby vermisst wird, kann Clare auf Unterstützung der benachbarten Dienststellen zählen. Auch Jim kommt aus seinem Sonderurlaub zurück, den er sich genommen hatte, um seine Frau nach deren erlittenem Schlaganfall zu pflegen. Für Spannungen im Team sorgt dann aber das Auftauchen von DCI Tony McAvettie, der nur für diesen Fall St. Andrews zugeteilt wird. Denn McAvettie hat seine Vorgeschichte mit Chris, dem er einst die Freundin ausspannte. Nun strebt er nach einer Beförderung zum Superintendent und verbringt mehr Zeit mit seiner Bewerbung als mit dem Fall des entführten Babys.
Auch der junge, so übermotivierte Journalist Lyall McGill von der Press Association sorgt zunächst für Irritation. Lyall soll Clare eine Woche lang im Rahmen eines Programms, das zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Polizei und Presse dient, auf Schritt und Tritt begleiten.
Clares Leben abseits der Ermittlungen ist nicht so stark wie im Vorgänger präsent. Denn sie hat sich ganz der Suche nach dem vermissten Baby verschrieben. So fließen Begebenheiten wie eine angespannte Dinnerparty nur am Rande ein, hinterlassen dabei aber doch Eindruck bei mir. Denn die eben erwähnte Einladung zum Dinner ist Clares einzige Auszeit, die sie sich von der Suche nach der entführten Abi nimmt, und die geht leider gründlich schief. So authentisch wie nachvollziehbar schildert Marion Todd dieses von Missverständnissen geprägte Aufeinandertreffen verschiedener Welten.

 

Ungewohnter Schauplatz St. Andrews
St. Andrews steht in diesem Krimi nicht mehr ganz so sehr im Fokus wie im Vorgänger. Und obwohl St. Andrews in diesem Buch eher eine Nebenrolle spielt, führt die Vielzahl von Hinweisen, denen Clare folgt, sie doch von einem Ende von St. Andrews zum anderen. Und so wurden mir zumindest am Rande auch in diesem Band der Reihe St. Andrews und seine Umgebung von der Autorin ein wenig näher gebracht. Denn Clares Ermittlungen bringen sie vom prekären Brennpunktviertel in die Gegend der Luxusvillen von St. Andrews und von der teuren Privatschule zum Sonnenstudio in der Innenstadt und weiter zum von Touristen überlaufenen Hafen.

 

Mein Fazit zum Schluss
Da schon das erste Kapitel mit der Entführung von Baby Abi endete, war die Spannung von Beginn an hoch. So konnte ich dann auch darüber hinweg lesen, dass dieser Fall nicht so ungewöhnlich wie der in den Nummern des Todes behandelte gewesen ist. Obwohl die Autorin Hinweise eingestreut hat, die mich mitraten ließen, konnte mich die Auflösung dieses Krimis überraschen. Nur hätte ich mir da zum Schluss ein wenig mehr Information zu den für mich unerwarteten Tätern gewünscht.

  

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: In Plain Sight
  • Herausgeber: Amazon Publishing Deutschland
  • Erscheinungsdatum: 6. Dezember 2022
  • Seitenzahl: 396
  • ISBN-10: 2496711360
  • ISBN-13: 978-2496711363
  • Preis: 9,99 €

 DI Clare Mackay-Reihe:

  • Band 1: Die Nummern des Todes
  • Band 2: Der lauernde Tod
  • Band 3: Lies to Tell
  • Band 4: What They Knew
  • Band 5: Next in Line
  • Band 6: Old Bones Lie

 

26. Dezember 2022: Schneeflockengrab von Heidi Amsinck

 

Ungewöhnliches Debüt über eine in einer Mordserie an Obdachlosen ermittelnden Journalistin

 

Inhalt: Jensen ist schon seit Monaten wieder aus London zurück. Da sie in der Zeit noch nichts Brauchbares als Reporterin für das Dagbladet verfasst hat, macht sie sich eines Morgens schon sehr früh mit dem Rad auf den Weg zur Arbeit, um das Versäumte nachzuholen. Da ist Kopenhagen noch still, verschneit und menschenleer. Doch in einer verlassenen Gasse der Kopenhagener Altstadt findet Jensen einen jungen, erstochenen Obdachlosen. Und die Geschichte lässt sie nicht mehr los.

 

Protagonistin Jensen und starke Nebenfiguren

Schneeflockengrab ist der Debütroman von Heidi Amsinck, die bereits Kurzgeschichten verfasst hat und für dänische Medien in London geschrieben hat. Abwechslungsreich wird in kurzen Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Diese umfassen neben der Sichtweise von Jensen auch die von Kommissar Henrik Jungersen, der in der Mordserie an Obdachlosen in Kopenhagen ermittelt und mit dem Jensen früher eine Affäre hatte.
Hauptfigur Jensen ist nicht gerade das, was ich eine Sympathieträgerin nennen möchte. Sie lässt ihre Arbeit schleifen, obwohl sie gefördert von ihrer Chefin Margrethe Skov eine Chance nach der nächsten erhält und sie sich selbst nicht so recht erklären kann, woran das nur liegt. Auch Kollegialität scheint keine Stärke von Jensen zu sein. Erst weigert sie sich die Geschichte über den von ihr aufgefundenen Toten zu schreiben, um dann dem Kollegen, der die Story von ihr übernommen hat, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Parade zu fahren und ihn auszuboten. Sympathischere Züge zeigt Jensen nur in der Ausbildung von Margrethes Neffen, den sie jedoch zuerst nur äußerst widerwillig als Praktikanten annimmt, bevor sie ihn dann doch als Reporter auszubilden beginnt.
Abgesehen von den Hauptfiguren überzeugt Schneeflockengrab in seinen starken, mal skurrilen, mal eigenwilligen Nebenfiguren. Das beginnt bei Jensens so autoritärer wie furchteinflößender Chefin Margrethe Skov, die jedoch eine der besten Journalistinnen ist, die Dänemark zu bieten hat. Das reicht über den Politiker Esben, der nicht nur als Frauenheld auffällt und dem Jensen ihre Karriere zu verdanken hat, und dem kantigen Original von Polizeioberrat Mogens Hansen, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint, bis hin zu Margrethes Neffen, der trotz seiner Jugend nicht so unbedarft ist, wie er auf den ersten Blick scheint.

 

Vielzahl relevanter Themen und sozialer Kritik
Nebenher spricht Heidi Amsinck eine Vielzahl relevanter Themen an. Neben der Schlangengrube Borgen, der Jensen wegen ihres Politikerfreundes Esben einen Besuch abstattet, und dem Niedergang der Presse am Beispiel des Dagbladets, für das Jensen tätig ist, setzt die Autorin sich auch mit der Problematik der Obdachlosigkeit in Dänemark sowie unterfinanzierten Jugendwohnheimen und ähnlichen Einrichtungen auseinander. Da im weiteren Verlauf dieses Krimis das in dessen Kern erzählte Familiendrama immer weiter an Bedeutung gewinnt, wäre an dieser Stelle vielleicht weniger mehr gewesen. Mir hätte besser gefallen, wenn die Autorin nicht jedes relevante Thema, zu dem sie ein Statement abzugeben hat, anschneidet, sondern sich stattdessen auf wenige davon beschränkt, sich diesen dafür aber mit mehr Tiefgang gewidmet hätte.

 

Mein Fazit zum Schluss
Zum Schluss hätte ich mir mehr Informationen zum Motiv und Hintergrund des Täters gewünscht, die mir die Autorin leider schuldig geblieben ist. Den Täter hatte ich so recht früh vermutet, da ein Mangel an anderen Verdächtigen bestand, worunter dann für mich zum Schluss hin leider ein wenig die Spannung gelitten hat. Das hätte für mich ein tieferer Einblick in die Gedankenwelt des Täters herausreißen können.
Dafür wird der nächste Band der Reihe, in dem Jensen wohl wieder an der Seite ihres treuen Praktikanten ermitteln wird, in geschickter Weise von Heidi Amsinck vorbereitet. Auch kann ich mir gut vorstellen, dass dieser Fall, der mehr um Betrugsdelikte und Wirtschaftsverbrechen kreisen wird, besser zum starken Schreibstil der Autorin, ihrem eigenwilligen Humor und den schrägen Charakteren passen mag. Denn das intensive Drama, das eigentlich dieses Debüt prägen sollte, ist mir dann gerade zum Ende hin doch ein wenig blass geblieben.

 

3,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: My Name is Jensen
  • Herausgeber: Knaur
  • Erscheinungsdatum: 1. Dezember 2022
  • Seitenzahl: 352
  • ISBN-10: 3426528436
  • ISBN-13:  978-3426528433
  • Preis: 14,99 €

Jensen-Reihe:

  • Band 1: Schneeflockengrab
  • Band 2: Goldmädchenmord 

 

22. Dezember 2022: Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr

 

Ein großer, mystischer Roman um einen besonderen Autor und sein Werk, der zum Ende hin abfällt

 

Inhalt: Während der junge Schriftsteller Diégane Latyr Faye eines Abends durch die Pariser Straßen streift, trifft er zufällig auf die berühmte Siga D., die eine radikal ehrliche, senegalesische Autorin ist. Nach der gemeinsam verbrachten Nacht liest Siga Diégane ein paar Seiten aus dem Labyrinth des Unmenschlichen vor, dessen Autor Elimane ihm bekannt ist. Dieser Roman ist das als verschollen geltende Werk, nach dem Diégane bereits seit langem sucht, diesem aber nie auf die Spur zu kommen vermochte. Daraufhin leiht Siga ihm ihren wertvollsten Besitz, damit auch er das Labyrinth des Unmenschlichen lesen kann, nicht ohne ihm kryptische Warnungen mit auf den Weg zu geben. Und so beginnt Diéganes Reise.

 

Protagonist Diégane Latyr Faye
Mit der geheimsten Erinnerung der Menschen hat Mohamed Mbougar Sarr den französischen Literaturpreis Prix Goncourt des Jahres 2021 gewonnen.
Der Protagonist Diégane Latyr Faye dieses Romans, der aus dem Norden Senegals stammt, lebt mittlerweile in Paris und widmet sich seiner Promotion. Nach seinem ersten kurzen Roman "Anatomie der Leere" arbeitet er nun an seinem Opus Magnum. Da stößt er auf das mysteriöse Werk "Das Labyrinth des Unmenschlichen", dessen Autor Elimane nur diesen einen großen Roman geschrieben hat. Danach ist Elimane verschwunden und niemand weiß etwas über seinen weiteren Verbleib. Zum ersten Mal hat Diégane während seiner Zeit auf dem Militärinternat vom Labyrinth des Unmenschlichen gehört. Er konnte aber seitdem keine weiteren Informationen über diesen Roman in Erfahrung bringen, bis er Siga D. kennenlernt.

 

Ungewöhnliche Kombination aus philosophischer Diskussion und mythischen Elementen
Mit seinem ersten Teil, der den Titel "Das Netz der Spinnenmutter" trägt, hat Mohamed Mbougar Sarr einen starken Beginn für seinen Roman gefunden. Denn dieser mysteriöse Einstieg, der um ein verschollenes Buch kreist, das Diégane schließlich in Händen halten wird, hat mich gleich gefesselt. Doch damit, dass Diégane endlich diesen Roman von T.C. Elimane gelesen hat, ist seine Suche nicht zu Ende, sondern hat gerade erst begonnen.
Am Auftakt der geheimsten Erinnerung der Menschen hat mich die dafür gefundene Kombination aus mythischen Elementen, philosophischen Diskussionen, die im Drogeninduzierten Rausch beginnen und im Zustand absoluter Entspannung enden, sowie Exkursen zur senegalesischen Literatur im Speziellen und dem Schriftstellerdasein im Allgemeinen fasziniert. Denn der Autor hat es geschafft, dass diese ungleichen Teile einander nicht widersprechen, sondern sich zu einem erstaunlich harmonischen, größeren Ganzen zusammenfügen. Dabei führen die tiefsinnigen Gespräche von Siga und Diégane zu Erkenntnissen wie "Ein Zufall ist immer nur ein Schicksal, das man nicht kennt." Und die mythisch angehauchten Elemente umfassen die im Labyrinth des Unmenschlichen erzählte Geschichte, die von einem sagenumwobenen, grausamen König handelt, aber auch die Charakterisierung von Siga D. als Ghul, als bösartige Pythia und Spinnenmutter.
Auch im weiteren Verlauf dieses Romans hat Mohamed Mbougar Sarr mich mit seinen ungewöhnlichen Kombinationen, die von seinem ausdrucksstarken Schreibstil geprägt sind, überzeugt. So wurde etwa abwechselnd von Diéganes erster großer Liebe in Paris im Zeitraffer und dem aus der Veröffentlichung des Labyrinths des Unmenschlichen erwachsenden Skandal erzählt. Letzteres geschieht in Gestalt von Zeitungsartikeln, die Diégane im Pressearchiv liest. Diese reichen von der ersten, begeisterten Besprechung des Romans über weitere Kritiken und dem darauf folgenden Eklat bis hin zu klärenden Interviews.

 

Schwächer ausgefallene Handlungsstränge
Obgleich Mohamed Mbougar Sarr seine Geschichte stets gekonnt erzählt und jede seiner Charakterisierungen gut herausgearbeitet ist, habe ich doch einige Teile als stärker im Vergleich zu anderen empfunden. So ist Siga D. schon bei ihrem ersten Auftritt eine faszinierende Persönlichkeit, über die ich gern mehr erfahren wollte. Ebenso hat mich das große Rätsel um das Labyrinth des Unmenschlichen und dessen mysteriösen Autor Elimane gleich in seinen Bann gezogen. Dagegen sind mir manch andere Handlungsstränge kaum in Erinnerung geblieben und die darin agierenden Figuren wirkten ein wenig blass auf mich. Das schließt etwa die aus Kamerun stammende Autorin Béatrice Nanga mit ein, die so wie Diégane zum Kreis der jungen afrikanischen Schriftsteller in Paris gehört.

 

Das Labyrinth des Unmenschlichen als im Mittelpunkt dieses Romans stehendes Werk
Dafür hat mich die rätselhafte Geschichte um das Labyrinth des Unmenschlichen und seinen Autor Elimane, dessen Geheimnisse erst nach und nach enthüllt wurden, fasziniert. Im Verlauf des Romans habe ich mehr über Elimane, seine Familie und Freunde, dessen Vergangenheit und seine Suche erfahren. Dabei erinnerte mich die geheimste Erinnerung der Menschen trotz des experimentellen Schreibstils phasenweise an einen Kriminalroman. Damit meine ich u.a. die Passagen, in denen erzählt wird, wie verschiedene Figuren dem verschwundenen Elimane nachgespürt haben. Und obwohl der Roman so mehr von der Abwesenheit Elimanes als von diesem mysteriösen Autor selbst geprägt ist, ist Mohamed Mbougar Sarr doch in Elimane das einzigartige Porträt einer charismatischen Persönlichkeit gelungen.

 

Mein Fazit zum Schluss
Nur im Buch Drei, das das letzte Drittel dieses Romans bildet, fällt diese Charakterisierung von Elimane leider schwächer aus. Da hat das Buch eine unerwartet politische Wendung genommen, die kunstvoll in tatsächliche historische Ereignisse eingebunden ist. Das politische Drama gewinnt dabei schnell eine fast schon unangenehme Intensität auch aufgrund seiner expliziten, an Brutalität kaum zu überbietenden Szenen des politischen Protests. Davon wird die Geschichte um Elimane, der in diesem Teil ungewohnt blass bleibt, sein Werk und Dieganes Suche danach in den Hintergrund gedrängt. Da hätte mir besser gefallen, wenn Mohamed Mbougar Sarr sich auf seine eigentliche Geschichte konzentriert und die politischen Themen außen vor gelassen hätte. Leider ist das schwächer ausfallende Ende dieses zuvor so großen Romans für mich auch nicht von seinem Epilog herausgerissen worden. Da hätte ich einen Schluss, der dem ähnelt, den Raphaela Edelbauer für ihren philosophischen Science-Fiction-Romans Dave gefunden hat, als gelungener empfunden.

 

4,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: La plus secrète mémoire des hommes
  • Herausgeber: Carl Hanser Verlag
  • Erscheinungsdatum: 24. November 2022
  • Seitenzahl: 448
  • ISBN-10: 3446274111
  • ISBN-13: 978-3446274112
  • Preis: 27 €

 

18. Dezember 2022: Das Leuchten der Rentiere von Ann-Helén Laestadius

 

Authentisch geschriebener Roman über Rentiere, die Kultur der Samen und das Leben in der Kälte

 

Inhalt: Eines Tages im Winter des Jahres 2008 macht sich die kleine Elsa auf den Weg zum Rentiergehege. Die ganze Strecke legt sie allein auf Skiern zurück, da sie nach ihrem Rentierkalb Nástegallu sehen möchte, um es zu füttern und vielleicht streicheln zu können. Doch als sie am Rentiergehege ankommt, findet sie dort Robert Isaksson vor, der ihr Rentier abgeschlachtet hat. Nástegallu, dem die Ohren abgeschnitten wurden, ist blutig, tot. Von Robert mit dem Tod bedroht, schweigt Elsa über das, was sie gesehen hat. Weder ihren Eltern noch ihrem großen Bruder und auch der Polizei gegenüber verrät sie nicht, dass Robert Isaksson ihr Ren getötet hat. Und so nimmt das Drama seinen Lauf.

Zur Protagonistin Elsa in jungen Jahren und ihrer Familie

Im Winter des Jahres 2008 ist Elsa erst neun Jahre alt. Ihre Familie sind Samen, die als Rentierhalter leben. Elsa wohnt zusammen mit ihrem großen Bruder Mattias bei ihren Eltern. Das gelbe Haus nebenan gehört ihren Großeltern Áddjá und Áhkku. Im Ort besucht Elsa zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Freundin und Cousine Anna-Stina die samische Schule.
Der Schock, mit dem das Leuchten der Rentiere beginnt, sitzt tief. Die junge Elsa findet ihr geliebtes Rentier Nástegallu tot auf. Den Verlust verkraftet sie nur schwer, da sie aus Furcht mit niemandem über dessen Mörder reden kann. Glaubwürdig schildert Ann-Helén Laestadius das Drama zu Beginn des Romans aus Sicht ihrer jungen Figuren. Neben der Perspektive von Elsa, aus deren Warte der Großteil der Ereignisse erzählt wird, umfasst diese aber etwa auch die Gedanken von Elsas großem Bruder Mattias. Dass Elsa noch so jung ist, ist dabei stets präsent, da die Sprache oft kindlich gehalten ist und Elsa viele Worte der erwachsenen Sprache nicht versteht. Abgesehen von Elsas ihrem Alter geschuldete, naive Sicht auf die Welt spielt Sprache von Beginn an eine zentrale Rolle in diesem Roman. Denn die Autorin lässt Elsa einige Worte der samischen Sprache erklären. So nennt Elsa ihre Großeltern etwa Áddjá (Großvater) und Áhkku (Großmutter). Abgerundet wird dies von einem Glossar, das sich am Ende findet und die in diesem Roman verwendete Begriffe der samischen Sprache erläutert.

 

Realistischer, das Drama betonender Schreibstil
Das Buch ist keine leichte Kost, da die Autorin in realistischer Sprache und oft aus kindlicher Sicht die Ausgrenzung, die die Samen in der Vergangenheit erfahren mussten, aber auch in der Gegenwart noch zu erdulden haben, beschreibt. So wurden Elsas Großeltern gezwungen sesshaft zu werden, obgleich Elsa selbst zu jung ist, um die Bedeutung dieses Wortes wirklich zu verstehen. Elsas Großmutter musste die Nomadenschule besuchen und düstere Erinnerungen an diese Zeit verfolgen sie bis heute, wenn sie Elsa aus der Schule abholen muss. Elsas Mutter hingegen wurde von den Samen als Rivgu bezeichnet, da sie keine richtige Samin ist. Erst als Elsas Vater und sie geheiratet haben und Elsas Bruder geboren wurde, hat sich die Akzeptanz von Elsas Mutter verbessert.

Im Hier und Jetzt leidet Elsa unter der Dunkelheit, in der das Haus ihrer Eltern nachts liegt, da die Laternen in diesem Teil des Dorfs abgeschaltet sind. Und als Elsas Vater den Tod des Rentiers bei der Polizei anzeigen will, wird er nicht ernst genommen. Die Polizei weigert sich zum Gehege des toten Rentiers zu kommen, um Spuren des Schneemobils vom Täter zu untersuchen. Und letztlich wird der Tod von Elsas Rentier nur als Diebstahl geahndet, obwohl das Kalb aus Grausamkeit ermordet wurde, um der Familie das Leben schwer zu machen.

 

Mein Fazit

Auch wenn der Roman sich nicht in schönen Naturbeschreibungen ergeht, entwickelt dieser in seinem Verlauf dennoch einen fast meditativen Sog. So beschreibt die Autorin authentisch das ungewohnte Leben in absoluter Kälte, wenn es im Winter schon mal minus 20 Grad werden kann. Jede Pause, die auf dem Schulhof verbracht werden will, ist mit Mühen verbunden. Und jede zurückgelegte Strecke auf tief verschneiten Straßen bedeutet eine nicht zu unterschätzende Anstrengung. Dabei ist Elsa oft auf Skiern unterwegs bzw. mit ihrem Tretschlitten, als sie ihre Skier nach der Erfahrung mit ihrem toten Rentier nicht mehr sehen mag. In detaillierten Beschreibungen hat mir die Autorin dieses Leben, das so anders ist, näher gebracht. So sind etwa die Spiele von Elsa und ihrer Freundin Anna-Stina ungewohnt. Die beiden bauen gern Schneehöhlen und verbringen darin ihre Zeit, bis der Sauerstoff knapp wird. Aus Sicherheitsgründen müssen aber die Beine der Kinder immer draußen bleiben, damit diese schnell rausgezogen werden können, sofern die Höhle einstürzen sollte.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Mermaid of Black Conch
  • Herausgeber: Hoffmann und Campe
  • Erscheinungsdatum: 4. Oktober 2022
  • Seitenzahl: 448
  • ISBN-10: 3455012949
  • ISBN-13: 978-3455012941
  • Preis: 25 €

 

14. Dezember 2022: Das Monster und andere Geschichten von Stephen Crane

 

Ruhig erzählte Kurzgeschichten vom Krieg, einem Monster und Streitereien unter Kindern

 

Inhalt: Henry Johnson, der in einer Kammer über dem Wagenschuppen von Doktor Trescott wohnt, kümmert sich um dessen Pferde. Beim Wagenwaschen kriegt er oft Besuch von Jimmie, der der Sohn des Doktors ist, weil der sich für das dabei in alle Richtungen in Fontänen stiebende Wasser begeistern kann. Am Abend wechselt Henry seine Kleidung, um Miss Bella Farragut in der Watermelon Alley aufzusuchen, der er den Hof macht. Dort verbringt er seine Zeit in Gesprächen mit Miss Bella und ihrer Mutter. Deren bescheidende Wohnung wird dann zum Salon. Doch eines Tages ereignet sich die Katastrophe, während Henry noch bei Miss Bella weilt und der Doktor zu einem Patienten gerufen wurde, als das Haus des Trescotts Feuer fängt.

Protagonist Henry Johnson und seine Beziehung zu anderen Figuren

Die Geschichte "Das Monster", die bereits im Jahr 1897 veröffentlicht wurde, wird abwechslungsreich in kurzen Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Diese umfassen die Sichtweise des jungen Jimmie, von Henry Johnson und weiteren Figuren.
Dabei gelingt dem Autor das Kunststück seine Figuren in nur wenigen Sätzen einzuführen und bereits im ersten Kapitel ihres Auftretens eine glaubwürdige Charakterisierung derselben anzureißen. So ist mir Jimmie gleich als lebensfrohes Kind aufgefallen, das nur mit sich allein voller Freude im Garten Eisenbahn spielen kann. Auch die Beziehung der verschiedenen Figuren untereinander wurde mir in kurzer Zeit vom Autor nähergebracht. Dazu zählt das vertraute Verhältnis zwischen Jimmie und Henry, die einander in ihrem Kummer über die Rügen und Schelten des Doktors verbunden sind, wenn sie etwas angestellt oder verbrochen haben.
Obgleich Henry mir sympathisch war, ist er nicht frei von Fehlern. Denn der Autor hat den Mut besessen, ihm Ecken und Kanten zuzugestehen. So spielt Henry sich manchmal auf, wenn Jimmie geknickt von den Standpauken seines Vaters ist, bevor er ihn tröstet und aufheitert. Auch putzt er sich für seine Bella heraus. Aber als es wirklich darauf ankommt, zögert Henry nicht und riskiert sein eigenes Leben, um den kleinen Jimmie zu retten.

 

Phantastische Aspekte und detaiilierte historische Beschreibungen
In den eher phantastischen Aspekten, die den Brand im Laboratorium des Doktors beschreiben, mit dem Henry sich konfrontiert sieht, hatte die Geschichte fast märchenhafte Züge. Im deren weiteren Verlauf habe ich das Drama um Doktor Trescott und seine Familie, deren Leben nach Henrys Verwandlung in eine Abwärtsspirale gerät, als gelungen empfunden. Der Kürze der Geschichte ist aber geschuldet, das die Reaktion anderer auf den veränderten Henry zu drastisch auf mich wirkte. An diesen Stellen hätte dem Drama gut getan, wenn der Autor seinen Figuren für deren Entwicklung mehr Zeit und Raum gegeben hätte. Auch hätte mich Henrys Sichtweise interessiert. Leider hat die Geschichte keinen richtigen Schluss gehabt, sondern endete scheinbar mittendrin.
Überzeugt hat mich hingegen der Autor mit seinen detaillierten Beschreibungen etwa des genauen Vorgehens, wie damals ein Brand mit Hilfe von Löschzügen bekämpft wurde. Denn so hat er Bilder seiner Zeit vor meinem inneren Auge lebendig werden lassen. Da hat es der Geschichte "Das Monster" meiner Ansicht nach gut getan, dass in der Übersetzung die Sprache nicht modernisiert und dem heute gängigen, politisch korrekten Sprachgebrauch angepasst wurde. Denn das hätte ich vor dem Hintergrund des stimmigen Porträts seiner Zeit, das Crane entwirft, als wenig passend angesehen. Jedem, der sich aber an der vor mehr als hundert Jahren üblichen Wortwahl stört, möchte ich von diesem Buch abraten.

 

Weitere Geschichten dieser Sammlung
Dieses Buch enthält neben der Titel gebenden Geschichte "Das Monster" noch elf weitere Geschichten von Stephen Crane. Dabei tauchen manche Figuren nicht nur in einer, sondern zudem in weiteren Geschichten auf. Beispielsweise ist Jimmie Trescott, der in der Story "Das Monster" eine zentrale Rolle spielt, die Hauptfigur im "Redner in Nöten".
Die Bandbreite der Stories in diesem Buch reicht von eher tragischen Geschichten, wozu neben dem Monster auch "Das kleine Regiment" gehört, bis hin zu leichtfüßig humorvoll erzählten Geschichten wie etwa "Dem kleinen Engel" und "Dem kleinen Biest". In den zuletzt genannten taucht Jimmie Trescott auf und erlebt darin einen denkwürdigen Kindergeburtstag bzw. eine in der Schule außer Kontrolle geratene Streiterei. "Das kleine Regiment" hingegen handelt von den Brüdern Dan und Billie Dempster, die sich am gleichen Tag als Soldaten verpflichtet haben und mittlerweile Veteranen sind. Dabei werden Szenen einer Schlacht in eigenwilliger Ästhetik vom Autor beschrieben, weil das eigentliche Drama in der Beziehung der beiden Brüder besteht.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Monster
  • Herausgeber: Pendragon
  • Erscheinungsdatum: 14. September 2022
  • Seitenzahl: 272
  • ISBN-10:: 3865328075
  • ISBN-13: 978-3865328076
  • Preis: 24 €