Rezensionen im April 2023

 

Im April bin ich von Clara Dupont-Monod in ihrem poetisch ausdrucksstarken Porträt über eine zerbrechende Familie berührt worden ("Brüderchen"). Entdeckt habe ich die Geheimnisse eines abschieden gelegenen, "A Cure for Wellness" entstammenden Kurorts ("Empusion") und abgründige Familiengeheimnisse ("Das Böse dahinter", "Burn Our Bodies Down"). Überrascht worden bin ich von Andrea Bonetto, da sich sein Krimi weit mehr als antike Tragödie denn ein in Ligurien angesiedelter Cosy Crime entpuppt hat ("Abschied auf Italienisch"), und von Kotaro Isaka mit seiner ungewöhnlichen Kombination aus Auftragsmörder-Thriller und Mystery-Elementen ("Suzukis Rache").

 

30. April 2023: Atlas Paradox von Olivie Blake/a>

26. April 2023: Empusion von Olga Tokarczuk

22. April 2023: Wenn Worte töten von Anthony Horowitz

18. April 2023: Das Böse dahinter von Tracy Clark

14. April 2023: Abschied auf Italienisch von Andrea Bonetto

10. April 2023: Suzukis Rache von Kotaro Isaka

6. April 2023: Brüderchen von Clara Dupont-Monod

2. April 2023: Burn Our Bodies Down von Rory Power

 

 

30. April 2023: The Atlas Paradox von Olivie Blake


Nicht ganz so gelungene Fortsetzung der Atlas-Reihe mit starkem Schluss

 

Inhalt: "The Atlas Paradox" ist nach "The Atlas Six" der zweite Band der Atlas-Reihe von Olivie Blake. Nachdem im Finale des Vorgängers die Leiche der Physiomagierin Libby Rhodes von Illusionist Tristan Caine, dessen Fähigkeit nicht im besonders kunstfertigen Weben von Illusionen, sondern im mühelosen Durchschauen derselben besteht, als Animatur entlarvt wurde, haben die verbliebenen Atlas Six nach der verschwundenen Libby gesucht. Doch fehlt auch einen Monat später noch jede Spur von ihr. So geht das Leben in der Alexandrinischen Bibliothek weiter und für die verbliebenen fünf Auserwählten steht nun das mysteriöse Ritual an, mit dem ihre Initiierung erfolgen soll. Darüber werden sie von Kurator Atlas Blakely und Forscher Dalton Ellery im Unklaren gelassen, wenn sie lediglich erfahren, dass es sich dabei um eine Art von Spiel handelt, das allerdings ohne Regeln, Verlierer und Gewinner auskommt.

 

Umfangreiches Material als Einleitung von "The Atlas Paradox"
Zum Einstieg von "The Atlas Paradox" stellt Olivie Blake umfangreiches Material zur Verfügung, das Informationen aus "The Atlas Six" in übersichtlicher Form zusammenfasst. Das beginnt bei der prägnanten Vorstellung der Atlas Six als gesuchte Personen. Dabei wird kurz deren Herkunft abgerissen, deren magisches Fachgebiet erwähnt und werden relevante Ereignisse aus dem ersten Band der Reihe bzw. Merkmale ihrer Charakterisierung wiedergegeben. Neben Physiomagierin Libby Rhodes zählen dazu ihr Gegenstück Nico de Varona, der ebenfalls Physiomagier ist, Naturmagierin Reina Mori, eine Art von Illusionist Tristan Caine, Empath Callum Nova und Telepathin Parisa Kamali. Zudem findet sich unter "weiterführenden Hinweisen" das übrige Figurenarsenal beschrieben, zu dem etwa neben Libbys Ex-Freund und Entführer, dem Zeitreisenden Ezra Fowler, auch der Träumer Gideon Drake, der der Mitbewohner und beste Freund von Nico ist, und Animatist Dalton Ellery gehört. Dalton, in dessen Verstand sich eine andere Version seiner selbst eingesperrt als Prinz in einem Schloss versteckt, forscht bereits seit zehn Jahren an der Alexandrinischen Bibliothek und hat die Animatur von Libby erschaffen, ohne dass er sich daran zu erinnern vermag. Abgerundet wird diese Vorstellung der Figuren von einem beigefügten Studienplan, den die Auserwählten resp. Initiierten in ihrem ersten und zweiten Jahr in der Bibliothek zu durchlaufen haben.
Weil ich den ersten Band der Atlas-Reihe noch ganz gut in Erinnerung hatte, ist mir diese Überleitung auch vor dem Hintergrund, dass die sich in den ersten, aus Sicht der Atlas Six geschilderten Kapitel fortgesetzt hat, ein wenig zu lang geraten. Denn die sind mit ihrer Suche nach Libby befasst, deren Abwesenheit zumindest einigen von ihnen immer wieder schmerzhaft bewusst wird. So hat sich Olivie Blake abgesehen von einem vorangestellten Kapitel, das den Titel “Anfang” trägt, für meinen Geschmack zu viel Zeit damit gelassen, bis die Handlung dann doch noch in die Gänge kommt.

 

Schwächen in der aus "The Atlas Six" übernommenen Erzählweise
Der Aufbau von "The Atlas Paradox" entspricht im Wesentlichen dem, wie er mir aus dem ersten Band bekannt gewesen ist. "The Atlas Six" ist von den Perspektiven der sechs von Atlas Auserwählten geprägt, deren Sichtweise reihum gewechselt hat. Das ist ein passendes Konstrukt für die von der Autorin erzählte Geschichte gewesen. Denn der erste Band kreiste um das moralische Dilemma, in dessen Fokus die Frage stand, welcher der Atlas Six von den anderen getötet werden soll, damit die Überlebenden als vollwertige Mitglieder in die Alexandrinische Geheimgesellschaft aufgenommen werden. Dafür hat sich das in "The Atlas Six" inszenierte Kammerspiel angeboten, durch das ich ganz nah dran an jedem der sechs, an ihren Gedankengängen und Zweifeln, aber auch ihrer Sicht auf die anderen gewesen bin. Intensität wurde dabei aus den geschlossenen und wieder verworfenen Allianzen, aus den Intrigen und Ränkespielen gewonnen, indem die so essentiell gewesen sind.
Diese Erzählweise, die in "The Atlas Paradox" nahezu unverändert beibehalten wird, entwickelt sich dabei immer mehr zum Korsett, das nicht recht passen will und stellenweise der an sich interessanten Geschichte die Luft abschnürt. Denn die sich verschiebenden Allianzen unter den verbliebenen Atlas Six, die nach der erfolgten Initiierung um ihre Forschungsgebiete ringen, ist weit weniger spannend als im Vorgänger ausgefallen, weil dabei die moralische Fallhöhe fehlt, die im ersten Band auf einen Mord hinausgelaufen wäre.

 

Wenig nachvollziehbare Entwicklung der Atlas Six abgesehen von Libby Rhodes

Die nach wie vor als Kammerspiel inszenierten Scharmützel in der Bibliothek werden auf der einen Seite vom Interesse geprägt, das vom Wesen der Bibliothek geweckt wurde, so dass Versuche unternommen werden, diesem auf den Grund zu gehen. Die andere Seite hat sich der Suche nach der verschollenen Libby verschrieben, die allerdings auf nicht immer nachvollziehbaren Umwegen erfolgt und so von eher mäßigem Erfolg gekrönt ist. Wenn grundlegend neue Erkenntnisse über die Bibliothek bzw. Libbys Aufenthaltsort über weite Strecken ausbleiben, tritt die Handlung auf der Stelle. Daran ändern auch die in "The Atlas Paradox" begründeten Zweckgemeinschaften wenig, die zuvor nicht in Frage gekommen wären. Indem Olivie Blake ihre Hauptfiguren derart fundiert in "The Atlas Six" beschrieben hat, dass deren präzise ausgearbeitete Charakterisierungen eine der großen Stärken dieses Romans gewesen sind, irritierte mich umso mehr, dass diese plötzlich ganz andere Wesenszüge zeigten. Dafür wird zwar am Rande als Erklärung angeführt, dass quasi jeder der in der Bibliothek verbliebenen Fünf bemerkt, dass etwas an ihm zehrt. Das ist für mich aber schlecht nachvollziehbar gewesen.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Um den Roman interessanter zu gestalten, hätte sich angeboten, den zweiten Band der Reihe stärker vom Vorgänger abzugrenzen, statt sich zu stark an dessen Erfolgskonzept zu orientieren, das nur minimal abgewandelt wurde. Denn als besonders gelungen habe ich "The Atlas Paradox" genau dann empfunden, wenn Olivie Blake die beschränkte Welt der Alexandrinischen Bibliothek, der sie wohl nicht viel Neues mehr hinzuzufügen hatte, hinter sich gelassen hat. Das ist in den Kapiteln der Fall, die aus Sicht von Gideon, Libby und Ezra erzählt sind, sowie bei einem ungewöhnlichen Roadtrip, zu dem Tristan und Nico aufbrechen und von dem sie nur leider viel zu schnell wieder zurückkommen. Dabei entwickelte sich Träumer Gideon für mich zum Sympathieträger, dessen erstes Kapitel zwar noch stark an Inception erinnert hat. Im weiteren Verlauf schaffte es aber die Autorin ihren Szenen aus der Traumwelt eine ganz eigene Note zu verleihen. Das wird besonders deutlich in Gideons Konfrontation mit Telepathin Parisa. Aber auch in den Kapiteln von Nico und Libby mausert sich Gideon bei jedem seiner Auftritte zum Szenendieb. Davon hätte ich gern mehr gelesen.
Spannender wäre "The Atlas Paradox" ausgefallen, wenn Olivie Blake sich weniger auf die Ereignisse in der Bibliothek konzentriert, sondern vielmehr Gideon, Libby und Ezra als Sprungbrett genutzt hätte, um die von ihr in "The Atlas Six" angedeutete, phantastische Welt der Magie jenseits der engen Grenzen der Alexandrinischen Bibliothek zu erforschen. Dafür hätten sich die von Gideon erkundeten Traumreiche ebenso wie der Handlungsstrang, der auf einer zweiten Zeitebene in der Vergangenheit angesiedelt ist, angeboten. Auch hätte etwa in Gestalt von James Wessex ein interessanter Gegenspieler der Bibliothek zur Verfügung gestanden, bei dem es sich gelohnt hätte, diesen näher zu beleuchten. Denn Wessex, der als genialer Visionär Karriere gemacht hat, ist nun ein abgebrühter Geschäftsmann, der als beinahe Schwiegervater von Tristan sogar eine persönliche Beziehung zu einem der Auserwählten hat. Leider beweist die Autorin eine Schwäche beim Timing, das sich gerade in der Entscheidung zeigt, von welchen Stunden oder Tagen sie erzählt und welche Ereignisse sie überspringt, um sie dann nur im Rückblick kurz anzuschneiden. Denn dabei werden häufig gerade die spannendsten Stellen ausgelassen wie beispielsweise beim Aufeinandertreffen von Ezra und Libby nach deren Entführung. Da währenddessen in der Bibliothek nicht sonderlich viel passiert, haben sich so Längen eingeschlichen, die hätten vermieden werden können.

 

Mein Fazit zum starken Schlussteil
Am besten haben mir der letzte Teil "IX Olymp" und das offene Ende gefallen, weil Olivie Blake darin mit einigen überraschenden Wendungen aufzuwarten hatte. Auch die gelungene Umsetzung die Lebensgeschichte einer Nebenfigur aus deren Sicht im Zeitraffer abzuspulen, hat mich überzeugt. Dieser Ansatz ist aus dem ersten in den zweiten Band der Reihe übernommen worden, hebt sich aber vom Vorgänger dadurch deutlich genug ab, dass eine ganz andere Figur in deren Mittelpunkt gestellt wurde.
Im Finale von "The Atlas Paradox" hat die Autorin sogar einen actiongeladenen Showdown untergebracht, der seine eigenwillige Dynamik den magischen Fähigkeiten, die Hexer und Medäer im Kampf einsetzen, verdankt, und der Bibliothek wird das Opfer dargebracht, auf das sie schon lange gewartet hat. Mit Libby, Gideon und Dalton durchlaufen die Figuren, die für mich in diesem Roman am interessantesten gewesen sind, eine glaubwürdig geschilderte Entwicklung, für die die Autorin einen passenden Abschluss gefunden hat. Weil ich die sich in den letzten Kapiteln andeutenden neuen Allianzen teils als unerwartet, teils als vielversprechend empfunden habe, bin ich nun schon auf die Fortsetzung der Atlas-Reihe gespannt.

 

3,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The Atlas Paradox
  • Herausgeber: Fischer Tor
  • Erscheinungsdatum: 26. April 2023
  • Seitenzahl: 560
  • ISBN-10: 359670765X
  • ISBN-13: 978-3596707652
  • Preis: 24 €

Atlas-Reihe:

  • Band 1: Atlas Six
  • Band 2: Atlas Paradox
  • Band 3: Atlas Complex

 

26. April 2023: Empusion von Olga Tokarczuk


Philosophische Diskurse treffen auf Mystery-Elemente in einem Umfeld toxischer Männlichkeit

 

Inhalt: Mieczysław Wojnicz reist im Herbst 1913 aus Lemberg nach Görbersdorf, um wegen seiner Schwindsucht in einem frühen Stadium von Doktor Semperweiß auf ein Empfehlungsschreiben von Professor Sokolowski hin behandelt zu werden. Bis ein Platz im Kurhaus frei wird, wohnt er im Gästehaus für Herren, das von Wilhelm Opitz betrieben wird. Doch schon am Tag nach seiner Ankunft muss Wojnicz bei seiner Rückkehr aus dem Sanatorium die Leiche von Frau Opitz auf dem Tisch liegend vorfinden, da sie kurz zuvor gestorben ist. Ist das aber wirklich ein Selbstmord gewesen, indem sie sich erhängt hat, wie von ihrem Mann behauptet wird?

Zur Charakterisierung der Hauptfigur Mieczysław Wojnicz

Protagonist von Empusion ist der junge Student der Wasser- und Canalisationsbautechnik Mieczysław Wojnicz, aus dessen Perspektive der Roman geschildert wird. Wojnicz fällt es schwer sich in Görbersdorf zu akklimatisieren, da er sich von den sonst anwesenden polnischen Patienten fernhält als deren Landsmann er sich nicht zu erkennen gibt, wenn er diesen zufällig über den Weg läuft. Denn deren Herdentrieb und ihr aufgesetztes Selbstbewusstsein, mit dem sie ihre Komplexe kaschieren wollen, schrecken ihn ab.
Neben den in den Monaten von September bis November des Jahres 1913 spielenden Ereignissen habe ich Hauptfigur Mieczysław Wojnicz anhand seiner Vergangenheit näher kennengelernt, indem Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend beschrieben wurden. Mieczysław ist bei seinem Vater, dem Ingenieur January Wojnicz, groß geworden, der Witwer ist, weil seine Mutter kurz nach der Geburt gestorben ist. Umsorgt wurde Mieczysław von seiner Kinderfrau Gliceria, die ihm in der Küche köstliche Leckereien zugesteckt hat. Dagegen sind sein Vater und sein Onkel Emil, der Offizier bei der Cavallerie ist, bestrebt gewesen Mieczysław jegliche Verweichlichung auszutreiben, obgleich dessen Leidenschaften sein Herbarium und die Imkerei sind.

 

Zur abwechslungsreich zusammengestellten Gruppe im Gästehaus für Herren
Die Gruppe, die ebenso wie Mieczysław Wojnicz im Gästehaus für Herren bei Herbergswirt Opitz wohnt, hat Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk abwechslungsreich zusammengestellt. Davon lernt Wojnicz zunächst den eher zurückhaltenden Walter Frommer aus Breslau kennen, der durch seinen stets zugeknöpften und überkorrekten Kleidungsstil auffällt. Nur Thilo von Hahn, der sein Zimmer in ein kleines Atelier verwandelt hat, weil er Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Landschaftsmalerei studiert, ist im Alter von Wojnicz. August August, der im rumänischen Jassy geboren wurde, ist Professor für Griechisch und Latein mit einem Talent für die Schauspielerei, wenn er Verse griechischer Theaterstücke wiedergibt. Longinus Lukas, der seinen Lastern bestehend aus Frauen und Alkohol auch während der von seiner Tochter finanzierten Behandlung in Görbersdorf frönt, bezeichnet sich selbst als Philosophen, obwohl er Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Königsberg ist. Oft erzählt er Anekdoten aus besseren Zeiten, in denen er Umgang mit Prominenten pflegte, die er nur bei ihrem Vornamen nennt. Diese Gruppe, die Wojnicz nach und nach kennenlernt, wird von Olga Tokarczuk in ungewöhnlichen Beschreibungen eingeführt. Deren originelle Ansätze habe ich mal mehr mal weniger gelungen empfunden. Stark ausgefallen ist etwa die ausführliche Schilderung von deren unterschiedlichem Schuhwerk, was die Bewegungsweise der Füße darin mit eingeschlossen hat. Zu übertrieben ist mir dagegen das Kapitel Husten-Symphonie erschienen, indem das Husten der Bewohner des Gästehauses von der Autorin in detaillierter Weise analysiert worden ist.

 

Philosophisch angehauchte Gespräche mit beachtlicher Bandbreite an Themen...

Gespräche, die die angegebenen Figuren bei Tisch, auf gemeinsamen Spaziergängen und Ausflügen führen, arten in lebhafte Diskussionen oder ausufernde Vorträge aus. Diese weisen eine beachtliche Bandbreite an Themen auf, die vom Verschwinden der zwei Jahre zuvor aus dem Louvre gestohlenen Mona Lisa, über die erste schriftlich belegte Erwähnung von Hexen in den Fröschen, einer griechischen Komödie von Aristophanes, bis hin zu den Hexenprozessen, in denen die einst in der Umgebung von Görbersdorf lebenden Frauen angeklagt, gefoltert und brutal ermordet worden sind, reichen. So verschieden diese Gespräche beginnen, laufen sie doch immer auf den gleichen Schlusspunkt hinaus, wenn die Männer, die sonst unterschiedliche Standpunkte vertreten, nur über ihr Frauenbild zu einem Konsens gelangen.

 

und deren immer gleiches Ende
Zwar hat Olga Tokarczuk die das Gästehaus bewohnende Männergruppe bei deren Vorstellung noch interessant erscheinen lassen, bald schon hat sich aber bei mir eine gewisse Monotonie eingestellt, indem deren miteinander verbrachte Zeit stets von Diskussionen dominiert wird, die ein sich wiederholendes Ende haben. Bei diesem wird in detaillierter Weise, ohne dass das auf den geringsten Widerstand stößt, die Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau, die von Natur aus eine untergeordnete Rolle einnimmt, in allen möglichen Variationen erläutert. Da die daran beteiligten Männer stets gleich lautende Behauptungen aufstellen, die sie weder mit Argumenten untermauern noch konkreten Beispielen belegen können, haben sich diese Gespräche schnell im Kreis gedreht, weil diesen kein neuer Aspekt mehr hinzugefügt wurde. Besser hätte mir gefallen, wenn die Autorin ihre Männergruppe nicht derart eindimensional charakterisiert hätte, indem sie ihnen lediglich diese einseitige, beschränkte Sicht auf die Welt, an der nie der kleinste Zweifel aufgekommen ist, zugestanden hat.

 

Kurort Görbersdorf als perfekte Kulisse für eine Schauergeschichte
Mit dem abgeschiedenen Görbersdorf, das wegen seiner von den umliegenden Bergen geschützten Lage und seines milden Klimas von Doktor Brehmer ausgewählt wurde, dort sein Sanatorium samt eindrucksvollem Kurhaus zu bauen, hat Olga Tokarczuk die perfekte Kulisse ala “A Cure for Wellness” für ihre Schauergeschichte gefunden. Denn das prächtige Kurhaus erinnert mit seinen roten Backsteinmauern, Kreuzgängen und Türmchen an ein mittelalterliches Schloss und da es abgesehen von der Krypta für Doktor Brehmer keinen Friedhof in Görbersdorf gibt, scheint der Ort trotz seiner Allgegenwärtigkeit dem Tod trotzen zu wollen.
Von Beginn an ist Wojnicz mit Mysterien konfrontiert, weil kurz nach seiner Ankunft Frau Opitz, die wohl von ihrem Mann geschlagen wurde, unter nicht näher geklärten Umständen verstirbt, Thilo behauptet, schon im Wald in Stücke gerissene Leichen gesehen zu haben, und Wojnicz selbst in der Nacht merkwürdige Geräusche vom Dachboden kommen hört.

 

Zur ungewöhnlichen Integration von Mystery-Elementen in diesen Roman
Die ungewöhnliche Kombination von philosophischen Auseinandersetzungen mit Mystery-Elementen fügt sich erst zu einem erstaunlich harmonischen Ganzen. Im weiteren Verlauf überwiegen jedoch die gesellschaftspolitisch oder kunstgeschichtlich angehauchten Diskussionen derart, dass die Handlung des Romans unausgewogen wirkt. Stärker wäre Empusion ausgefallen, wenn Olga Tokarczuk den Mut besessen hätte, ihre Geschichte in einem so düster abgründigen Tonfall zu erzählen, der besser dazu gepasst hätte, und ihren Mystery-Komponenten mehr Raum zu geben. Dabei hätte ich mir insbesondere weitere Informationen zum Hintergrund der rätselhaften Erscheinungen, von denen Görbersdorf heimgesucht wird, gewünscht, da zum Schluss des Romans diesbezüglich einige Fragen bei mir offen geblieben sind.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Empuzjon
  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Erscheinungsdatum: 20. April 2023
  • Seitenzahl: 384
  • ISBN-10: 3311100441
  • ISBN-13: 978-3311100447
  • Preis: 26 €

 

22. April 2023: Wenn Worte töten von Anthony Horowitz


Ruhig erzählter, durchdacht konstruierter, wenig spannender dritter Fall für Hawthorne und Horowitz

 

Inhalt:“Wenn Worte töten” ist nach “Ein perfider Plan” und “Mord in Highgate” bereits der dritte Fall für den ehemaligen Scotland Yard-Mitarbeiter Daniel Hawthorne und seinen Biografen Anthony Horowitz. Dieser führt die beiden zum erstmals stattfindenden Literaturfestival auf die Kanalinsel Alderney. Dort sollen Hawthorne und Horowitz Werbung für ihr neues Buch, das zwar noch nicht erschienen ist, machen, um die Zahl der Vorbestellungen anzukurbeln. Bereits vor deren Abflug verhalten sich einige der anderen am Festival teilnehmenden Autoren wie etwa die französische Performance-Dichterin Maissa Lamar verdächtig. Vor Ort eskalieren die schwelenden Konflikte zwischen Fernsehkoch Marc Bellamy und dem unsympathischen Sponsor des Festivals Charles Le Mesurier, die sich von früher kennen. Le Mesurier, der seinen Wohlstand dem Betreiben eines Online-Kasinos verdankt, führt sich eher so auf als würde ihm das Festival gehören. Auch die Einwohner von Alderney stehen angesichts der geplanten Hochspannungsleitung, die über die Insel verlaufen soll, unter Strom. Das Zentrum der Aufmerksamkeit bildet Colin Matheson als Kopf des Entscheidungsgremiums, dessen Frau Judith das Festival organisiert. Und dann geschieht ein Mord.

 

Einordnung in die Reihe und Charakterisierung der Hauptfigur Hawthorne
Indem ich die beiden vorigen Bände der Reihe nicht kannte, ist mir der Einstieg in diesen Krimi durch dessen erstes Kapitel erleichtert worden. Darin wird ein beim Verlag angesetztes Meeting beschrieben, da Hawthorne dem Verlag vorgestellt werden soll. Das erweist sich als clevere Idee des Autoren, weil er dabei nebenher seine Hauptfiguren einführen, die Dynamik von deren Beziehung näher beleuchten und auf wesentliche Ereignisse aus den bisherigen Büchern Bezug nehmen kann.
Hawthorne ist lange Zeit als Polizist für Scotland Yard tätig gewesen, bevor er Privatdetektiv geworden ist und nun als Berater bei der Aufklärung schwieriger Verbrechen unterstützt. Anthony begleitet ihn bei seiner Arbeit, um darüber Romane zu schreiben. So ergibt sich eine moderne Version der klassischen Holmes-Watson Konstellation. Dieser Eindruck wird durch die eigenwilligen Gewohnheiten, die Hawthorne bei der Nahrungsaufnahme pflegt, seinen meist distanzierten Umgang mit anderen, obgleich er auch sehr charismatisch sein kann, wenn er denn will, und seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zur Deduktion, die er nach seinem ersten Treffen mit Mitarbeitern des Verlags zur Schau stellt, über deren Probleme er eine ganze Reihe von Erkenntnissen gewonnen hat, verstärkt.

 

In diesen Krimi integrierte Meta-Ebene samt Seitenhieben gegen den Literaturbetrieb
Dass Horowitz sich dafür nicht zu schade ist, sich auf die Rolle eines Watson-artigen Sidekicks zu beschränken, dem der echte Mehrwert fehlt, da er Schriftsteller und nicht Arzt ist, ist ein sympathischer Zug. So ist ihm Hawthorne nicht nur bei der Lösung ihrer Fälle in jeder Hinsicht überlegen, sondern kommt sogar besser auf dem Literaturfestival an, das an sich das Metier von Horowitz sein sollte. In der Art, wie der Autor sich selbst in sein Buch hineingeschrieben hat, hat er eine ungewöhnliche Meta-Ebene gefunden, die in ihrer Unterscheidung von Realität und Fiktion etwa in Hawthornes Abgrenzung von anderen aus Fernsehserien bekannten Ermittlern und seiner Auseinandersetzung mit Kriminalromanen konsequent durchgezogen wird. Zudem nutzt der Autor die Gelegenheit während des im Verlag angesetzten Meetings oder Besuchs eines Literaturfestivals interessante Kommentare, die wohl eher kleine Seitenhiebe darstellen, zum Verlagswesen im Speziellen und Literaturbetrieb im Allgemeinen mit einfließen zu lassen. Abgerundet wird die Einleitung von einer dem Roman vorangestellten Karte von Alderney und einem recht detailliert ausgefallenen Personenverzeichnis auf Seite 29 ff., das kurze Lebensläufe der am Literaturfestival teilnehmenden Schriftsteller enthält.

 

Zum eigentlichen Mordfall und dessen Auflösung
Obgleich sich einige der eingeführten Figuren schon zuvor verdächtig verhalten haben, dauert es recht lang, bis die eigentliche Krimi-Handlung in die Gänge kommt. Als der angekündigte Mord geschieht, der unerwartet brutal ausfällt, ist bereits ein Drittel des Buchs verstrichen. Aber auch danach wollte bei mir trotz des clever konstruierten, gut durchdachten Plots, der mich zum Mitraten animiert hat, nicht so recht Spannung aufkommen. Quasi jede der beteiligten Personen hat Geheimnisse zu verbergen, die erst nach und nach aufgedeckt werden. Gekonnt umgesetzt sind die Hinweise darauf, die vom Autor eingestreut werden. Da lag es dann an mir als Leser die verschiedenen Spuren passend zueinander zu sortieren und der relevanten Figur zuzuordnen. Dabei sind nur bedauerlicherweise an mindestens zwei Stellen Hinweise durch die Übersetzung vom Englischen ins Deutsche verloren gegangen. Diese liegen im sprachlichen Umgang oder in Wortspielen, die sich in der Form nicht in der deutschen Ausgabe wiederfinden, begründet. Beispielsweise hätte ich als passender empfunden, wenn der Spitzname, den Fernsehkoch Marc Bellamy in Internatszeiten erhalten hat, Teesieb anstelle von Tea Leaf lauten würde.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Dieser Roman sucht Spannung weniger durch actiongeladene Szenen wie Verfolgungsjagden oder einen klassischen Showdown, die Anthony Horowitz in seiner Alex Rider-Reihe bestens beherrscht, sondern vielmehr durch die Intensität, die in verschiedenen emotionalen Traumata steckt, zu erzeugen. Dabei will der Autor jedoch zu viel auf einmal, indem jede der auftretenden Figuren ihre Last zu tragen hat, die von Hawthorne enthüllt werden muss, um zu beurteilen, ob diese das Motiv für den Mord gewesen ist. An dieser Stelle wäre weniger mehr gewesen, wenn etwa auf den um eine Undercover-Operation kreisenden Handlungsstrang verzichtet worden wäre. Denn so ist dieser Krimi in seinem letzten Drittel eher zum pflichtschuldigen Abspulen von einer Szene nach der nächsten geraten, die lediglich der schlüssigen Auflösung der zuvor eingestreuten Hinweise dient. Das Drama, das in der Tragik des Lebens nicht nur des Mörders, sondern auch von Zeugen und anderen Beteiligten liegt und diese zu ihren Lügen, Betrügereien und weit schlimmeren Taten getrieben hat, ist für mich nicht greifbar geworden. Dafür hätte diesen Figuren mehr Zeit und Raum gegeben werden müssen. Zudem hätte ich mir gewünscht, dass der Autor den Mut besessen hätte, den in seinem Krimi vorherrschenden Ton insgesamt düsterer ausfallen zu lassen, um die darin eine Rolle spielenden menschlichen Abgründe besser ausloten zu können.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: A Line to Kill
  • Herausgeber: Insel Verlag
  • Erscheinungsdatum: 17. April 2023
  • Seitenzahl: 333
  • ISBN-10: 3458643737
  • ISBN-13: 978-3458643739
  • Preis: 24 €

Hawthorne ermittelt-Reihe:

  • Band 1: Ein perfider Plan
  • Band 2: Mord in Highgate
  • Band 3: Wenn Worte töten

 

18. April 2023: Das Böse dahinter von Tracy Clark

 

Abwechslungsreich erzählter Krimi um eine brutale Mordserie in Chicago

 

Inhalt: Elyse Pratt joggt in der Früh den Riverwalk entlang, als sie eine furchtbare Entdeckung macht. Ihre Schreie wegen der von ihr gefundenen Toten erregen die Aufmerksamkeit von Passanten auf der Brücke, die die Polizei rufen. Und so nimmt Harriet Foster, Detective beim Chicago Police Department, an ihrem ersten Tag nach ihrer Auszeit, mit der eine Versetzung auf eigenen Wunsch einhergeht, an der Seite ihres neuen Partners Jim Lonergan die Ermittlungen in diesem brutalen Mordfall auf.

 

Zur Charakterisierung von Protagonistin Harriet Foster
“Das Böse dahinter” ist der erste Band einer Reihe von Tracy Clark, in der Harriet Foster den Tod von Peggy Birch untersucht. Harriet hat bis auf ihren Job alles verloren. Nachdem ihr Sohn als Teenager von einem Fahrraddieb erschossen wurde, ging ihre Ehe in die Brüche und vor acht Wochen hat ihre beste Freundin und Partnerin Detective Glynnis Thompson, die Harriet durch die schwere Zeit in ihrem Leben geholfen hat, Selbstmord begangen, ohne dass sie es hat kommen sehen. Indem sie bei ihrem neuen Boss Sergeant Sharon Griffin Kopfschmerzen als Ausrede anführt, wenn das erlittene Trauma, das sie nicht verarbeitet hat, sondern nur verdrängt, sich nicht vollständig hinter der aufgesetzten Maske verbergen lässt, ist sie an sich noch nicht soweit wieder zu arbeiten. Da lassen die Schwierigkeiten mit ihrem neuen Partner Lonergan, der von jedem als Nervensäge angesehen wird und sich selbst als Polizist alter Schule bezeichnet, nicht lang auf sich warten.

 

Abwechslungsreiche Erzählweise aus zusätzlichen Perspektiven
Neben der Perspektive von Foster wird der Krimi auch aus Sicht der Zwillinge Amelia und Bodie Morgan erzählt. Als Kinder mussten die Geschwister das Böse entdecken, das ihr Vater Tom vor ihnen im sonst stets abgeschlossenen Keller verborgen hat. Bodie, der gerade einen dreißig tägigen freiwilligen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter sich gebracht hat, hofft innig, dass sein Vater, den er fürchtet, bereits tot ist, weil er seit mehr als einem Jahrzehnt nichts von ihm gehört hat. Bod, wie er liebevoll von Am genannt wird, ist der Loser, der nichts auf die Reihe bekommt, wenn er finanziell von seiner Schwester abhängig ist. Amelia hingegen ist eine aufstrebende Künstlerin, die für sich eine komplett neue Lebensgeschichte ersonnen hat. Diese Lüge lebt sie in allen Einzelheiten sogar ihrer Kollegin Joie gegenüber, mit der sie sich das Atelier teilt. Für ihre Gemälde aber lässt sich Amelia von den schlimmen Erinnerungen ihrer Kindheit inspirieren.

 

Vielzahl unterschiedlicher Themen, die zu Beginn dieses Krimis angerissen werden
Nach dem starken Beginn, der von der Joggingrunde von Elyse handelt und für mich von der Frage überschattet wurde, ob Elyse zum Opfer eines Verbrechens oder Zeugen werden wird, hat Tracy Clark mit ihrer abwechlungsreichen Erzählweise, die verschiedene Sichtweisen integriert und bei der eine Vielzahl unterschiedlicher Themen angeschnitten wird, zu viel auf einmal gewollt. In nur wenigen Kapiteln führt sie die schweren Verluste von Hauptfigur Harriet Foster, die in ihren gegensätzlichen Ansichten begründeten Reibereien zwischen ihr und ihrem neuen Partner Lonergan, die Verbrechen des Vaters von Bodie und Amelia, die aufgrund seiner Hautfarbe erfolgende Diskriminierung und Vorverurteilung des am Tatort aufgefundenen und somit Verdächtigen Keith Ainsley, die das Leben von Peggy Birch dominierenden toxischen Beziehungen und die Proteste der Bevölkerung gegen die Polizei u.a. in Gestalt einer groß angelegten Demonstration an.
Besser hätte mir der Einstieg gefallen, wenn die Autorin sich mehr auf das Drama darin konzentriert hätte. Dabei hätte insbesondere der Vorstellung von Foster, die nach dem letzten Schicksalsschlag kaum wieder aufstehen konnte, um ihrem Umfeld eine halbwegs heile Fassade vorzutäuschen, mehr Raum gegeben werden müssen. Auch ist die Problematik, die im Fehlverhalten des typischen weißen Cops alter Schule liegt, zwar ein aktuell relevantes Thema, will aber nicht so recht zu den zentralen Elementen der von Tracy Clark erzählten Handlung, die sich um Bodie und Amelia dreht, passen.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
In seinem weiteren Verlauf hat "Das Böse dahinter" für mich weniger gut in der Beschreibung der polizeilichen Ermittlungstätigkeit, dem schwierigen Verhältnis von Foster und ihrem neuen Partner Lonergan, dem politischen Druck, dem Fosters neue Chefin ausgesetzt ist, als in dem Fall ein Mord auf den nächsten folgt, und in den falschen Spuren funktioniert, die um den Gras Konsum für den Eigengebrauch und den Ausflügen in die Aktivisten-Szene, die die Reform der Polizei in Chicago betreffen, kreisen. Dagegen haben mich die Teile überzeugt, in denen Tracy Clark starke Bilder für den Verlust von Foster wie beispielsweise ihre Gespräche mit dem für ihre Lebensgeschichte so essentiellen Baum, den sie vom Wohnzimmer ihres Hauses aus sehen kann, oder die entscheidende Frage, die ihr der Sohn ihrer verstorbenen Partnerin Glynnis Thompson auf der der Feier seines zehnten Geburtstages stellt, gefunden hat. Auch hat mir die Dynamik zwischen Foster und Detective Vera Li gefallen, die ihren Anfang bei einem gemeinsamen Hotdog-Mittagessen nimmt, das eine Sichtung von umfangreichen Videomaterial begleitet.
Die im Kern um Bodie und seine Familie erzählte Geschichte ist in ihren wesentlichen Punkten clever konstruiert und hätte sich für ein intensiv düsteres Thriller-Drama angeboten, das in Bodies emotionalem Dilemma und unheimlichen Stalking-Szenen glänzt. Weit mehr hätte Tracy Clark aus ihrem Krimi heraus holen können, wenn sie den Fokus ganz auf Bodie, Amelia und Co gelegt hätte. Vom Prinzip her wurde durch die Integration von Bodies Psychiaterin Dr. Mariana Silva die Handlung um eine interessante Komponente erweitert. Die Autorin hat jedoch die Gelegenheit, die sich dadurch geboten hat, mit Dr. Silvas Fachwissen über antisoziale Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen und Serienmörder im Speziellen die Ermittlungen von Foster mit fundiertem psychologischem Wissen zu ergänzen, ungenutzt verstreichen lassen. Dabei hätte ich gern auch mehr über die Vergangenheit von Bodie und seiner Schwester Amelia erfahren. Grundlegend sind zwar die Fragen, die ich mir diesbezüglich gestellt habe, mit Ende des Buchs beantwortet. Ich hätte mir aber gewünscht, dass deren Familiengeschichte detaillierter geschildert worden wäre, da das diese für mich nachvollziehbarer hätte werden lassen, wenn ich näher dran an der Tragik in ihrem Leben gewesen wäre.

 

3,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Hide
  • Herausgeber: Amazon Publishing Deutschland
  • Erscheinungsdatum: 11. April 2023
  • Seitenzahl: 475
  • ISBN-10:  2496713002
  • ISBN-13: 978-2496713008
  • Preis: 9,99 €

Harriet Foster-Reihe:

  • Band 1: Das Böse dahinter
  • Band 2: Fall

 

14. April 2023: Abschied auf Italienisch von Andrea Bonetto


Mehr antike Tragödie als in Ligurien angesiedelter Cosy Crime

 

Inhalt: Commissario Vito Grassi hat von seinem Vater nach dessen Tod ein Haus in Levanto geerbt, das in den letzten Jahren von dessen Leben zu seinem Projekt geworden ist. Aus einer Laune heraus lässt er sich von Rom nach Ligurien versetzen. Dabei stößt Grassi aber schon bei seiner Ankunft auf unerwartete Probleme in Gestalt von seiner neuen Mitbewohnerin Toni, die zusammen mit seinem Vater das Haus auf dessen Grundstück erbaut und einen kleinen Olivenhain angelegt hat, auf Polizisten aber gar nicht gut zu sprechen ist. An deren Verschlossenheit beißt Grassi sich die Zähne aus, muss sich jedoch mit ihr arrangieren, weil sie für ihn die letzte Verbindung zu seinem verstorbenen Vater ist. An seinem ersten Arbeitstag führt ihn sein Weg zur Carabinieri-Station in La Spezia an einem Tatort vorbei. In einem Tunnel wurde die Leiche von Luisa Amoretti, die zusammen mit ihrer Familie einen Agriturismo betrieben hat, aufgefunden. Die Polizei vor Ort geht von einem Unfall aus. Doch Grassi hat da seine Zweifel.

 

Charakterisierung von Hauptfigur Vito Grassi
"Abschied auf Italienisch" ist der erste Fall für Commissario Vito Grassi in seiner neuen Wahlheimat Ligurien. Mit Grassi hat Andrea Bonetto einen kantigen Charakter für seine Krimi-Reihe ersonnen, der als Kollege zwar wenig umgänglich ist, auf dessen auf seiner langjährigen Erfahrung basierenden Instinkt aber Verlass ist. Privat hängt er an seinem Roadster und seiner Plattensammlung, ist aber auch einem guten Cafe und Essen gegenüber nie abgeneigt. Im Fall von Luisa Amoretti ermittelt er an der Seite seiner jungen Kollegin Marta Ricci und wird von Rechtsmediziner Penza unterstützt. Dabei fällt Ricci durch ihren extravaganten Kleidungsstil auf, der von irritierend grünen Kontaktlinsen gekrönt wird, und Dottore Penza durch seine unwillkürlichen Pfeifkonzerte, die jede Situation mit der passenden Melodie unterlegen.

 

Erst in Ligurien angesiedelter Cosy Crime...
Zu Beginn stehen für einen Cosy Crime typische Elemente im Vordergrund. Eine Hauptrolle spielt dabei neben der guten italienischen Küche, die sich sogar in Grassis experimentellen Kochversuchen niederschlägt, sonst aber in den frischen Speisen eines Fischrestaurants, bei köstlichen Antipasti und mehr zeigt, die malerische Schönheit des idyllischen Ligurien. Die lässt sich in der Aussicht vom Grundstück, das Grassi von seinem Vater geerbt hat, oder auf einer Fahrt mit dem Roadster entlang der Küste genießen. Da mir die Gegend von Levanto bis La Spezia zuvor nicht bekannt gewesen ist, habe ich die in der Rückseite des Einbandes enthaltene Karte von Ligurien als hilfreich empfunden.
Humorvolle Szenen ergeben sich bei Andrea Bonetto aus den skurril angelegten Figuren, die doch sympathisch rüberkommen, sowie der Akklimatisierung des Städters Grassi an das Landleben. Letztere verläuft nicht ohne Probleme, wenn Grassi mit dem fehlenden Handynetz, der langsamen Internetverbindung und den nicht vorhandenen Lademöglichkeiten für seinen Roadster zu kämpfen hat. Zu den schrägen Figuren zählt neben Dottore Penza etwa auch Francesco, der im Dunkeln ausgestattet mit einem Nachtsichtgerät und bewaffnet mit einem nicht geladenen Jagdgewehr über Grassis Grundstück schleicht, um Toni zu beschützen.

 

Im weiteren Verlauf dann eher antike Tragödie
Da zudem das Kompetenzgerangel der verschiedenen italienischen Polizeiorganisationen im Mittelpunkt steht, dauert das eine ganze Weile, bis die Ermittlung im Fall von Luisa Amoretti in die Gänge kommt. Solange Luisas Tod als Unfall angesehen wird, ist der Capitano der Carabinieri Bruzzone für dessen Untersuchung zuständig. Erst als sich die Hinweise auf ein Verbrechen nicht von der Hand weisen lassen, übernimmt die Polizia di Stato, die durch Grassi und seine neue Chefin Questore Feltrinelli vertreten wird.
Wenn die Ermittlung dann Fahrt aufnimmt, schaltet Andrea Bonetto von seiner eingangs ruhigen Erzählweise ein paar Gänge hoch. Dabei baut er die Handlung seines Krimis logisch auf. Dieser Schreibstil bringt jedoch den Nachteil mit sich, dass ich insbesondere aufgrund von nur wenigen, unzureichend ausgebauten falschen Fährten den größten Teil der Auflösung recht früh vermutet habe. So konnte mich "Abschied auf Italienisch" in seinem weiteren Verlauf mehr als Drama überzeugen, da die in seinem Kern beinhaltete Geschichte für mich Züge einer klassischen griechischen Tragödie aufgewiesen hat. Die Abgründe, die sich im Leben der daran beteiligten Figuren aufgetan haben, hat Andrea Bonetto glaubhaft für mich werden lassen.
Leider ist es dem Autor nicht gelungen, die unterschiedlichen Teile seines Romans zu einem in sich stimmigen Ganzen zusammenzufügen.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge

Denn der Krimi beginnt als ein um Lokalkolorit angereicherter Cosy Crime, um dann als intensives Drama, das seine Tragik aus der Fallhöhe seiner Figuren bezieht, zu enden. Indem ich den Schluss dieses Buchs als stärker als dessen Einstieg, der für meinen Geschmack ein wenig langatmig ausgefallen ist, empfunden habe, hätte ich mir gewünscht, dass "Abschied auf Italienisch" sich auf das Drama konzentriert und auf den Großteil seiner Cosy Crime-Elemente verzichtet hätte. Davon hätte ich nur die besondere Kulisse der malerischen Küste Liguriens beibehalten, weil diese ein ungewohnter, zumindest mir zuvor nicht bekannter Schauplatz ist, der einen interessanten Kontrast zu den dort aufgefundenen Leichen bildet. Um den düsteren Unterton, der im späteren Verlauf dieses Krimis mehr hervortritt, zu betonen, hätte sich angeboten etwa dem über dem Totenbett seiner Mutter zwischen Grassi und seinem Vater eskalierenden Konflikt und Grassis Verwicklungen in Mafia-Fälle während seiner Zeit als Polizist in Rom mehr Raum zu geben.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Herausgeber: Droemer
  • Erscheinungsdatum: 3. April 2023
  • Seitenzahl: 304
  • ISBN-10: 3426284103
  • ISBN-13: 978-3426284100
  • Preis: 16,99 €