Rezensionen im November und Oktober

 

In diesem Zeitraum habe ich eine so persönliche Liebeserklärung an das Kino der 70er Jahre von Tarantino (Cinema Speculation) und intensive Krimi-Dramen über die Abgründe in einem idyllischen Dorf bzw. in der eigenen Familie (Der Sucher, Die Schatten über uns) gelesen. Auch bin ich in ein düsteres Fantasy-Abenteuer (Market of Monsters) eingetaucht, das als Auftakt einer Reihe gerade erst begonnen hat. In Frau mit Messer habe ich einen ungewöhnlichen Krimi über eine alternde Auftragsmörderin gelesen, der sich mehr als soziale Milieustudie entpuppt hat. Bezaubert hat mich die mal dramatische, mal romantische moderne Mythe über die Meerjungfrau Aycayia (Die Meerjungfrau von Black Conch) und die Freundschaften, die sie an Land geschlossen hat. Dabei bin ich um die Welt gereist: von Irland in das Los Angeles der 70er Jahre, weiter nach Peru und über Südkorea bis in die Karibik.

 

16. November 2022: Der Sucher von Tana French

11. November 2022: Cinema Speculation von Quentin Tarantino

10. November 2022: Market of Monsters: Bis auf die Knochen von Rebecca Schaeffer

9. November 2022: Die Schatten über uns von John Marrs

5. November 2022: Frau mit Messer von Byeong-mo Gu

21. Oktober 2022: Die Meerjungfrau von Black Conch von Monique Roffey

 

 

16. November 2022: Der Sucher von Tana French

 

Ruhig erzählter Krimi über eine besondere Freundschaft

 

Inhalt: Calvin John Hooper, der von allen Cal genannt wird, war früher Cop beim Chicago Police Department, ist jetzt aber im Ruhestand. Nach der Trennung von seiner Frau hat er sich aus einer Laune heraus ein baufälliges Haus am Ende der Welt in Irland gekauft. Einige Hektar Land gehören auch mit dazu. Da das kleine Cottage für lange Zeit leer stand, ist Cal nun mit dessen umfangreicher Renovierung beschäftigt. Nachdem er bereits das Badezimmer aufgemöbelt, die Regenrinnen ersetzt und die Eichendielen abgeschliffen hat, bearbeitet er dessen Wände. Da meldet sich sein alter Cop-Instinkt, als sich ihm die Nackenhaare aufstellen. Ist er etwa nicht allein inmitten der ihn umgebenden Natur? Wird er tatsächlich beobachtet, weil nachts einer um sein Haus schleicht, oder bildet er sich das nur ein?

 

Charakterisierungen und Beschreibungen der Natur:
Tana Frenchs ruhige Erzählweise prägt diesen Roman. Die Autorin lässt sich Zeit dafür ihren erst ein wenig spröden Protagonisten Cal vorzustellen, den ich erst nach und nach besser kennenlernen durfte, und das Setting der Cal umgebenden Natur und vom Landleben in Irland zu beschreiben.
Cal ist ein interessanter Protagonist. Dabei hat die Autorin gut eingefangen, wie Cal unter der Trennung von seiner Frau Donna leidet. Dafür hat er verschiedene Strategien ersonnen, um seltener an Donna zu denken, damit er nicht in Versuchung gerät sie anzurufen. Denn das endet nur im Streit. Auch sorgt Cal sich um seine Tochter Alyssa. Zudem ist er, dessen Anspannung in Irland nur allmählich nachlässt, immer noch von seinem ehemaligen Job gezeichnet. Cal hat sich bemüht ein guter Cop zu sein, was ihm früher Spaß gemacht hat, bis das immer mehr zur Belastung wurde. Nun lebt er langsam allein inmitten der Natur bei der Renovierung seines neuen Zuhauses auf. Früher hat er zu viel Zeit hinterm Schreibtisch gesessen. Aber jetzt lässt die harte körperliche Arbeit seine Wampe schmelzen und er fühlt sich fit wie schon lange nicht mehr.
Tana French besticht mit ihren authentischen, intensiven Beschreibungen der Natur. So pflegt Cal ein besonderes Verhältnis zu den cleveren Krähen, die auf seinem Land leben. Diese füttert er mit Resten und dennoch beäugen sie ihn nur misstrauisch, wenn er eine Spur aus Erdbeeren bis zu seinen Füßen legt, um die dann lieber in seiner Abwesenheit zu futtern. Die ihn umgebende Natur erlebt Cal auch beim Angeln, bei Spaziergängen sowie an einem wunderschönen Morgen. Zu Beginn lässt die Autorin Analogien zur Natur oft nebenher einfließen, etwa wenn sie den regionalen Dialekt mit kaltem Flusswasser und dem Wind aus den Bergen vergleicht.

 

Dynamik der Beziehungen und Humor:
Mir gefällt der Humor, der gerade die Szenen prägt, in denen Tana French Dörfler den Städtern und Iren den Jenkies gegenüberstellt. Denn Cal lebt nun unweit des Dorfs Ardnakelty, von dem die nächste Kleinstadt Kilcarrow fünfzehn Meilen entfernt ist. Interessant wird das irische Landleben aus Sicht des zugezogenen Außenseiters Cal geschildert, der sich oft unsicher ist, was im Dorf üblich ist und welche Gepflogenheiten dort gelten. Lustige Szenen ergeben sich daraus, dass Cals Gedanken darum kreisen, wie er wohl von den Einheimischen wahrgenommen wird bzw. in denen deutlich wird, wie diese Cal sehen. Irritiert ist Cal etwa von der lokal beliebten Sportart Hurling, die das Tempo, die Körperbeherrschung und Brutalität von Eishockey kombiniert, dafür aber kein Eis braucht und auf den Großteil der im Eishockey üblichen Schutzausrüstung verzichtet. Auch bei der gemütlichen Polizei vor Ort gelten andere Regeln. Wenn Kinder die Schule schwänzen, gibt es eine Standpauke von der Polizei statt das Jugendamt einzuschalten und damit Außenstehende hinzuzuziehen. Und der Dorftratsch ist ein Phänomen für sich. Eines seiner Zentren ist der Laden von Doreen, in dessen vollgestopftem Sammelsurium alles verkauft wird, was man zum Leben brauchen kann.
Für die Charakterisierung ihrer ungewöhnlichen Figuren lässt Tana French sich Zeit und auch deren Beziehungen entwickeln sich nur allmählich, so dass deren Dynamik einem eigenwilligen Erzählrhythmus folgt. Am besten hat mir die langsame Annäherung von Cal und Trey gefallen, die ohne viele Worte auskommt. Trey hilft Cal bei der Renovierung seines Zuhauses - u.a. die Herrichtung eines alten Sekretärs, der den vorherigen Besitzern gehört hat. Dabei zeigt Cal Trey Schreinerarbeiten, wie er diese von seinem Grandpa gelernt hat. Und so entsteht aus dem erst so distanzierten Verhältnis nach und nach eine ungewöhnliche Freundschaft.

 

Meine Meinung:
Am Rande lässt Tana French soziale Kritik mit einfließen. Denn sie setzt sich mit dem Thema Kinderarmut auseinander, indem sie beschreibt, was ein solcher Mangel an Geld aus einem Kinderleben machen kann. Cals Familie ist in seiner Kindheit arm gewesen und auch Treys Familie ist arm. Die Schilderungen, wie abgeschrieben Treys Familie im Dorf und der nächsten Kleinstadt ist, sind mir nahe gegangen. Abfällig werden sie von allen behandelt, die nur Versager, die zu nichts taugen, in der gesamten Familie sehen.
Der Sucher ist von seinem ganz eigenen Erzählrhythmus geprägt, indem Tana French diesen Krimi auf ihre Weise und in ihrem Tempo erzählt. So dauert es etwa ungewöhnlich lange, bevor überhaupt ein mögliches Verbrechen zur Sprache kommt. Und weil Cal ein Cop im Ruhestand ist, der sich zudem in ihm kaum bekannten Terrain bewegt, muss er ungewöhnliche Wege einschlagen, um diesem Fall nachgehen zu können. Da Cal jegliche rechtliche Handhabe fehlt, greift er etwa auf Tricks zurück, um Einheimische zu befragen. Der Sucher hat mich zu Beginn mit seinem eigenwilligen Humor und seinen wunderbaren, fast schon meditativen Naturbeschreibungen überzeugt. In seinem weiteren Verlauf nahmen die mal tragischen, mal berührenden Momente zu, die auch von einer besonderen Freundschaft erzählen. Und gerade zum Schluss hin konnte mich das Buch dann mit der ein oder anderen unerwarteten Wendung, die ich so nicht habe kommen sehen, überraschen.

 

5 Sterne *****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Searcher
  • Herausgeber: FISCHER Scherz
  • Erscheinungsdatum: 29. September 2021
  • Seitenzahl: 496
  • ISBN-10: 3651025675
  • ISBN-13: 978-3651025677
  • Preis: 21,70 €

 

11. November 2022: Cinema Speculation von Quentin Tarantino

 

So persönliche wie detailverliebte Hommage an das Kino der 70er Jahre von Tarantino

 

Persönliche Einleitung:

Cinema Speculation hat mit "Der kleine Q guckt die großen Filme" eine persönlich geschriebene Einleitung des Autors erhalten. Darin erzählt er etwa von seinem ersten Kino Besuch, der aus einer Doppelvorstellung von John Alvidsons "Joe - Rache für Amerika" und Carl Reiners "Wo is’ Papa?" bestand, als er erst sieben Jahre alt gewesen ist. Das Kino dabei ist das berühmte Tiffany gewesen, das in Mitternachtsvorstellungen, kostümierten Besuchern und Themenabenden das Rocky-Horror-Phänomen lebendig werden ließ. "Joe - Rache für Amerika", dessen Ende Tarantino zwar als Kind verschlafen hat, behielt er als so derbe wie brutale, rabenschwarze Komödie über das amerikanische Klassensystem in Erinnerung. Und für "Wo is’ Papa?" konnte er sich in jungen Jahren allein schon wegen des als Gorilla kostümierten George Segal begeistern. Damit gelingt Tarantino eine originelle Einleitung für sein so persönlich geratenes Buch. Denn diese setzt sich wiederholt damit auseinander, wie ein Kind, das an der Seite seiner Eltern Erwachsenenfilme im Kino der 70er Jahre schauen durfte, diese in der ihm eigenen Perspektive wahrgenommen hat und wie dabei seine Leidenschaft für Filme geweckt wurde.

 

Große Bandbreite der besprochenen Filme:
Im Hauptteil des Buchs widmet sich Tarantino detailverliebt in verschiedenen Kapiteln einzelnen Filmen von den späten 60ern bis in die frühen 80er Jahre. Das beginnt beim legendären Bullitt (1968) mit Steve McQueen, um dann mit dem ebenso ikonischen "Dirty Harry" mit Clint Eastwood fortzufahren, und reicht über "Taxi Driver", der einer meiner Lieblingsfilme ist und den Tarantino im Titel gebenden "Cinema Speculation" zum Anlass nimmt, der Frage "Was wäre, wenn Brian De Palma statt Martin Scorsese Taxi Driver gedreht hätte?" nachzugehen, bis hin zum "Kabinett des Schreckens" (1981).
Das Spektrum der darüber hinaus behandelten Filme umfasst Abenteuerfilme wie "Beim Sterben ist jeder der Erste" (1972), den Tarantino gemeinsam mit seiner Mutter in einer kontroversen Doppelvorstellung mit "The Wild Bunch" gesehen hat, und Thriller wie John Flynns "Mann mit der Stahlkralle" (1977), von dem Tarantino am Premierenabend in Los Angeles umgehauen wurde, und Don Siegels "Flucht von Alcatraz" (1979), den Tarantino erst sehr spät als Siegels ausdrucksstärksten Film für sich entdeckt hat. Dass der Autor auch im weiteren Verlauf dieses Buchs seine spezifischen Film Analysen mit seinen persönlichen Erfahrungen kombiniert, hat mich ebenso wie die große Bandbreite der abgedeckten Filme angesprochen. Neben Abenteuer- und Gangsterfilmen behandelt Tarantino nämlich auch Literarturverfilmungen wie Peter Bogdanovichs "Daisy Miller" (1974) nach der gleichnamigen, klassischen Novelle aus dem Jahr 1878 von Henry James und John Flynns "Revolte in der Unterwelt" (1973), die für Tarantino die beste Verfilmung eines Richard-Stark-Romans ist. Er lässt aber auch Horrorfilme wie Brian De Palmas "Die Schwestern des Bösen" (1972)" als Psycho-Remake auf Metaebene und Filme mit Anleihen beim Sensationskino wie Schraders "Hardcore - Ein Vater sieht rot" (1979) nicht aus.

 

Meine Meinung:
Tarantino teilt sein nahezu unerschöpfliches Wissen zu Filmen der 70er Jahre. Im Fall von Bullitt (1968) lässt er etwa Hintergrundinformationen zur entscheidenden Rolle von Neile Adams, der Frau von Steve McQueen, bei seiner Karriere mit einfließen. Neile war diejenige, die die Drehbücher für ihren Mann gelesen hat. Darüber hat sie eine eindrucksvolle Auswahl getroffen, an welchen Filmen ihr Mann dann als Schauspieler beteiligt gewesen ist. Auch ordnet Tarantino den jeweiligen Film in seinen Kontext zur Filmgeschichte ein. So hat Bullitt das Genre des Polizeifilms revolutioniert, indem Steve McQueen diesen gut gekleideten, unglaublich coolen Cop gespielt hat. Zudem zieht Tarantino Vergleiche zu anderen Filmen, indem er etwa die Bedeutung des Films Bullitt für Steve McQueen mit der von "Dirty Harry" für Clint Eastwood gleich setzt.
Man muss die von Tarantino besprochenen Filme nicht unbedingt gesehen haben, um ihm in den wesentlichen Punkten seiner Ausführungen folgen zu können. Denn der Autor liefert nebenher stets eine kurze Zusammenfassung des im Kapitel besprochenen Films. Zugegebenermaßen hatte ich aber umso mehr Spaß an dem Buch, desto besser ich mich an den jeweiligen Film erinnern konnte, weil ich so Tarantinos zahlreiche Andeutungen und Kommentare in Klammern einfach besser verstanden habe. Den unnachahmlichen Stil von Tarantino, den ich an seinen Filmen schätze, wenn er sich durch das Kino der 70er Jahre zitiert, habe ich auch in diesem Buch wiedergefunden.

 

Leider fehlenden Filmverzeichnis und Personenregister:
Tarantino fokussiert sich aber selten nur auf einen einzigen Film. Bei seiner Auseinandersetzung mit dem einen Film schweift er ab, indem er von diesem zum nächsten springt. An den Stellen, wo mir zu viele Schauspieler, Regisseure oder Filme nicht bekannt gewesen sind, hat der Autor mich leider häufiger kurzzeitig abgehängt. Dabei haben mir umfangreichere Anhänge gefehlt, die in diesem Buch nur aus Fußnoten bestehen. Ein Personenverzeichnis, das die in diesem Buch erwähnten Regisseure und Schauspieler (u.a. George Segal, George Maharis, Bobby Darin) auflistet, hätte ich als ebenso hilfreich wie ein Verzeichnis der auch nur am Rande erwähnten Filme (z.B. "The Wild Bunch", "Joe - Rache für Amerika", "Wo is’ Papa?") empfunden. In der so vorliegenden Form kann ich "Cinema Speculation", das eine großartige, persönliche, so viel komprimiertes Wissen umfassende Hommage an das Kino der 70er Jahre ist, guten Gewissens nur Hardcore Cineasten empfehlen.
Für Tarantino-Fans wäre ein abschließendes Kapitel schön gewesen, das den Bezug der in diesem Buch besprochenen Filme zu seinem eigenem Werk herstellt. So sind Tarantinos Jackie Brown und Death Proof beispielsweise von Exploitation bzw. Blaxploitation-Filmen der 70er Jahre geprägt. Auch zitiert Tarantino sich in seinen Filmen so gekonnt durch das Kino der späten 60er bis frühen 80er Jahre, das er oft lange Listen an zuvor zu sehenden Filmen herausgibt, damit man dem als Zuschauer folgen kann. Bei Tarantinos Western "The Hateful Eight" besteht diese Liste etwa aus den fünf Filmen "Das Ding aus einer anderen Welt", "Khartoum - Der Aufstand am Nil", "Man nannte ihn Hombre", "Mord im Orient Express" sowie "The Wild Bunch" und ist damit vergleichsweise kurz ausgefallen.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Cinema Speculation
  • Herausgeber: Kiepenheuer&Witsch
  • Erscheinungsdatum: 3. November 2022
  • Seitenzahl: 400
  • ISBN-10: 3462004298
  • ISBN-13: 978-3462004298
  • Preis: 26 €

 

10. November 2022: Market of Monsters: Bis auf die Knochen von Rebecca Schaeffer

 

Gelungener Auftakt der Market of Monsters-Reihe rund um eine soziopathische Antiheldin

 

Inhalt: Nita, die mit ihrer Mutter in Peru lebt, hilft im illegalen Familienunternehmen aus. Denn Nitas Mutter jagt Unnatürliche, deren Leichen Nita daheim im Sezierraum in ihre Einzelteile zerlegt, so dass ihr Vater diese online verkaufen kann. Doch alles geht schief, als Nitas Mutter von ihrer letzten Geschäftsreise den jungen Fabricio mit nach Hause bringt, den sie einem Sammler in Buenos Aires gestohlen hat. Da Fabricios besondere Fähigkeiten ausschließlich darin zu bestehen scheinen hervorragend zu schmecken, hat Nitas Mutter beschlossen, ihn nur betäubt in ein Flugzeug zu verfrachten. Nun will sie ihm im Sezierraum mit Nitas Hilfe möglichst frisch einzelne Körperteile abschneiden, um diese meistbietend im Darknet zu verkaufen. Aber in Nita, die zuvor nur mit Leichen zu tun hatte, regt sich nach einem verbotenen Gespräch mit Fabricio ihr Gewissen und so nehmen dann verhängnisvolle Ereignisse ihren Lauf.

Figuren und Dynamik der Beziehungen:

Bis auf die Knochen ist der erste Band einer Reihe um den abgründigen Market of Monsters. Nita ist dessen ungewöhnliche Protagonistin. Dabei hat mir gut gefallen, dass Rebecca Schaeffer den Mut hatte, ihrer Antiheldin mehr als nur ein paar Ecken und Kanten zuzugestehen. In ihrer antisozialen Charakterisierung ist Nita wenig sympathisch. Ihre Abneigung gegenüber anderen Menschen reicht so weit, dass sie diese weder in ihrer Nähe dulden, noch ein längeres Gespräch mit ihnen führen mag. Dafür liebt sie ihre Sektionen. Diese Leidenschaft gleicht aber eher einer Sucht. Denn das Zerlegen der von ihrer Mutter gejagten Unnatürlichen ist das einzige, was Nita Ruhe und Frieden verschafft. Dabei ist Nita, die sich in ihrer Freizeit in die Lektüre von wissenschaftlichen Magazinen vertieft und von einer Karriere an der Universität träumt, intelligent. So ist sie selbstreflektierend genug, um sich als Soziopathin zu erkennen, der nur ein kleiner Rest Moral verblieben ist. Anders als ihre Mutter hält sie daran fest, da sie sich diesen unbedingt bewahren will.
Auch verfügt Nita als Unnatürliche über besondere Fähigkeiten, die sie von ihrer Mutter geerbt hat. Nita und ihre Mutter besitzen eine außergewöhnliche Kontrolle über ihren Körper, die sie etwa ihre Wundheilung beschleunigen lässt. Nitas Mutter ist zudem eine gute Kämpferin, indem sie ihre Muskeln verstärkt, damit sie schneller laufen und fester zuschlagen kann.
Die Dynamik der Beziehung zwischen Nita und ihrer Mutter ist gut von Rebecca Schaeffer herausgearbeitet. Zu Beginn steht Nita unter der Fuchtel ihrer furchteinflößenden Mutter, die sie liebt, vor der sie aber auch Angst hat. Denn Nitas Mutter ist unberechenbar, wenn sie wütend wird. Das Geld, was sie mit dem Familiengeschäft verdient, ist das sie antreibende Motiv. Und so hat die Autorin in intensiver, aber nachvollziehbarer Weise geschildert, wie der zuvor nur zwischen Nita und ihrer Mutter schwelende Konflikt über deren Streit wegen Fabricio eskaliert.

 

Phantastisches Setting und Spannungsbogen:
Rebecca Schaeffer hat in ihrem Roman eine alternative Realität rund um die von ihr beschriebenen Unnatürlichen entworfen. Diese reichen von Chupacabras und die Seelen von Jungfrauen fressenden Einhörnern, über Ghoule und Pishtacos bis hin zu Zannies. Letztere verdingen sich meist als Folterknechte der Mafia, indem sie sich von Schmerzen anderer ernähren. Dabei tauchen die Unnatürlichen nicht nur auf illegalen Schwarzmärkten auf, weil die Autorin eine ganze Welt erschaffen hat, die um ihre Existenz weiß. So gibt es die INHUP. Das ist die extraterritoriale Polizei, die für alle Vorfälle im Zusammenhang mit Unnatürlichen verantwortlich ist. Im Fernsehen werden Interviews mit Wissenschaftlern ausgestrahlt, die sich mit der Genetik der Unnatürlichen auseinandersetzen. Eine These dabei lautet, dass sich mittels der Identifizierung der relevanten Erbinformationen gefährliche Unnatürlich bereits vor deren Geburt ausmerzen lassen. Zudem gibt es Wissenschaftsmagazine, die Artikel über die Anatomie Unnatürlicher veröffentlichen.
Der Einstieg in diesen düster abgründigen Fantasy-Roman ist rasant Es dauert nur wenige Seiten, bis Nitas Mutter Fabricio mit nach Hause bringt und Nitas sonst so geregelter Alltag durcheinandergerät. Dabei habe ich über kurze, eingeschobene Rückblicke in Gestalt von Erinnerungen mehr über Nitas Werdegang und das illegale Familiengeschäft erfahren. Dadurch dass die Autorin das Setting, das aus einer Welt besteht, in der Unnatürliche Teil des Alltags sind, nebenher einführt, wird das hohe Erzähltempo nicht ausgebremst. So beginnt der Roman stark als intensiv unangenehmes, fast schon klaustrophobisch zu nennendes Kammerspiel, als sich zwischen Fabricio, Nita und ihrer Mutter in deren Wohnung abspielt. Intensität und Tempo werden von der Autorin über den zwischen Nita und ihrer Mutter eskalierenden moralischen Konflikt angezogen, der in mehr als eine Flucht mündet und an deren Ende Nita auf dem Titel gebenden Markt landet.

 

Meine Meinung:
Nach diesem starken ersten Teil schleichen sich jedoch Längen ein. Nita ist zwar jung, aber nicht so jung. Als abgebrühte, soziopathische Seziererin hat sie mir besser gefallen als in ihren kindischen Eigenheiten (z.B. Disney-Playlist). Am Anfang ist das Tempo so hoch, dass ich darüber einfach hinweg lesen konnte, aber wenn die Erzählweise ruhiger wird, fallen diese Schwächen und Widersprüchlichkeiten in der Charakterisierung stärker ins Gewicht. Zudem wiederholen sich die Themen in Nitas inneren Monologen in ähnlicher Weise und ziehen die Handlung so unnötig in die Länge, ohne dass sie Nitas Entwicklung vorantreiben würden. Besser hätte mir gefallen an dieser Stelle zu kürzen und stattdessen mehr furchteinflößende Auftritte von einem gefährlichen Vampir, der noch eine Rechnung mit Nitas Mutter offen hat, und Miss Reyes, der ungekrönten Königin der Körperteile, die den letzten König gestürzt hat, mit einfließen zu lassen. Statt die ganze Geschichte nur aus Sicht von Nita zu erzählen, hätten mich auch die Perspektive von amerikanischen Touristen, wie sie den Markt in seiner Gänze erleben, und besonders von Miss Reyes interessiert.
Wer einen typischen New Adult Fantasy-Roman lesen möchte, ist bei diesem Buch an der falschen Stelle. Denn Sympathieträger sucht man darin vergebens. Zannies haben aufgrund ihrer Natur eine Vorliebe fürs Foltern, Nita hegt eine morbide Leidenschaft für das Zerlegen von Leichen und Nitas Mutter jagt ihren Opfern gern Angst ein, bevor sie ihnen, ohne mit der Wimper zu zucken, Körperteile mit dem Messer abtrennt. Beim Ausloten menschlicher Abgründe und denen von Unnatürlichen, was bei Rebecca Schaeffer zu Beginn noch so intensiv ausgefallen ist, hätte ich mir im weiteren Verlauf eine größere Bandbreite gewünscht, die ein legendärer, illegaler Monstermarkt doch eigentlich bieten müsste.
Das explosive Finale hat mich dann für einige der Längen, die den Mittelteil dieses Romans geprägt haben, entschädigt. Die Twists, mit denen die Autorin zum Schluss aufwartet, habe ich zwar größtenteils zuvor so vermutet, gefallen hat mir aber, dass diese schlüssig und stimmig sind. Und da das Ende recht offen ausgefallen ist, bin ich schon gespannt auf den nächsten Band der Reihe, den ich bestimmt lesen werde.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Not Even Bones
  • Herausgeber: Piper
  • Erscheinungsdatum: 27. Oktober 2022
  • Seitenzahl: 384
  • ISBN-10: 3492706916
  • ISBN-13: 978-3492706919
  • Preis: 17 €

Market of Monsters-Reihe:

  • Band 1: Bis auf die Knochen
  • Band 2: Nur die Asche bleibt
  • Band 3: When Villains Rise

 

9. November 2022: Die Schatten über uns von John Marrs

 

Inhalt: Mia und Finn ersteigern bei einer Auktion ein Haus, ohne dies zuvor besichtigt oder dafür ein Gutachten in Auftrag gegeben zu haben. Völlig überraschend erhält das junge Paar den Zuschlag für das Haus, das Finns Mutter Debbie in einer Anzeige entdeckt hat. So sind die beiden beim ersten Anblick der Ruine, die ihr neues Zuhause werden soll, geschockt. Denn die Jahrzehnte zuvor stand dies leer, da es in dieser Zeit unbewohnt gewesen ist. Mia und Finn bemühen sich aber dem jeweils anderen eine glückliche Miene vorzuspielen. Doch das wirklich grausige Geheimnis zu entdecken, das sich auf dem Dachboden dieses Hauses verbirgt, steht den beiden noch bevor.

 

Figuren und Dynamik der Beziehungen:
Die Thriller-Elemente, die John Marrs in sein sonst abwechslungsreich erzähltes Familien-Drama einstreut, zeigen sich etwa zu Beginn. Auf das einleitende Zitat des berühmten Serienmörders Ted Bundy folgt der unheimliche, zeitlich knapp vierzig Jahre zuvor angesiedelte Prolog, der aus Tätersicht geschrieben ist. Da ist der angehende Mörder noch ein Kind, das das grausame Treiben seiner Eltern in eben dem Haus beobachtet, das Mia und Finn Jahrzehnte später renovieren und beziehen wollen. Dabei ist der Prolog so düster ausgefallen wie atmosphärisch dicht erzählt und gibt diesem Buch seine Thriller Richtung vor.
Ohne diese Einleitung hätte ich den ersten Teil dieses Thrillers für ein Familien-Drama halten können, das das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Mia, Finn und Finns Eltern präzise analysiert. Denn die vier leben schon länger auf engem Raum, genauer gesagt unter dem Dach von Finns Eltern zusammen. Das hat jeden zwischen Mia und ihrer Schwiegermutter Debbie, deren Wunschschwiegertochter Finns Ex-Freundin und Jugendliebe Emma gewesen wäre, schwelenden Konflikt aufbrechen lassen. Was die eine will, lehnt die andere ab und keine von beiden bemüht sich auch nur einen Schritt auf die andere zuzugehen. Dabei steht Finn zwischen den Fronten. Das weitere Probleme wie Debbies schwere Krankheit die Familie belasten, macht die Sache nicht gerade leichter. Auch ist das Geld knapp, seit die Firma von Finns Vater Dave den Bach runtergegangen ist und der sich nun in seinem Alter von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob hangeln muss. Das letztlich von Mia und Finn ersteigerte Haus sollte eigentlich Dave und Debbie helfen, die mit der Renovierung und dem Weiterverkauf dieses Hauses das von ihnen dringend benötigte Geld verdienen wollten. Doch mit dessen weit kostenintensiveren Sanierung als ursprünglich gedacht haben sich nun auch Mia und Finn finanziell übernommen. Denn die beiden leben nur von Mias Einkommen und Dave wie Finn müssen das meiste am Haus selbst renovieren, da sie sich das sonst nicht leisten könnten. In der Beschreibung der Konflikte lässt John Marrs jeden der vier zu Wort kommen. Dabei wechselt die Perspektive von Mia zu Finn und zu dessen Eltern. So erhält jede der Figuren den Raum Einblick in ihre Sicht auf die Dinge zu gewähren und ihre Vorbehalte einer der anderen handelnden Personen gegenüber zu äußern.
Obwohl ich so tiefe Einblicke in die Gedankenwelt dieser vier erhalten habe, hat mir dabei eine Identifikationsfigur gefehlt, weil keine wirkliche sympathische Figur darunter gewesen ist. Debbie ist ein Schwiegermutteralbtraum, da sie sich viel zu sehr in Finns und Mias Leben einmischt. Mia ist wenig umgänglich, indem sie launisch und impulsiv ist. Dave trinkt zu viel und Finn hat Geheimnisse.

 

Tätersicht und abwechslungsreiche Erzählweise:
Dass der erste Teil dieses Buchs nicht gänzlich in ein Familien-Drama abdriftet, wird durch die eingeschobenen Kapitel verhindert. Diese schildern aus Tätersicht seine Aktionen in der Vergangenheit und der Gegenwart, in der er etwa das Haus beobachtet, nachdem Mia und Finn dies gekauft haben. In den Kapiteln, die zeitlich Jahre bzw. sogar Jahrzehnte zuvor angesiedelt sind, wird sein Werdegang erklärt. Dabei wird deutlich, wie er von seinen Eltern geprägt wurde und was das verdrehte Motiv für seine Taten ist, das ihn von seinen abgründigen Eltern unterscheidet. Da sich seine Handlungen gegen Kinder richten, die nicht unbedingt im letzten Moment gerettet und vor dem Schlimmsten bewahrt werden, ist dieser Thriller trotz seiner ruhigen Erzählweise, die ihn oft an ein Familien-Drama erinnern lässt, und seines Verzichts auf explizite, blutig brutale Szenen weniger gut für zu Sensible geeignet.
Überzeugt hat mich der Autor mit seiner intensiven Erzählweise, in die er Presseberichte mit einfließen lässt. Das reicht von Mitschriften eines Interviews, über die Transkription eines Podcast bis hin zur Wiedergabe einer Pressekonferenz der Polizei. Spannung wird durch diese Einschübe erzeugt, da diese meist ein wenig vorgreifen und noch ausstehende Entwicklungen andeuten. So haben mich diese einerseits in diesem Thriller miträtseln und dessen Auflösung noch mehr entgegenfiebern lassen. Andererseits haben diese in Kombination mit den aus Tätersicht geschilderten Kapiteln die düstere Vorahnung, das Mias Familie noch Schlimmes bevorstehen wird, und die unheimliche Atmosphäre einer nahenden Bedrohung verstärkt.

 

Mein Fazit zum Schluss:
Im letzten Drittel dieses Thrillers zieht John Marrs das Tempo an, indem eine Enthüllung auf die nächste folgt, die das bisher Erzählte auf den Kopf stellt. Da Figuren, aus deren Sicht zuvor ausführlich die Ereignisse erzählt wurden, dabei drastische Geheimnisse verborgen haben, waren diese Wendungen zwar unerwartet für mich. Die Charaktere verlieren jedoch leider an Glaubwürdigkeit, wenn dann teilweise ausgiebige Erklärungen nachgeschoben werden müssen, um vorherige Handlungen, die eher im Widerspruch zum später erfolgenden Twist zu stehen scheinen, zu rechtfertigen. Ich denke, der Thriller hätte dadurch gewinnen können, wenn die in früheren Kapiteln geschilderten Gedankengänge kürzer ausgefallen wären. Dafür bin ich von einem wirklich bösen, starken Finale überrascht worden, das ich so nicht habe kommen sehen und das mich für einige Längen im Mittelteil dieses Thrillers entschädigt hat. Der Autor war mutig genug sich gegen ein gefälliges Ende zu entscheiden und hat sein Familien-Drama in aller Konsequenz zu Ende erzählt. Damit ist ihm ein eindrucksvoller Schluss gelungen, der bei mir wohl noch ein wenig länger nachwirken wird.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Keep It In The Family
  • Herausgeber: Amazon Publishing Deutschland
  • Erscheinungsdatum: 8. November 2022
  • Seitenzahl: 430
  • ISBN-10: 2496711719
  • ISBN-13: 978-2496711714
  • Preis: 9,99 €

 

5. November 2022: Frau mit Messer von Byeong-mo Gu

 

Präzise Charakterstudie einer so ungewöhnlichen wie tödlichen Antiheldin

 

Inhalt: Hornclaw sitzt in der U-Bahn. Ihr Look, der aus einem elfenbeinfarbenen Filzhut, einem T- Shirt mit Blumendruck, einem khakifarbenen Leinenmantel und einer schwarzen Hose besteht, ist die perfekte Fassade einer Mittelklasse-Seniorin. Doch Hornclaw, die in der Schädlingsbekämpfung tätig ist, ist zum Arbeiten dort. Und so endet einer der anderen Anwesenden mit einem Gift getränkten Messer im Rücken, ohne dass es den vielen Fahrgäste, die wie Moluskeln aneinandergedrängt die U-Bahn füllen, aufgefallen wäre.

 

Charakterisierungen und soziale Milieustudie:
Byeong-mo Gu hat eine starke Einführung für ihre ungewöhnliche Protagonistin gefunden. Denn dieser Roman wird primär aus Sicht der Titelgebenden Frau mit Messer erzählt. Das ist Hornclaw, die nur unter ihrem Decknamen bekannt ist. Trotz ihres Alters, das jenseits der 65 Jahre liegt, ist sie immer noch eine fähige Auftragsmörderin. Zwar gibt sie sich manchmal Tagträumereien von einem kleinen Imbiss hin, in dem sie Hühnchen verkaufen will, aber eigentlich denkt sie gar nicht daran in den Ruhestand zu gehen. Dabei ist sie schon so lange im Geschäft, dass Mr. Son bereits der dritte Agenturchef ist, für den sie arbeitet. Hornclaw hätte selbst nie erwartet derart lang zu überleben. Und so gehört sie gleich zwei verschiedenen Minderheiten unter Auftragsmördern an: den Frauen und den Alten.
Der Roman gibt tiefe Einblicke in die Gedankenwelt Hornclaws. Dabei verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, wenn Hornclaw sich Erinnerungen hingibt. Auch führt sie innere Zwiegespräche mit Ryu, der sie einst ausgebildet hat und dessen Kommentare zu ihren aktuellen Handlungen sie sich genau vorzustellen vermag. Denn sonst ist Hornclaw allein - abgesehen von ihrer schlauen, ihre Herrin so wie sie ist akzeptierenden Hündin Deadweight.
Indem der Roman weniger aus Dialogen und mehr aus Gedankengängen besteht, in denen sich Gegenwart und Vergangenheit abwechseln, fiel mir deren zeitliche Einordnung und generell der Einstieg in diesen besonderen Roman nicht unbedingt leicht. Da auch dessen Schauplatz Seoul nicht unbedingt für den internationalen Massenmarkt kompatibel beschrieben wird, hat dieser Roman aber einen der ungewöhnlichsten Anfänge, die ich seit langem gelesen habe. Seoul ist bei Byeong-mo Gu nicht die freundlich lächelnde Touristenstadt. Als Seniorin ist Hornclaw nicht nur in der Arbeit, sondern auch in ihrem Alltag fortwährend abfälligen Bemerkungen ausgesetzt (z.B. wenn sie ein Fitnessstudio besucht oder sich die Nägel machen lassen will). Der Humor ist nicht unbedingt das, was ich gewohnt bin, aber das der so bissig ausgefallen ist und nach allen Seiten ausgeteilt hat, hat mir gut gefallen. Am Rande lässt die Autorin eine Vielzahl sozial relevanter Themen mit einfließen, die etwa die Verdrängung traditioneller koreanischer Märkte durch große Supermärkte oder auch die Versorgung der Armen in Kliniken zweiter Klasse betreffen. Hornclaw ist zwar selbst nicht von Armut betroffen, doch um unauffällig zu bleiben, bewegt sie sich in diesen Vierteln und registriert, wie hart die dort lebenden Menschen unter der Rezession zu leiden haben.

 

Mein Leseeindruck:
Da Byeong-mo Gu sich Zeit damit lässt, ihre ungewöhnliche Antiheldin vorzustellen und die sozialen Zustände des sie umgebenden Seoul zu schildern, braucht die Handlung ein wenig bis sie in die Gänge kommt. Längen hat der Roman aber keine für mich gehabt, weil Spannungsschübe immer dann aufkommen, wenn zeitlich in der Vergangenheit angesiedelte Ermordungen geschildert werden. Dabei gleicht keine Tat der anderen. Hornclaw und ein junger, talentierter Kollege sind Profis. Indem die Schädlingsbekämpfer nie erfahren, wer die Agentur beauftragt hat, bleibt im Gegensatz zu vielen anderen Krimis das Motiv meist im Dunkeln. Stattdessen wird die Manipulation des Tatorts und insbesondere die Beseitigung aller Beweismittel ausführlich beschrieben. Bei den Taten von Hornclaw, die erst wenige Wochen oder Monate zurück liegen, ist aber das größte Problem ihr Alter. Sie ist dafür zwar erstaunlich fit, da sie täglich trainiert, doch ist sie unvorsichtiger, wird schneller müde und ihre Verletzungen heilen nicht mehr so leicht wie früher.
Dieser Roman hat mich in der präzisen Charakterisierung seiner ungewöhnlichen Antiheldin überzeugt, die in all ihren Facetten beschrieben wird. Zudem bindet Byeong-mo Gu soziale Aspekte mit ein, indem sie ein Porträt der Stadt Seoul entwirft, das nicht der glänzenden, hypermodernen Fassade entspricht, die Touristen zu sehen bekommen, sondern von ärmeren Vierteln geprägt ist. Dort leben die Alten und Abgehängten, die am schwersten von der Rezession getroffenen wurden. In diesen Teilen ist der Roman mehr Drama, das von schweren Schicksalen erzählt, und hat seine berührenden Momente, wenn die sonst so distanzierte Auftragsmörderin Hornclaw weich wird und sich hilfsbereit zeigt. Die Krimi-Elemente dieses Buchs sind durch dessen Auftragsmörder-Thematik gegeben. Dabei beschreibt die Autorin aber weniger explizite Szenen, sondern würzt den Roman mit ihrem eigenwilligen, so bissigen wie schwarzen Humor.

 

Mein Fazit:
Im Verlauf des Romans werden unterschiedliche Ereignisse aus Hornclaws Vergangenheit enthüllt, die sich auch auf die Gegenwart auswirken. So baut die Autorin verschiedene Handlungsstränge auf, die schließlich in einem Action-geladenen Finale zusammenlaufen, das mich in seinen Schießereien und Stunteinlagen an die R.E.D.-Filme mit Bruce Willis erinnert hat. Für mich hat dieser Schluss aber nicht so gut mit dem zuvor Erzählten zusammengepasst. Denn der Roman ist bis zu diesem Punkt von seiner ruhigen Erzählweise bestimmt gewesen, so dass dieser mehr tiefergehendes Charakter-Porträt einer ungewöhnlichen Antiheldin und mal tragische, mal lustige soziale Milieustudie gewesen ist.
Leider ist der Roman dann ziemlich plötzlich zu Ende. Dass ich so mit offenen Fragen zurück geblieben bin, die insbesondere das Motiv für diverse Morde betreffen, habe ich als schade empfunden. Durch den nachgeschobenen Epilog hat die Autorin das sonst so offene Ende immerhin ein wenig abgefangen. Dieser Epilog wird von Alltagsszenen dominiert, deren Zusammenhang sich erst nach und nach erschließt. Klare Antworten bleibt die Autorin auch an dieser Stelle schuldig. So hoffe ich, dass dies nicht das letzte Buch von Byeong-mo Gu rund um die Schädlingsbekämpfer der Agentur gewesen sein wird und das vielleicht im nächsten Band noch einige Antworten - gerade im Hinblick auf die Auftraggeber - nachgeliefert werden.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Herausgeber: Ullstein
  • Erscheinungsdatum: 19. Oktober 2022
  • Seitenzahl: 288
  • ISBN-10: 3550201508
  • ISBN-13: 978-3550201509
  • Preis: 22,99 €

 

21. Oktober 2022: Die Meerjungfrau von Black Conch von Monique Roffey

 

Eine so dramatische wie romantische und betörende moderne Mythe über die Meerjungfrau Aycayia

 

Inhalt: m April 1976 heuern Thomas und Hank Clayson für ihre Boston-Whaler-Yacht Dauntless eine einheimische Crew an, um am jährlichen Angelwettbewerb von Black Conch teilzunehmen. Der Vater Thomas hat seinen Sohn Hank, der ihm eine zu große Leidenschaft für Bücher hat und zu sehr zur Poesie neigt, auf diesen Ausflug mitgenommen, um einen richtigen Mann aus ihm zu machen. Eine fatale Kette von Ereignissen setzen die beiden in Gang, als der Sohn im Rahmen des Angelwettbewerbs eine Meerjungfrau am Haken hat und es dem Vater nach einem grausamen, Stunden andauernden Kampf gelingt, die Meerjungfrau Aycayia aus dem Meer ins Boot zu ziehen, zu fesseln und zu knebeln. Denn Aycayia wehrte sich mit allem, was ihr zur Verfügung stand, obwohl sie aus dem Mund blutete, in den der Haken getrieben worden ist. Die Einheimischen wissen, dass es falsch ist, eine Meerjungfrau wie einen Fisch zu angeln. Doch das von Thomas in Aussicht gestellte schnelle Geld, das sie mit der Meerjungfrau verdienen können, die Millionen wert sein muss, bringt ihre Bedenken zum Schweigen. Und so endet Aycayia kopfüber hängend am Pier, als sie wie ein im Rahmen des Angelwettbewerbs gefangener Fisch als Trophäe zur Schau gestellt wird.

 

Außergewöhnliche Figuren:
Der Roman beginnt als Rückblick von David Baptiste - einem Fischer aus Black Conch, der im Jahr 2015 seine Erinnerungen an die Meerjungfrau Aycayia niederschreibt. David hat sie schon vor dem Angelwettbewerb im Wasser schwimmen gesehen und bestaunt, als sie angelockt von seiner Musik an die Meeresoberfläche geschwommen ist, um ihm beim Singen zuzuhören. Durch das Wissen, über das David in 2015 verfügt, deutet sich die ein oder andere Entwicklung in der Geschichte recht früh an, da entsprechende Gedanken von David einfließen, die manche der sonst chronologisch erzählten Ereignisse vorwegnehmen. Zusätzlich zur Sicht von David wird die Sicht der Meerjungfrau Aycayia, der Landbesitzerin Arcadia Rain und weiterer Inselbewohner im Jahr 1976 wiedergegeben.
Monique Roffey bevölkert die in ihrem Roman erschaffene Welt mit außergewöhnlichen Charakteren. Dazu zählen neben der Meerjungfrau Aycayia auch Miss Arcadia Rain und ihr Sohn Reggie. An Land findet Aycayia, die vor tausend Jahren wegen der Eifersucht anderer Frauen dazu verflucht wurde als Meerjungfrau im Meer zu leben, nach und nach ihre Sprache wieder. Ihre Gedanken erinnern an Gedichte, da sie sie mehr die Form von Versen als Sätzen annehmen. Interessant ist auch die Sicht von Miss Arcadia Rain, deren Familie der Großteil des Nordens von Black Conch gehört. Miss Arcadia lebt als letzte Rain, die noch auf der Insel verblieben ist, in der nun baufälligen, allmählich von Termiten zerfressenen Villa ihrer Familie. Gesellschaft hat sie dort nur von ihrem gehörlosen Sohn Reggie, ihren Hunden und einer Schar von Pfauen, die von einem Albinopfau angeführt wird, der bei jedem Auftritt als Szenendieb agiert. Der kleine Reggie hat seinen Vater Life, der der Onkel von David ist, nie kennengelernt, da der schon vor zehn Jahren die Insel verlassen hat.

 

Beschreibungen von Mensch und Natur:
Gelungen sind Monique Roffey die Kapitel, in denen Aycayia durch ihr Leben an Land nach und nach wieder menschlicher wird. Da sie vor tausend Jahren zuletzt ein Mensch gewesen ist, hat sie die Worte ihrer eigenen, alten Sprache vergessen und findet ihre Stimme nur mühsam wieder. Die moderne Welt ist ihr fremd und sie kennt weder Autos noch Zahnbürsten. So war es faszinierend für mich an der Seite von Aycayia die Welt an Land zu entdecken, indem ich die sonst so gewohnte Welt durch ihre Augen bestaunen konnte. Mühelos verknüpft die Autorin die bekannte Realität mit alten Mythen und erschafft so eine besondere Geschichte. Als Herzerwärmend habe ich da etwa die Freundschaft zwischen Aycayia und dem kleinen Reggie empfunden, die beide so anders sind, aber beide die Musik lieben, auch wenn Reggie sie nicht hören, sondern nur fühlen kann, wenn sie laut genug aufgedreht wird. Aycayia und Reggie schließen gleich bei ihrer ersten Begegnung Freundschaft, da sie sich verbunden fühlen und sich sogar intuitiv verständigen können, bevor Reggie Aycayia die Gebärdensprache beibringt.
Und die Beschreibungen der Geräuschkulisse der wilden, ungezähmten Natur auf Black Conch, die von den stets gegenwärtigen Brüllaffen dominiert wird, sowie des Meeres, dessen Schönheit Monique Roffey einzufangen weiß, prägen sich ein. Denn nach dem Meer sehnt sich Aycayia, als sie an Land ist, auch wenn das Meer für so lange Zeit ihr Gefängnis gewesen ist. Das Meer ist in diesem Roman so wunderschön wie magisch - ein rauer Sehnsuchtsort, an dem das Leben aber auch sehr einsam sein kann.

 

Mein Fazit:
"Die Meerjungfrau von Black Conch" sticht durch ihre mythischen Aspekte hervor, die nicht nur durch die Titel gebende Meerjungfrau Aycayia umfassen, sondern auch Flüche, die Menschen in Meerjungfrauen oder Schildkröten verwandeln können, ebenso wie alte Götter, die diese Flüche erfüllen, und in der von Monique Roffey geschaffenen Welt lebendig werden lassen. Der Roman ist aber so vieles mehr, da dieser seine leichten Momente hat, wenn Aycayia das Leben in der modernen Welt entdeckt, und in der Beschreibung der Freundschaft von Aycayia und Reggie zu bezaubern vermag. Romantisch ist nicht nur die Liebe des Fischers David zu Aycayia und tragisch ist besonders die Einsamkeit, zu der Aycayia aufgrund eines uralten Fluchs verdammt ist. Einsam ist jedoch auch Miss Arcadia Rain, auf deren Liebe das Erbe ihrer Familie so lastete, dass sie vom einzigen Mann, den sie geliebt hat, ohne ein Wort verlassen und mit ihrem gemeinsamen Sohn zurückgelassen wurde. Und erschreckend grausam kann der Roman sein, da es Menschen gibt, die aus Aycayia nur Profit schlagen wollen, wenn sie nur das Geld sehen, das eine Meerjungfrau bedeutet und nicht das Wunder. So liest sich der Roman von Monique Roffey für mich auch als Plädoyer für einen weniger unbarmherzigen, verantwortungsvolleren Umgang mit den Wundern der Natur.

 

5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Mermaid of Black Conch
  • Herausgeber: Tropen
  • Erscheinungsdatum: 19. Oktober 2022
  • Seitenzahl: 240
  • ISBN-10: 3608505229
  • ISBN-13: 978-3608505221
  • Preis: 22