Rezensionen im März 2023

 

Im März habe ich mich von  der leichtfüßig erzählten Dramedy über fünfzig Jahre Ehe von Carmel und Barry ("Mr. Loverman") von Bernardine Evaristo bezaubern und von Richard Swan in das abgründige Reich von Sova, in dem Magie wirkende Richter das Recht durchsetzen ("Im Namen des Wolfs"), entführen lassen. Ungewöhnliche Kombinationen habe ich als Mix aus Horror-Comedy, Mystery und Rache-Thriller in "Die Bäume" und in der so durchdacht konstruierten Dystopie von Ned Beauman, die sich im Gewand einer Satire versteckt ("Der gemeine Lumpfisch"), erlebt. Ein Highlight sind für mich die abwechslungsreich gehaltenen Stories von Joy Williams gewesen, bei denen keine der anderen gleicht. Geheimnisse der Dunkelheit habe ich an der Seite von Sophia Kimmig ("Lebendige Nacht") ergründet und im Krimi von Jenny Lund Madsen ("30 Tage Dunkelheit") in isländischer Finsternis gelöst.

 

29. März 2023: Lebendige Nacht von Sophia Kimmig

25. März 2023: Der weiße Fels von Anna Hope

21. März 2023: 30 Tage Dunkelheit von Jenny Lund Madsen

17. März 2023: Stories von Joy Williams

13. März 2023: Der gemeine Lumpfisch von Ned Beauman

10. März 2023: Der Weg ins Feuer von Kathleen Kent

7. März 2023: Im Namen des Wolfs von Richard Swan

4. März 2023: Die Bäume von Percival Everett

1. März 2023: Mr. Loverman von Bernardine Evaristo

 

29. März 2023: Lebendige Nacht von Sophia Kimmig


Große Bandbreite abgedeckter Themen rund um das Leben in der Dunkelheit

 

Dass das einleitende Zitat aus dem Kinderbuch "Licht aus, sagte der Fuchs" von Marsha Diane Arnold stammt, ist symptomatisch für die Passagen, von denen das an sich fundierte Sachbuch zur lebendigen Nacht über weite Strecken dominiert wird. Denn mit einem Schreibstil, der von poetischen Beschreibungen, Anleihen beim Märchen sowie aus der Fantasy- und Science-Fiction-Literatur geprägt ist, hat Sophia Kimmig meinen Geschmack leider nicht getroffen. Beispiele dafür sind ihre Ausführungen zu parallelen Welten und ihre Vergleiche aus der Comic-Welt.

 

Ungewöhnliche Kombination aus lyrischen Elementen und wissenschaftlichen Fakten
Auch im Prolog schildert die Autorin auf fast schon mythisch zu nennende Weise das Leben an einer Bushaltestelle in der Nacht, das sie Dunkelwelt nennt. Prinzipiell finde ich die ungewöhnliche Kombination
aus lyrischen Elementen mit wissenschaftlichen Fakten interessant. Das zeigen gelungene Umsetzungen etwa in den Tropen von Raoul Schrott, für die ich mich begeistern kann. Doch Sophia Kimmig fehlt dafür das literarische Talent. Ihre Stärke ist als promovierte Biologin ihr wissenschaftlicher Hintergrund. So hätte ich den Prolog als gelungen empfunden, wenn die Autorin auf poetische Anwandlungen verzichtet hätte, um stattdessen von ihrer Doktorarbeit über Füchse oder dem Forschungsprojekt, in dessen Rahmen sie sich mit nachtaktiven Tieren auseinandersetzt, zu berichten. Zudem hätte ich als einleitendes Zitat das einer berühmten Biologin, die damit von der Autorin vorgestellt worden wäre, als passender angesehen.

 

Umfangreiches Füllmaterial und wenig überzeugende Überleitungen
Auch im weiteren Verlauf des Buchs hätte ich mir gewünscht, dass die Stärken von Sophia Kimmig mehr zum Tragen gekommen wären. Denn die Abschnitte, in denen die Autorin ihr fundiertes Wissen zeigt, habe ich als weit überzeugender empfunden. So habe ich mir etwa im ersten Kapitel gern von ihr die lateinische Artbezeichnung, die sich aus Gattung und Art zusammensetzt, sowie die auf das Farbsehen spezialisierten Zapfen in der Netzhaut des Auges, die in zwei verschiedene Arten von Sehzellen zu unterscheiden sind, erklären lassen. Dabei sind ihre Erläuterungen, die durch exakte Quellenangaben belegt sind, verständlich formuliert.
Auf das oft recht umfangreiche Füllmaterial, das mit der Vermittlung dieses Wissens einhergeht, hätte ich aber verzichten können. Die Überleitung von einem zum nächsten Thema besteht meist aus einer Reihe von Fragen, die mich dazu anregen sollten, mir bestimmte Szenarien vorzustellen oder mich in entsprechende Situationen hineinzuversetzen. Das ist aber bei der anschaulichen Art und Weise, auf die das darauf folgende Wissen dargelegt wird, gar nicht nötig. Dem hätte ich auch ohne die einleitenden Fragen gut folgen können. Ebenso wenig hätte ich die wiederholt auftretenden Sätze gebraucht, in denen die Autorin betont, wie spannend das Fachgebiet der Biologie ist. Das sollte doch durch den Inhalt deutlich werden.
Statt die Themen mit solchen Sätzen zu beenden, die wohl verdeutlichen sollen, dass nun ein Exkurs abgeschlossen ist, wäre der Aufbau strukturierter ausgefallen, wenn die Autorin zur Gliederung des Fließtextes Infokästen oder Übersichten in tabellarischer Form eingebunden hätte. Ein Beispiel für eine solche Übersicht wäre die prozentuale Unterscheidung in tag- und nachtaktive Tierarten u.a. für Säugetiere, Vogelarten und Insekten. Infokästen hätten den zusätzlichen Vorteil mit sich gebracht, dass darin vermitteltes Wissen so übersichtlich aufbereitet worden wäre, dass diese sich zum späteren Nachlesen anbieten sowie zum Nachschlagen eignen würden.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Als sinnvolle Ergänzung hätte ich angesehen, wenn Sophia Kimmig weiterführende Literatur empfohlen hätte, sofern Themen etwa außerhalb des Fokus dieses Sachbuchs liegen. Dabei hätten mich beispielsweise Informationen zu den verschiedenen von der Autorin aufgelisteten Tagfaltern (u.a. Kohlweißling, kleiner und großer Fuchs, Bläuling, Aurorafalter, Schachbrett) interessiert. Auch ein Link, der auf die Rote Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten der internationalen Weltnaturschutzunion IUCN verweist, wäre hilfreich gewesen.
Um trotz des vermittelten Wissens die Lesbarkeit in ihrem Buch zu wahren, kann ich nachvollziehen, dass Sophia Kimmig auf zu viel Fachvokabular und dessen Erläuterung verzichtet hat. An manchen Stellen hätte ich mir jedoch gewünscht, dass die Autorin, um diese Balance zu wahren, mehr mit Fußnoten gearbeitet hätte. So hätten etwa die Nachtfalter Eumorpha labruscae oder Citheronia regalis, aber auch Candela und Lumen als Einheiten zur Quantifizierung des Lichts näher erläutert werden können.
Die Vorstellung mir unbekannter nachtaktiver Tiere wie etwa des auf Neuguinea vorkommenden Tüpfelkuskus, des neuseeländischen Kakapos, des Blattschwanzgeckos oder des Taguans ist interessant gewesen. Dabei haben mir aber Bilder gefehlt. Mit dazu passenden Fotos, die die genannten Tiere abbilden, hätte ich deren Beschreibung als weit gelungener empfunden. Denn ich möchte während der Lektüre des Buchs nicht nebenher die erwähnten Tiere googeln müssen, um ein Bild von diesen vor Augen zu haben.

 

Große Bandbreite abgedeckter Themen rund um das Leben in der Dunkelheit
Was mir an Lebendige Nacht besonders gut gefallen hat, ist das wirklich spannende, unter Sachbüchern leider sonst so unterrepräsentierte Thema der nachtaktiven Tiere. Dabei wird das Leben in der Dunkelheit von Sophia Kimmig in einem breiten Spektrum behandelt. Die Bandbreite der nachtaktiven Tieren reicht von Tierarten, die ich erwartet habe, wie den Eulen, Fledermäusen und Waschbären, über Tiere, an die ich nicht unbedingt gedacht habe, wie die Haselmaus, den Sieben- und Gartenschläfer bis hin zu solchen, die mir zuvor nur dem Namen nach bekannt gewesen sind, wie den Bilchen und Nachtfaltern. Ergänzt wird das von weiteren Kapiteln, die rund um das Leben bei Nacht kreisen. Diese schließen etwa die Ursachen für die Nachtaktivität von Tieren, deren Ursprung in der Urzeit liegt, sowie einen faszinierenden Exkurs zu Tieren, die an Land, aber auch Unterwasser Licht ins Dunkel bringen, mit ein.

 

3 Sterne ***

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Herausgeber: Carl Hanser Verlag
  • Erscheinungsdatum: 20. März 2023
  • Seitenzahl: 272
  • ISBN-10: 3446276114
  • ISBN-13: 978-3446276116
  • Preis: 25 €

 

25. März 2023: Der weiße Fels von Anna Hope


Erzählungen um einen mythischen Fels im Wandel der Zeit

 

Inhalt: Eine namenlose Schriftstellerin reist in 2020 mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann in einem Van durch Mexiko. Begleitet werden sie von einer bunt zusammengewürfelten Gruppe bestehend aus einem Mexikaner und einem siebzigjährigen Schamanen, einer Senegalesin und ihrem Kind, einem Musikproduzenten aus Schweden sowie einem Kolumbianer, einer unterwegs aufgegabelten Französin, einer Deutschen und einem Engländer. Ihr Ziel ist eine kleine Stadt am Pazifik. Dort ist der weiße Fels zu finden, der für die Wixárika eine heilige Stätte darstellt. Für die Schriftstellerin und ihren Mann ist diese Reise eine Pilgerfahrt. Denn nachdem sie sieben Jahre lang alles versucht hatten ein Kind zu bekommen, ist sie nach der Zeremonie eines Schamanen der Wixárika schwanger geworden. Und nun werden sie dafür in Gestalt von Opfern etwas zurückgeben.

 

Zum grundlegenden Aufbau dieses Romans
Der weiße Fels hat einen ungewöhnlichen Aufbau, der mich an mythische Geschichten wie die aus 1001 Nacht erinnert hat. Darin wird eine Geschichte begonnen, um dann mittendrin eine weitere anzufangen, um wiederum eine neue Geschichte aufzunehmen, bis auf diese Weise die vierte Erzählebene erreicht ist, um erst dann die zuletzt begonnene Geschichte zu beenden. Auf diese verschachtelte Art erzählt Anna Hope Geschichten, die um den weißen Felsen kreisen, der bei den Wixárika Tatéi Haramara heißt und den sie für den Ursprung allen Lebens halten. Dabei sind die verschiedenen Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven, die sich auf anderen Zeitebenen bewegen, geschildert. Zu diesen zählen neben der Sichtweise der Schriftstellerin, die in der Gegenwart angesiedelt ist, die eines berühmten Sängers Ende der 60er Jahre, eines erst zwölf Jahre alten Mädchens Anfang des 20. Jahrhunderts sowie eines Kapitänleutnants aus dem Jahr 1775.

 

Schwächen in der Beschreibung der Schriftstellerin
Davon ist die Schriftstellerin, die permanent mit ihrer Unsicherheit ringt, die schwächste Figur. Auch ihr neidvoller Blick auf die mit ihr reisende Senegalesin, der es im Gegensatz zu ihr mühelos gelingt ihre Tochter zu versorgen, die stets sauber, ruhig und zufrieden ist, lässt sie nicht gerade sympathischer wirken. Zudem scheitert sie an dem Buch, das sie eigentlich während ihrer mehrmonatigen Reise über Mexiko schreiben wollte und für das sie im Vorfeld umfangreiche Recherchen angestellt hat. Leider hat Anna Hope die Gelegenheit verpasst dieser Schriftstellerin zumindest eine interessante Vergangenheit zu geben, wenn sich diese nur an die Untreue ihres Ehemanns und an ihre eher fadenscheinige Motivation, mit der sie sich Protesten gegen den Klimawandel angeschlossen hat, erinnert.

 

Charakterisierung der zentralen Figuren als Archetypen
Die dem weißen Felsen zugrunde liegende Intention der Autorin verstehe ich so, dass sie die Figuren, aus deren Sicht sie die Ereignisse schildert und denen sie keinen Namen gibt, sondern sie nur durch ihre Rolle (die Schriftstellerin, der Sänger, das Mädchen, der Leutnant) charakterisiert, eher als Archetypen denn als Personen ansieht. Das gelingt beim Sänger und beim Mädchen gut, lässt auch beim Leutnant wenig zu wünschen übrig, obgleich sein Freund Miguel Manrique die bessere Wahl als Leutnant gewesen wäre. Denn Miguel ist die interessantere, da charismatischere Figur, dessen Gedankengänge über seine besondere Verbindung zum weißen Felsen einen tieferen Einblick in dessen einzigartige Natur hätten geben können. Im Vergleich zu den zuvor genannten Figuren bleibt die Schriftstellerin blass. Am spannendsten sind die Kapitel der Schriftstellerin, wenn sie anderen Mitgliedern ihrer Reisegruppe aus dem von ihr recherchierten Leben des Sängers und den Umständen der schwersten Reise im Leben des Mädchens erzählt. Indem sie dabei teilweise den Inhalt der später folgenden Erzählungen wiedergibt, nimmt sie diesen damit aber nur einen Teil ihrer Wirkung.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge

Stärker wäre der weiße Fels ausgefallen, falls Anna Hope der Versuchung widerstanden hätte mit einer zeitlich in der Gegenwart angesiedelten Geschichte einen Rahmen um die anderen Kapitel dieses Buchs spannen zu wollen. Denn diese Erzählungen hätte ich als gelungener empfunden, wenn die Autorin den Mut bewiesen hätte diese nur für sich selbst sprechen zu lassen, statt sie in einem übergeordneten Kapitel zusätzlich zu erläutern.
Die Kapitel erzählen starke Geschichten, die mir wohl noch länger im Gedächtnis bleiben werden, abgesehen von der, die die Schriftstellerin betrifft. Dabei hat Anna Hope nur manchmal ein wenig zu dick aufgetragen, wenn sie es mit den in ihren Geschichten eine Rolle spielenden Superlativen übertrieben hat. Beispielsweise muss ja nicht gleich der berühmteste Sänger, dessen Vater der jüngster Admiral der US-Marine und maßgeblich am Ausgang des zweiten Golfkriegs beteiligt gewesen ist, zu einer Hauptfigur werden. Auch ertrinkt dieser Sänger gleich in einem ganzen Sumpf aus Problemen, indem er mit seinem Übergewicht, seiner Alkohol- und Drogensucht zu kämpfen hat, ihm eine Anklage nach seiner öffentlichen Entblößung droht und der von seiner langjährigen Freundin verlassen wurde. Zudem schildert Anna Hope die menschlichen Abgründe, die sich in den Kapiteln des Mädchens auftun, fast schon mit einem voyeuristischen Blick darauf, der sich am Leid und der Qual der Yoemen ergötzt.
Statt dieser expliziten Beschreibung der Grausamkeiten, die die Yoemen zu erdulden haben, hätte die Autorin sich besser auf die mythische Elemente ihrer Erzählung konzentriert, die dieser einen besonderen Touch geben. Denn das Mädchen besitzt nicht nur Empathie und einen guten Orientierungssinn, sondern verfügt auch über die Fähigkeiten einer Seherin. Insgesamt hätte eine ruhigere Erzählweise diesen Geschichten gut getan, weil diese die stillen Momente darin betont, die weit stärker ausgefallen sind. Beispiele dafür sind die Entdeckung der Jupiter Monde vom Leutnant durch sein Teleskop, der leise Widerstand eines hoch gewachsenen Familienvaters, wie ein Danke zur schlimmsten Demütigung der Unterdrückten werden kann und das Ende eines vollkommen über die Stränge geschlagenen Drogentrips, das ein besserer Abschluss für diesen Roman als sein tatsächliches Ende gewesen wäre.

 

3 Sterne ***

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: The White Rock
  • Herausgeber: Carl Hanser Verlag
  • Erscheinungsdatum: 20. März 2023
  • Seitenzahl: 336
  • ISBN-10:  3446276262
  • ISBN-13: 978-3446276260
  • Preis: 26 €

 

21. März 2023: 30 Tage Dunkelheit von von Jenny Lund Madsen


Ruhig erzählter Krimi mit ungewöhnlicher Meta-Ebene in isländischer Finsternis

 

Inhalt: Hannah Krause-Bendix ist als literarische Autorin mehrfach für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert worden, hat aber unter ihrer äußerst überschaubaren Leserschaft zu leiden. Um ihrem Lektor Bastian, der dennoch treu zu ihr steht, einen Gefallen zu tun, rafft sie sich zu einer Signierstunde auf der Buchmesse auf. Dort trifft sie nach einer Verkettung unglücklicher Umstände auf ihren Erzfeind Jorn Jensen, der in Hannahs Augen der schlechteste Krimi-Autor der Welt ist. Da dessen Bücher sich allerdings hervorragend verkaufen, eskaliert der Konflikt zwischen Hannah und Jorn vor einer immer größer werdenden Menge an Zuschauern und mündet in der Ansage, dass Hannah in nur einem Monat einen Krimi schreiben wird, der besser ist als alle von Jorns bisherigen Werken.

 

Zur Charakterisierung von Protagonistin Hannah Krause-Bendix
Mit Hannah hat Jenny Lund Madsen eine alles andere als sympathische Protagonistin für ihren Roman ersonnen, die dafür aber umso interessanter ist. Die neurotische Hannah, die Menschenmengen vermeidet, da sie unter Platzangst leidet, raucht wie ein Schlot, ist auf dem besten Weg zur Alkoholikerin und hat schon lange nichts mehr veröffentlicht. Die Problematik wird durch ihre fortwährende Schreibblockade verschärft. Auch nimmt sie kein Blatt vor den Mund und so trifft ihre scharfe Zunge jeden gleichermaßen. Zu ihren Opfern werden neben Krimi-Autor Jorn eine Lehrerin, die mit ihrer Klasse die Buchmesse besucht, und Praktikantin Claudia, die an Hannahs Stand aushelfen soll.
Gerade bei ihrer isländischen Gastgeberin Ella, mit der sie sich nur schriftlich verständigen kann, da Hannah kein isländisch und Ella weder dänisch noch englisch spricht, beginnt sie jedoch allmählich über ihre auf Notizzettel gekritzelten Unterhaltungen eine andere Seite von sich zu zeigen. Bei Ella hat Hannahs Lektor Bastian sie einquartiert, damit sie dort den Krimi schreiben kann, von dem er in Gedanken bereits hunderttausend Stück verkauft hat. Im kleinen isländischen Dorf Husafjördur soll Hannah die Abgeschiedenheit und Ruhe finden, die sie hoffentlich zum Schreiben inspirieren wird, indem sie ihre Schreibblockade überwindet.

 

Ungewöhnliche Ausgangssituation und in diesen Krimi integrierte Meta-Ebene
Damit hat Jenny Lund Madsen neben einer interessanten Hauptfigur auch eine ungewöhnliche Ausgangssituation für ihren Krimi gefunden. Im weiteren Verlauf erzählt die Autorin ihre eher eigenwillige Geschichte in einem ganz eigenen Tempo, so dass es etwa recht lange dauert, bis die eigentliche Handlung, die um den Mordfall kreist, in die Gänge kommt. Denn zuvor muss Hannah erst auf Konfrontationskurs mit Krimi-Schreiberling Jorn gehen, was sie überhaupt in Bredouille bringt, einen Krimi abliefern zu müssen und am Schauplatz des zukünftigen Verbrechens einzutreffen.
Zudem ist die Meta-Ebene zu etablieren, bei der eine an einem Kriminalroman arbeitende Schriftstellerin auf einen tatsächlichen Mordfall trifft. Nach Hannahs Ankunft in Husafjördur stirbt Thor, der innig geliebte Neffe von Ella, unter rätselhaften Umständen, die zunächst als Unfall deklariert werden. Dabei ist von Jenny Lund Madsen gut umgesetzt worden, wie sich Hannah die Inspiration für ihren Krimi aus der Realität zusammenklaut, indem sie die Recherchen, die sie im Todesfall von Thor anstellt, in ihren Krimi mit einfließen lässt. Ab und an diktiert aber auch Hannahs aktuelle Stimmungslage, was sie schreibt, wenn sie sich etwa den Rachegelüsten an ihrer Nemesis Jorn hingibt, um die sich in einem fast schon kathartischen Befreiungsschlag von der Seele zu schreiben. Das gibt dem Roman eine ganz eigene Note.

 

Wenig passender Humor und unglaubwürdige Entwicklungen im weiteren Verlauf
Im Verlauf des Romans zeigt sich die Meta-Ebene in Gestalt der verstärkten Integration von Jorn in dessen Handlung. In dieser Form funktioniert die eingangs starke Meta-Ebene jedoch weit weniger gut. Das geht dann Hand in Hand mit der Entwicklung, die Hannah in diesem Krimi durchläuft. So dauert das gar nicht lange, bis die in ihrem Zynismus überzeugende Hannah eher weich wie Butter ist und die in ihrer Mordermittlung durch ihre neu gewonnene Naivität behindert wird, wenn sie keinem der Dorfbewohner einen Mord zutraut. Diese Veränderung von Hannahs grundlegenden Charakterzügen erfolgte derart rasch, dass sie mir unglaubwürdig erschien. Lediglich ihre Neurosen durfte sie behalten, weil diese als Ausgangspunkt für humorvoll angelegte Szenen dienten.
Der allzu oft recht primitive Humor hat meinen Geschmack etwa beim von Ella zubereiteten Willkommensfrühstück, in dem ein Fischbällchen eine Hauptrolle spielt, nicht getroffen. Teils habe ich Episoden, die herausgestellt haben, wie ungeschickt Hannah als Hobby-Detektivin mit Restalkohol im Blut vorgegangen ist, als unpassend empfunden. Denn diese sind beispielsweise beim ersten Versuch der Befragung von Thors Freund Jonni eher in Klamauk ausgeartet. Das ist kein Vergleich zum Beginn, bei dem der Schlagabtausch von Hannah und Jorn auf der Buchmesse, in dem Hannah ihrem angestauten Frust Ausdruck verliehen hat, noch großes Kino gewesen ist.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
"30 Tage Dunkelheit" wäre weit intensiver geraten, wenn der Name dieses Krimis mehr Programm gewesen wäre. Das meine ich weniger im wortwörtlichen Sinn, der von Jenny Lund Madsen als Untermalung der düsteren Stimmung gut umgesetzt wurde. Denn Hannah besucht Island zu einer Zeit, in der die Tage extrem kurz und damit in lang währende Finsternis getaucht sind. Im übertragenen Sinn zeigen sich aber Schwächen. Da hätte ich mir gewünscht, dass die Drama-Teile dieses Krimis statt der humorvollen Szenen, der an der Figur von Jorn aufgehangenen Meta-Ebene und der Romanze hervorgehoben worden wären. Das hätte für mich eine Konzentration auf die Beziehung von Hannahs Gastgeberin Ella zu ihrer Schwester Vigdis und deren Mann Aegir bedeutet. Gelungen sind zwar die konfrontativen Begegnungen von Hannah und Aegir auf der einen sowie von Ella und Aegir auf der anderen Seite ausgefallen. Dabei hat die Autorin jedoch gerade Vigdis zu wenig Raum gegeben, so dass diese ebenfalls essentielle Figur in ihrer Reduktion auf die Rolle der lieben Schwester blass geblieben ist. Das hat der Tragik, die in den lang begrabenen Familiengeheimnissen liegt, einen Teil ihrer Wirkung genommen. Womöglich hätte sich sogar angeboten, mehr Zeit bis zum ersten Mord verstreichen zu lassen, damit Hannah Ellas Familie vor dem Unglück näher kennen lernen kann.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Tredive dages mørke
  • Herausgeber: Tropen
  • Erscheinungsdatum: 18. März 2023
  • Seitenzahl: 400
  • ISBN-10: 3608501657
  • ISBN-13: 978-3608501650
  • Preis: 18 €

 

17. März 2023: Stories von Joy Williams


Abwechslungsreich erzählte Kurzgeschichten mit großer Bandbreite abgedeckter Themen

 

Inhalt: Gloria, die einen Hirntumor hat, besucht ihre Freundin Jean und deren knapp zehnjährige Tochter Gwendal. Jean, die Ex-Männer sammelt, ist nun bei Nummer vier angekommen. Nach der Scheidung hat sie ein renovierungsbedürftiges Haus gekauft, in dem nicht einmal die Toilette funktioniert. Obwohl Jean nicht weiß, dass Gloria bald sterben wird, möchte sie mit ihr eine schöne Zeit haben, wenn die beiden Jeans in der Nähe wohnende Ex-Männer besuchen. Doch für Gloria, obwohl sie ihre weitere Reise nicht geplant hatte, da sie nicht weiß, wo sie sterben will, wird der Besuch bei Jean gänzlich unerwartet zum Ausgangspunkt eines ungewöhnlichen Roadtrips.

 

Geschichten meist aus der weiblichen Sicht
Neben "Der kleine Winter" enthält dieser Kurzgeschichtenband zwölf weitere Stories von Joy Williams. Dabei deckt die Autorin eine erstaunliche Bandbreite ab. Die Geschichten sind meist aus weiblicher Sicht wie beispielsweise der von Töchtern, Müttern, Ehefrauen, einer Geliebten, Freundin oder Nachbarin geschildert. Wenige Ausnahmen davon stellen die Stories "Die letzte Generation", "Die blauen Männer" und "Liebe" dar, die die Perspektive des kleinen Tommy, der gerade seine Mutter bei einem Autounfall verloren hat, des erst 13 Jahre alten Bomber Boyd, dessen Vater hingerichtet wurde, und des Predigers Jonas, dessen Frau an Krebs erkrankt ist, beschreiben.

 

Skurrile Motive, schräge Nebenfiguren und morbide Themen
Skurrile Motive, die die Stories von Joy Williams prägen, ziehen sich fast Leitmotiv artig durch diesen Kurzgeschichtenband. Dabei kann es sich um ein außergewöhnliches Haustier handeln ("Lu-Lu") oder um Donnas Leidenschaft für die Patienten einer Psychiatrie, die sie mehrmals täglich besucht, nachdem ihre Freundin Cynthia dort eingewiesen wurde ("Besuchsrecht"). Die ungewöhnlichen Motive können sich aber auch in der Zuneigung zu besonderen Gegenständen niederschlagen wie etwa einem nachtschwarz lackierten, aber durch und durch von Rost durchzogenen Ford Thunderbird, in den sich Lucys Mann Dwight verguckt ("Rost"), oder einer Lampe aus präparierten Hirschhufen, in die Miriam, die Frau des forensischen Anthropologen Jack Dewayne, vernarrt ist ("Kongress").
Das setzt sich in schrägen Nebenfiguren fort. Beispiele dafür sind die kleine, dicke Gwendal, die gern im Rhabarber hüpft und unbedingt eine Biographie schreiben möchte ("Der kleine Winter"), Zorro, der Sohn der von Janice mit dem Auto mitgenommenen Familie, dessen Gang-Name Skinny Puppy ist, der T-Shirts mit eigenartigen Aufdrucken trägt und überall Kreditkarten sieht ("Barmherzigkeit"), und Audrey, die Freundin von Tommys großem Bruder Walter, die Dinge wie etwa ein Buch über Eisberge stiehlt, nur um sie dann wieder zurückzubringen und die Tommy erklärt, dass sie die letzte Generation sind, da alles zu Ende geht ("Die letzte Generation").
Zudem greift Joy Williams auf morbide Themen zurück. So wurde das Bein der toughen Daisy, einer der zahllosen Ex-Freundinnen von Lucys Mann Dwight, das ihr nach einem Unfall amputiert werden musste, bereits eingeäschert und wartet nun auf den Rest von ihr ("Rost"). "Im Zug" spricht Mr Muirhead, der Vater von Jane, deren Freundin Dan die Geschichte erzählt, über berühmte Friedhöfe wie etwa den Père Lachaise in Paris und den Pantheón bei Guanajuato in Mexiko. In der "Mutterzelle" trifft sich eine Art Selbsthilfegruppe, die aus Müttern berühmter Mörder besteht, und "Die blauen Männer" handelt von der Todesstrafe von Bombers Vater, nachdem der einen Hilfssheriff und dessen Hund ermordet hat.

 

Präzise beobachtete Dramen im Leben der Figuren
Neben den ungewöhnlichen Motiven, die ihren Geschichten einen besonderen Touch verleihen, erzählt Joy Williams von den Dramen im Leben ihrer Figuren. Dabei zeichnet sich ihr Schreibstil durch ihre genaue Beobachtungsgabe aus. In "Der kleine Winter" ringt Gloria mit ihrem drohenden Tod. Trotz der Kürze der Geschichte deckt die Autorin ein breites Spektrum an Gefühlen von Gloria ab. So trinkt sie zu viel, ist oft launisch, aber auch schnell erschöpft. Meist verdrängt sie aber das bevorstehende Ende, wenn sie sich etwa unbedingt einen Hund zulegen will oder ganz spontan zu einem besonderen Roadtrip aufbricht. Die Story "Im Zug" wird neben den kindlichen Streitereien von Dan mit ihrer Freundin Jane, die Dan von oben herab behandelt, obwohl die beiden den Sommer zusammen bei Janes Familie verbracht haben, von den Problemen in der Ehe von Janes Eltern geprägt. Denn Mr Muirhead, Janes Vater, wird fortwährend von seiner Frau angeschrien. In der "Mutterzelle" setzen sich die Mütter, die nichts von den Taten ihrer Kinder ahnten, bevor diese als Mörder überführt wurden, mit dem schwierigen Verhältnis zu ihren Töchtern und Söhnen auseinander. Dabei ist die Story bewusst ambivalent gehalten, wenn die eine Mutter sich absolut von ihrem Sohn abgenabelt hat, als sie die Erinnerungen an dessen Kindheit weggeworfen hat, aber die Beziehung einer anderen Mutter zu ihrem Kind komplexer ausfällt, indem sie teilweise an ihm festhält, da sie sich erinnert, wie er ganz früher gewesen ist. "Die letzte Generation" beschreibt die unterschiedlichen Reaktionen von Tommy, seinem Vater und seinem großen Bruder Walter auf den plötzlichen Unfalltod seiner Mutter. Jedes Familienmitglied verarbeitet den Verlust auf seine Weise. Während Tommys Vater jeden Abend weinend am Küchentisch zusammenbricht, nachdem er seinen Söhnen ein Abendbrot hingestellt hat, sucht Tommy in Walters Ex-Freundin Audrey eine Art Mutterersatz.

 

Abwechslungsreich erzählte Stories mit großer Bandbreite abgedeckter Themen
Dieser Kurzgeschichtenband hat mich mit seinem Abwechslungsreichtum und der großen Bandbreite darin abgedeckter Themen (u.a. Alkoholabhängigkeit, psychische Erkrankungen, Todesstrafe) überzeugt. Dabei gleicht keine Geschichte einer anderen. Der Schreibstil von Joy Williams wird von ihrer besonderen Stärke geprägt, mir die auf nur wenigen Seiten oder in nur einigen Abschnitten eingeführten Figuren nahe zu bringen. Die gekonnte Vorstellung ihrer Charaktere fällt sogar dann prägnant aus, wenn sie dabei eine ganze Lebensgeschichte abreißt. So schildert die Autorin etwa die Beziehung des 25 Jahre älteren Dwight zu seiner Frau Lucy beginnend bei deren erster Begegnung, als Lucy noch ein Baby gewesen ist, um deren weiteren Verlauf im Zeitraffer über Dwights Geschenke an die junge Lucy abzuspulen ("Rost"). Im Gegensatz zur prägnanten Vorstellung ihrer Figuren steht das meist offene Ende der in diesem Band versammelten Kurzgeschichten, so dass diese eher Momentaufnahmen aus dem Leben der darin betrachteten Personen darstellen, die die Autorin damit in deren Mittelpunkt rückt.

 

Kleinere Kritikpunkte
Nicht jede der Stories hat meinen Geschmack gleichermaßen getroffen. Generell habe ich die aus weiblicher Sicht geschilderten Geschichten als gelungener empfunden, da mir deren Perspektive glaubwürdiger vermittelt wurde. Auch haben mir die Stories besser gefallen, die ohne übertrieben dramatische Wendungen ausgekommen sind. Ein Negativbeispiel ist der Schluss des "Besuchsrechts", der sich aus der extremen, in einen Gewaltausbruch mündenden Reaktion einer Nebenfigur ergibt. Stärker sind für mich die Geschichten ausgefallen, die die Autorin ganz um die von ihr entworfenen Figuren und deren Beziehungen zueinander kreisen lässt, wenn diese für sich selbst sprechen können, indem nur deren gewöhnliche Handlungen beschrieben werden. So stellt etwa die Story "Auswege", in der aus dem Alltag der kleinen Lizzie erzählt wird, deren Mutter Alkoholikerin ist, einen gelungenen Abschluss für diesen Kurzgeschichtenband dar.

4,5 Sterne *****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Herausgeber: dtv
  • Erscheinungsdatum: 16. März 2023
  • Seitenzahl: 304
  • ISBN-10: 3423283211
  • ISBN-13:  978-3423283212
  • Preis: 25 €

 

13. März 2023: Der Gemeine Lumpfisch von Ned Beauman


Abwechslungsreich erzählte, durchdacht konstruierte Dystopie im Gewand einer Satire

 

Inhalt: Karin Resaint hat gerade an Bord der Varuna ihre im Auftrag der Brahmasamudram Mining Company erfolgende Evaluierung, die die Intelligenz des gemeinen Lumpfisches untersucht, abgeschlossen. So entlässt sie die letzten, von ihr untersuchten Exemplare des Fisches mit Hilfe einer Frachtdrohne wieder in die Freiheit, als sie von einem durch einen Spindrifter erzeugten Sturm überrascht wird. Da sie von Abdi, einem Mitglied der Crew der Varuna gerettet wird, der sie sich dabei im wortwörtlichen Sinn geangelt hat, verbringen die beiden die Nacht zusammen. Doch dann gerät Resaint vom Regen in die Traufe. Aus heiterem Himmel wird sie in ihrer Kabine von Devi, der Kapitänin der Varuna, festgesetzt. Den kleinen Raum darf sie nicht mehr verlassen und um sie von der Außenwelt abzuschneiden, wird ihr Zugang zum Internet und allen anderen Kommunikationsmitteln gekappt.

 

Zur Charakterisierung der Protagonisten Karin Resaint und Mark Halyard
“Der gemeine Lumpfisch” wird zu Beginn abwechselnd aus Sicht von Karin Resaint und Mark Halyard, der sie auf der Varuna unter Arrest hat stellen lassen, erzählt. Erst im späteren Verlauf des Romans kommt eine weitere Perspektive hinzu. Resaint bewertet und klassifiziert als selbständige Gutachterin die Intelligenz unterschiedlicher Tierarten wie etwa des gemeinen Lumpfisches. Dabei legt sie Wert auf die Unabhängigkeit ihrer Tätigkeit und schätzt ihre Autonomie, indem sie ihrer Arbeit allein nachgehen kann, ohne dass sie Einmischung von außen zu fürchten hat oder sich in Meetings, Gruppenevents und mehr an den dort vorherrschenden Teamspirit anzupassen braucht. Auch von ihrem Umfeld wird sie so wahrgenommen, dass sie in einem Hochsicherheitsgefängnis, das ihr nur für eine Stunde am Tag Kontakt zu anderen erlaubt, zufrieden wäre, weil sie ohne weiteres auf die Anwesenheit übriger Menschen verzichten kann. Von einem ihrer Ex-Freunde wurde sie sogar als Soziopathin bezeichnet, als ihr die niedlichen Mätzchen seiner Katze gleichgültig gewesen sind.
Halyard ist Umweltverträglichkeitskoordinator bei der Brahmasamudram Mining Company geworden, um sich bei Leerverkäufen auf Auslöschungszertifikate (d.h. von einem Unternehmen zu erwerbende Zertifikate, wenn es im Zuge seiner Geschäftstätigkeit eine Tierart auslöscht) persönlich zu bereichern. Denn er verfügte mit als erster über entscheidende Informationen, die einen baldigen Kursverfall dieser Zertifikate in Aussicht stellten. So konnte er der Versuchung nicht widerstehen, seine Firma zu betrügen, damit er sich mit den aus den Leerverkäufen erzielten Gewinnen sein extravagantes Hobby finanzieren kann, das sein ganzes Gehalt verschlingt. Das besteht im Verzehren von kostspieligen Delikatessen, da Halyard nach gutem Essen süchtig ist, das noch nach etwas schmeckt.
Trotz dieser ungewöhnlichen Lebensläufe wirkten Resaint und Halyard nicht nur ziemlich unsympathisch auf mich, sondern sind auch erstaunlich blass geblieben. Ned Beauman hat es nicht geschafft mir seine beiden Hauptfiguren, die wohl aufgrund seines als Satire angelegten Romans karikaturesk überzeichnet sind, wirklich nahe zu bringen. Daneben mausert sich der Lumpfisch zum heimlichen Star, wenn er über weite Strecken des Buchs zur interessantesten Figur darin wird, obwohl er mit Abwesenheit glänzt.

 

Zum düsteren Szenario über die drohende, ökologische Katastrophe
Für sein in naher Zukunft angesiedeltes Buch entwirft Ned Beauman ein düsteres Szenario über die drohende, ökologische Katastrophe, das weniger gut in den von seinem Humor geprägten, als Satire angelegten Szenen funktioniert, dafür aber in seinen dystopischen Ansätzen überzeugt. Stark ausgefallen ist etwa die Beschreibung der Spindrifter, die besser reflektierende Wolken erzeugen sollten, um der Erderwärmung entgegenzuwirken. Aufgrund unbeabsichtigter Nebeneffekte, die aus keiner Simulation ersichtlich gewesen sind, konnten die jedoch nie in Masse in Betrieb genommen werden und so steuern nur einige als Prototyp konstruierte Spindrifter sich selbst überlassen über die Meere. Im Roman werden die Spindrifter für die eindrucksvolle Eröffnungsszene genutzt, in der sich Resaint an Deck der Varuna vor der Kulisse des durch die Spindrifter erzeugten, aufziehenden Sturms befindet und die jedem Blade Runner-Film zur Ehre gereichen würde. Ähnlich schaut das bei den autonomen Minenfahrzeugen aus, die Belagerungswaffen aus Mad Max sein könnten, aber von der Brahmasamudram Mining Company für den Abbau von Ferromangan-Knollen auf dem Grund des Baltischen Meeres eingesetzt werden.

 

Abwechslungsreich gestaltete Suche nach dem gemeinen Lumpfisch
Ned Beauman erzählt in seinem Roman im Kern eine interessante Geschichte, die durch die unterschiedlichen Stationen, die Resaint und Halyard auf ihrer Suche nach dem gemeinen Lumpfisch durchlaufen, abwechslungsreich gehalten wird. Deren Reise beginnt an Bord der Varuna, führt über das als künstliches Habitat angelegte Sanctuary North, das unter den sich selbst verordneten Sparmaßnahmen zu leiden hat, und über ein finnisches Flüchtlingslager bis nach Surface Wave. Letzteres ist eine künstliche, vor der Küste ankernde Insel, die als Refugium von wohlhabenden Freiheitsliebenden angesehen, aber auch für innovative Forschung genutzt wird, da diese eine von gesetzlicher Regulierung befreite Zone darstellt.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Die Handlung des Romans ist gut durchdacht, indem sich die eingangs noch unabhängig voneinander wirkenden Teile, die der Autor erst nur wegen seine originellen Einfälle, die sein futuristisches Setting bereichern, einzuführen scheint, im weiteren Verlauf zu einem schlüssigen, übergeordneten Ganzen zusammenfügen. Damit hat der starke Schluss einiges für mich rausgerissen und mich für die Längen, die der Roman zuvor leider hatte, entschädigt. Die meisten dieser Längen lagen für mich in den als Satire angelegten Szenen begründet, die ich als nicht sonderlich lustig empfunden habe, aber von Ned Beauman ausschweifend in ihrer Anreicherung um viele unnötige Details wiedergegeben wurden und damit langatmig ausgefallen sind. Der Spannung hätte gut getan, wenn an diesen Stellen mittels einer prägnante Erzählweise deutlich gekürzt worden wäre.
Insgesamt wäre die im Kern dieses Romans erzählte Geschichte besser zur Geltung gekommen, wenn "Der gemeine Lumpfisch" nicht als Satire, sondern als Dystopie angelegt worden wäre. Denn die dafür vorhandenen Elemente habe ich als gelungener empfunden. Dazu zählen die sich fast Leitmotiv-artig durch das Buch ziehenden Spindrifter, deren Auftritt jedes Mal ein Highlight für mich gewesen ist, das von Mücken wie aus einer biblischen Plage heimgesuchte Surface Wave sowie das düstere Finale. Das erinnert in seinem abgründigen Showdown eher an einen Thriller und wird um einen passenden Epilog ergänzt, der moralische Fragen vor dem Hintergrund der von den Protagonisten zu treffenden Entscheidungen aufwirft. So hätte sich die Charakterisierung von Resaint und Halyard, deren Motivation in ihrer Lebensgeschichte begründet liegt, mehr für ein Drama geeignet, indem die Tragik darin betont worden wäre. Halyard, über dem die ihm drohende Haftstrafe wie ein Damoklesschwert hängt, hat früh seine Schwester verloren und ist nach dem Medikament Inzidernil süchtig. Resaint, die ihre Entwicklung von moralischer Abneigung hin zu moralischem Engagement mit einem schwarzen Loch vergleicht, verfolgt diese ohne Rücksicht auf Verluste mit absoluter Konsequenz bis hin zu dem dadurch bedingten unvermeidlichen Ziel.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Venomous Lumpsucker
  • Herausgeber: Liebeskind
  • Erscheinungsdatum: 13. März 2023
  • Seitenzahl: 384
  • ISBN-10: 3954381583
  • ISBN-13: 978-3954381586
  • Preis: 24 €