Rezensionen im Juni 2023

 

Zuletzt habe ich mich von Colson Whitehead ins Harlem der 60er Jahre entführen lassen und in den mystisch angehauchten, um den politisch-historischen Kontext Sansibars bereicherten Geschichten, die Abdulrazak Gurnah in den Abtrünnigen erzählt, verloren. Im Drama, das von der Familiengeschichte von Cecile Pin inspiriert wurde, habe ich mit den Flüchtlinge aus Vietnam auf ihrem steinigen Weg mitgelitten. Sheena Patel hat mich mit ihrer ungewöhnlich erzählten Geschichte über eine Dreiecksbeziehung der besonderen Art in ihren Bann gezogen. Auch habe ich die Fortsetzung von City on Fire gelesen, die den Mittelteil der neuesten Trilogie von Don Winslow bildet und in die Filmstudios von Hollywood entführt.

 

26. Juni 2023: Harlem Shuffle von Colson Whitehead

21. Juni 2023: Die Abtrünnigen von Abdulrazak Gurnah

9. Juni 2023: Wandering Souls von Cecile Pin

6. Juni 2023: I’m a Fan von Sheena Patel

2. Juni 2023: City in Fire von Don Winslow

 

 

26. Juni 2023: Harlem Shuffle von Colson Whitehead


Kurzweiliger, episodenartiger Roman, der durch seine atmosphärischen Beschreibungen von Harlem in den 60er Jahren besticht

Inhalt: Obwohl sein Vater Big Mike ein Verbrecher gewesen ist, hat Ray Carney die Kurve gekriegt, indem er nun ein weitestgehend legales Möbelgeschäft betreibt. Neben seiner Betätigung als Möbelverkäufer ist er häuslich geworden. Mit Frau Elizabeth, die wieder schwanger ist, hat er eine Familie gegründet, als ihre Tochter May auf die Welt gekommen ist. Da will Carneys Cousin Freddie ihn als Hehler in einen groß angelegten, von Miami Joe geplanten Raubüberfall auf ein berühmt berüchtigtes Hotel mit hineinziehen. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf.

 

Zur Charakterisierung von Hauptfigur Ray Carney
Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead gliedert “Harlem Shuffle” in drei Teile, die zeitlich in den Jahren 1959, 1961 und 1964 angesiedelt sind, und hat mit "Crook Manifesto" nun eine Fortsetzung davon geschrieben, die in den 70er Jahren spielt. Protagonist beider Romane ist Ray Carney, der eher ein kleines Licht ist, was krumme Dinger anbelangt. Denn er verkauft nur ab und an neuwertig erscheinende Ware wie etwa Fernseher, die zufällig vom Laster gefallen sind, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Damit versucht er sein Einkommen aufzubessern, ist aber trotzdem ständig in den Miesen. Verluste schreibt der in seinem grundlegenden Wesen sympathische Carney, der es wegen seines Studiums der Betriebswirtschaftslehre an sich besser wissen müsste, wenn er dazu neigt jungen Paaren großzügige Ratenzahlungspläne zu gewähren, die sich sonst seine Möbel nicht leisten könnten. Carneys Umgang mit seinen aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Schwiegereltern gestaltet sich als schwierig, weil die sich eine bessere Partie für ihre Tochter Elizabeth gewünscht haben. Aufgrund von finanziellen Engpässen kann er seiner kleinen Familie nicht das Leben ermöglichen, das er ihnen gerne bieten würde. So ist ihre Wohnung zu klein, da eine größere zu kostspielig wäre. Carney hängt oft Tagträumen nach, in denen er sich vorstellt von einer schicken Bleibe aus, die er sich von der Straße her dafür aussucht, den Ausblick über Harlem zu genießen. Seinem Cousin Freddie steht er nah, indem er nach dem frühen Tod seiner Mutter für längere Zeit bei seiner Tante Millie und ihrem Sohn gelebt hat, als er mit seinem kriminellen Vater nicht zurecht gekommen ist.

 

Überzeugende atmosphärische Beschreibungen von Harlem in den 60er Jahren
Bereits in den ersten Kapiteln seines Romans ist es Colson Whitehead gelungen die Harlem Ende der 50er Jahre prägende Atmosphäre heraufzubeschwören. Das zeigt sich in den nebenher einfließenden Details, wenn Carney etwa in seinen Gedankengängen die Geschäfte auflistet, in denen auch Schwarze die von Weißen geschätzte, qualitativ hochwertigere Ware erwerben können. Dabei scheut sich der Autor nicht davor, den diskriminierenden Umgang von hellhäutigeren Schwarzen herauszustellen. Diese können fast als Weiße durchgehen, behandeln ihre eigenen Leute aber von oben herab oder beachten diese kaum, wenn die quasi unsichtbar für sie sind.

 

Durch dessen Ansiedlung im Gangster-Milieu gebotene kurzweilige Unterhaltung
Spannung lässt Colson Whitehead in seinem im Gangster-Milieu angesiedelten Roman aufkommen, indem er in die Handlung von dessen ersten Teil eine Heist-Story integriert. Dabei ist ein wesentlicher Bestandteil der in "Harlem Shuffle" zu Beginn erzählten Geschichte ein Raubüberfall, der den Stein ins Rollen bringt, wenn weitere Ereignisse dadurch bedingt in Gang gesetzt werden. Die drei verschiedenen, in diesem Buch enthaltenen Geschichten, die in unterschiedlichen Jahren spielen, lassen sich unabhängig voneinander lesen. Das schließt etwa mit ein, dass eine zerbrochene Engelsstatue, die sowohl im ersten wie im darauf folgenden Teil eine Rolle spielt, auch bei ihrem zweiten Auftritt detailliert vorgestellt wird, obgleich deren Einführung zu diesem Zeitpunkt nicht allzu lang zurück liegt.
Insgesamt sind die einzelnen Geschichten zwar derart kurzweilig geraten, dass diese beim Lesen keine Langeweile bei mir haben aufkommen lassen, deren Kürze hat dann aber wenig Raum für einen komplexeren Aufbau der Handlung gelassen. Dadurch wird betont, dass Ray Carney nur ein kleines Licht im kriminellen Milieu ist, der sich lediglich mit Hilfe von ein paar wohl überlegten Kniffen aus der Affäre zu ziehen vermag. Diese sind weit entfernt von dem in seiner ausgeklügelten Raffinesse überzeugenden Spektakel, mit dem Kint aka Keyser Söze die Polizei in den üblichen Verdächtigen auszutricksen oder Danny Ocean in Ocean’s Eleven zu glänzen weiß. Auch mangelt es Carney an der lässigen Coolness von letzterem oder dem Charisma des Sinti und Roma Tommy Shelby, der die Peaky Blinders in der gleichnamigen Serie anführt.

 

Starke Antagonisten von "Harlem Shuffle", die mehr im Fokus hätten stehen können.
Als gelungener habe ich dagegen die Antagonisten, die sich in diesem Roman versammeln, empfunden. Dabei sind die Abschnitte, die die Sichtweise von Pepper wiedergeben, eines der Highlights für mich gewesen. Pepper hat früh angefangen, als er in jungen Jahren von der Schule abgegangen ist, um sich mit Botengängen über Wasser zu halten. Nach einem Wachstumsschub hat er sich zum Schläger gemausert, bevor er für die Armee zwangsverpflichtet worden ist, weil er einmal zu oft einen bewusstlos geprügelt hat. Während seines Einsatzes im Dschungel in Burma ist Pepper, der dort seinen ersten Mord begangen hat, in krimineller Hinsicht vervollkommnet worden. Davon hätte ich gern mehr gelesen. Auch hätte ich mir gewünscht, dass Colson Whitehead Pepper und dessen enge Bekanntschaft zu Carneys Vater als Sprungbrett genutzt hätte, Big Mike und dessen zwielichtigen Machenschaften mehr Raum in "Harlem Shuffle" zu geben. Denn diese werden weitestgehend ausgespart, indem primär Carneys Perspektive geschildert wird. Der ist zu klein gewesen, um die Geschäfte seines Vaters zu verstehen, denen Big Mike größtenteils in Phasen seiner Abwesenheit von Zuhause nachgegangen ist.
Zu den Antagonisten dieses Romans zählen der durch seinen Kleidungsstil auffallende Miami Joe, der nur von einem Kick zum nächsten lebt, die ihm die von ihm ausgetüftelten Pläne verschaffen, wenn diese von Erfolg gekrönt aufgehen, und der angesehene Bankier Wilfred Duke. Hinter dessen sorgsam gehegten, hoch anständigen Fassade verbirgt sich ein Gauner und Dieb. Sogar Carney fällt darauf rein, als er sich von Duke im Zuge seiner Bewerbung um eine Mitgliedschaft im Dumas Club um sein Geld betrügen lässt. Dukes Prestigeprojekt ist die Gründung einer neuen Bank. Darin haben seine langjährigen Geschäftspartner und Freunde bereits Millionen investiert, obgleich eine Duke gegenüber kritisch eingestellte Zeitung hartnäckig behauptet, dass das alles nur ein großer Schwindel sei. Stärker hätte "Harlem Shuffle" ausfallen können, wenn sich Colson Whitehead mehr auf den soziopathisch veranlagten Miami Joe und den ihn als Napoleon abbildenden Karikaturen huldigenden Duke konzentriert hätte, statt allein den im Vergleich dazu eher blassen Protagonisten Carney in seinen Mittelpunkt zu stellen.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Harlem Shuffle
  • Herausgeber: btb Verlag
  • Erscheinungsdatum: 11. Mai 2023
  • Seitenzahl: 384
  • ISBN-10: 344277201X
  • ISBN-13: 978-3442772018
  • Preis: 13 €

 

21. Juni 2023: Die Abtrünnigen von Abdulrazak Gurnah

 

Kunstvoll arrangiertes Liebesdrama mit ungewöhnlichen mystischen Elementen im politisch-historischen Kontext Sansibars

Inhalt: 1899 in Sansibar. Als Hassanali Zakariya eines Morgens seiner Verpflichtung als Mujahedin nachkommt, indem er durch die Gassen seiner Heimatstadt eilt, um zum Morgengebet zu rufen, glaubt er aus den Schatten heraus von einem Ghul auf den Stufen der Moschee angegriffen zu werden. Dann muss er seinen Irrtum erkennen, da er den vor ihm liegenden Mann nur aufgrund der noch herrschenden Dunkelheit nicht gleich als solchen zu erkennen vermochte, bevor der wegen seiner Entkräftung zusammengebrochen ist. Wie es die Gastfreundschaft gebietet, bringt Hassanali den Fremden, der dieser in seinem geschwächten Zustand dringend bedarf, zu sich nach Hause. Das ist der Engländer Pearce. Als einziger Europäer, den Hassanali von nahem zu Gesicht bekommen hat und der einen Fuß in dieses Viertel gesetzt hat, ist er eine Sensation. Aber nach seiner Ankunft nimmt auch das Drama seinen Lauf.

 

Zu Protagonist Hassanali, einer der Hauptfiguren des ersten Teils
Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah beginnt seine Erzählung von “Die Abtrünnigen” beinahe mit einem mystischen Touch, wenn der Anfang dieses Romans Anleihen von einer Legende hat. Dazu trägt das erste Aufeinandertreffen von Hassanali und Pearce, bei dem Hassanali zunächst an einen Geist oder Dämon denkt, bei. Begleitet wird das von den Kommentaren der drei Ältesten Hamza, Kipara und Jumaane, die zufällig anwesend sind, als Hassanali Pearce zu seinem Haus tragen lässt, und dem weiteren Verlauf folgen, um ihre Neugierde zu stillen. Diese halten sich nicht mit ihrem guten Rat Hassanali gegenüber zurück und erinnern dabei an den in klassischen griechischen Theaterstücken auftretenden Chor.
Hassanali ist ein einfacher Mann von kleiner, aber untersetzter Statur, dessen Alltag von seinen Ängsten bestimmt wird. Den Beruf des Krämers hat er von seinem Vater übernommen. So wird ihm nachgesagt, dass er geizig sei, obwohl er in Geld schwimme, und sein Leben in einfachen Verhältnissen Fassade für das von ihm heimlich beiseite geschaffte und versteckte Vermögen sei. Sein bescheidenes Zuhause, das er zusammen mit seiner Frau Malika und seiner Schwester Rehana bewohnt, hat nur zwei Zimmer, die sich die drei zu teilen haben. Hassanali sonnt sich im Respekt seiner jungen Braut Malika, die halb so alt wie er ist, hat dafür jedoch der fortwährenden Kritik von Rehana zu trotzen. Die verweigert sich den ihm zustehenden Respekt, wenn sie an jeder seiner Handlungen und Entscheidungen etwas auszusetzen hat.

 

Abwechslungsreiche Erzählweise aus verschiedenen Blickwinkeln
Abwechslungsreich wird “Die Abtrünnigen” aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Diese umfassen etwa im ersten Teil des Romans neben der Sichtweise von Hassanali die seiner Schwester Rehana, des von ihm vor der Moschee aufgefundenen Engländers Martin Pearce sowie des seit vier Monaten in der Stadt stationierten britischen Regierungsbeamten Frederick Turner, der sich Pearce nach Hassanali annimmt und diesen in seinem geschwächten Zustand versorgen lässt. Das erste Drittel dieses Romans stellt eher eine Ouvertüre zu dem Liebesdrama dar, das sich dann entfalten wird, und wechselt die Erzählung der Geschichte in der Beschreibung der Gedankengänge von Hassanali über Frederick bis hin zu Rehana wie Martin. Dabei hat mich die erfolgende Verschiebung des Blickwinkels überzeugt, die einerseits die Sichtweise der jeweiligen Figur wiedergibt, andererseits aber auch deren Betrachtung von außen ermöglicht.

 

Politisch-historischer Kontext Sansibars im Jahr 1899

Hassanali und Rehana sind mir in ihren Sorgen und Ängsten weit sympathischer als der schroffe Turner gewesen. In dessen von seinem kolonialen Anspruchsdenken geprägten Ansichten, die er seinem Gast Pearce in Monologartig geratenen Vorträgen erläutert, liegt wohl sein ruppiger bis Furcht einflößender Umgang mit der einheimischen Bevölkerung begründet. Ein Beispiel dafür ist dessen Dogma von der Faulheit der befreiten Sklaven, aufgrund derer die Plantagen verkommen sind, weil diese ihre Zeit lieber mit Nichtstun vergeudet als einer bezahlten Arbeit verbracht haben. Auch sind die Ausführungen, die Abdulrazak Gurnah nebenher zu einem weitestgehend vergessenen, da höchstens am Rande behandelten Kapitel deutscher Geschichte einfließen lässt, von Interesse. Zu diesen historischen Ereignissen zählen das Abkommen zur Abgrenzung der Interessenssphären in Ostafrika zwischen Deutschland und Großbritannien aus 1886 sowie der Verzicht auf alle Ansprüche nördlich Deutsch-Ostafrikas von deutscher Seite im Jahre 1890.

 

Komplexer Aufbau der Handlung auf unterschiedlichen Zeitebenen
"Die Abtrünnigen" gewinnt im weiteren Verlauf durch die auf zwei zusätzlich eingeführten Zeitebenen erzählte Handlung eine gewisse Komplexität. Nach dem Jahr 1899 springt der Roman für dessen zweiten Teil in die frühen Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, um die Kindheit und Jugend der von da an zentralen Figuren Amin und seines jüngeren Bruders Rashid zu schildern. Der dritte Teil wiederum spielt zwanzig Jahre nach dem Ende seines Vorgängers. Dabei werden die Zusammenhänge, die zwischen den verschiedenen zeitlichen Abschnitten bestehen, erst nach und nach enthüllt. Geschickt konstruiert Gurnah den nicht gänzlich chronologischen Aufbau seiner Geschichte, wenn er während des Erzählens schon mal in die Vergangenheit abdriftet oder Ausblicke auf die Zukunft liefert und kurz vor Schluss einen Abriss der letzten Jahrzehnte aus Sicht eines Protagonisten einschiebt.

 

Kleine Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge

Diese kunstvoll arrangierte Art der Wiedergabe der Handlung führt zwar einerseits zu einigen überraschenden Entwicklungen unterschiedlicher Figuren, sorgt aber andererseits auch dafür, dass das Drama in ihrem Leben teilweise zu abstrakt geblieben und damit wenig nachvollziehbar für mich gewesen ist. Denn allzu oft spart der Autor die belastenden Abschnitte im Wesentlichen aus, indem er diese als Rückblick aus Sicht anderer, die diese als Gerüchte untereinander austauschen, wiedergibt oder kurz nach deren Auftreten die Perspektive zu einer Person wechselt, die die tragischen Ereignisse kaum zur Kenntnis nimmt.
Stärker wären "Die Abtrünnigen" ausgefallen, wenn Gurnah seine überzeugende Kombination aus ungewöhnlichen mystischen Elementen eingebettet in den historisch politischen Kontext Sansibars in den Mittelpunkt seines Romans gestellt hätte. Beispiele dafür sind die nur am Rande einfließenden Legenden, die sich um ein lang verehrtes Grab und den giftigen Biss eines Skorpions ranken, aber auch die gelungenen Bilder, die der Autor für politische Umbrüche sowie den diesen vorausgehenden Ist-Zustand Sansibars aus früheren Zeiten gefunden hat. So wird etwa das Einfärben einer Karte von Afrika aus britischer Sicht zur Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben, die sich an den Ansprüchen wie Einflussgebieten verschiedener den Kontinent dominierender europäischer Nationen orientiert. Davon hätte ich gern mehr gelesen, da die tragische, Blut getränkte Geschichte Sansibars - anstelle der unglücklichen Liebesbeziehungen auf individueller Ebene - das eigentliche Drama im Kern dieses Romans darzustellen scheint.

 

4,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Desertion
  • Herausgeber: Penguin
  • Erscheinungsdatum: 26. April 2023
  • Seitenzahl: 400
  • ISBN-10: 3328602615
  • ISBN-13: 978-3328602613
  • Preis: 26 €

 

9. Juni 2023: Wandering Souls von Cecile Pin


Eindringlich geschildertes Porträt von Flüchtlingen aus Vietnam

 

Inhalt: Im November 1978 verschwinden im vietnamesischen Dorf Vung Tham immer mehr Menschen, die mitten in der Nacht abgeholt werden, um in Umerziehungslager gebracht zu werden. Indem Anhs Familie gefährdet ist, da ihr Vater Englisch unterrichtet, unternimmt sie gemeinsam mit ihren jüngeren Brüdern Thanh und Minh die gefährliche Reise von Vietnam nach Hongkong, die ihnen glückt. Dort angekommen werden sie sogar an Land gelassen und stranden in einer zwei wöchigen Quarantäne. Währenddessen warten sie auf den Rest ihrer Familie, die aus Anhs Eltern und ihren übrigen Geschwistern, ihrem kleinen Bruder Dao, ihren Schwestern Mai und Van sowie Baby Hoang besteht, weil diese ihnen folgen wollten. Doch dann geschieht die Katastrophe und das Drama nimmt seinen Lauf.

Zur Charakterisierung von Protagonistin Anh

Cecile Pin legt einen brutalen Einstieg in ihren Roman Wandering Souls hin, der primär aus Sicht seiner Protagonistin Anh erzählt wird, wenn es nur wenige Seiten dauert, bis die Tragödie sich ereignet, als von Leichen am Strand berichtet wird. Anhs bis zu diesem Zeitpunkt recht heile Welt bricht auf einen Schlag zusammen, indem sie nun das älteste überlebende Mitglied ihrer Familie ist und damit Verantwortung für ihre beiden jüngeren Brüder zu tragen hat. Dabei ist der Autorin eine ambivalente Charakterisierung ihrer Hauptfigur Anh gelungen, die in die Rolle der Mutter schlüpft, obwohl sie selbst noch ein Kind ist. Einerseits lernt sie Stärke zu zeigen, dadurch dass sie ihren Kummer, die Sorgen und Ängste unterdrückt. Denn sie möchte Thanh und Minh, die einen Elternersatz benötigen, Halt und Stabilität geben, um sie nicht in unnötiger Weise zu beunruhigen. Andererseits trifft sie trotzige Entscheidungen, die ihr tatsächliches Alter und ihre Unreife, die sie mit ihren sechzehn Jahren besitzt, betonen. Wütend ist sie nämlich auf ihren Onkel Nam, der zuvor in die USA ausgewandert ist und sich dort das Leben seiner Träume aufgebaut hat, weil sie ihm die Schuld an der Katastrophe gibt. Durch ihn wurde auch in Anhs Vater der Wunsch geweckt, es seinem Bruder gleich zu tun und die beschwerliche Reise nach Amerika zu versuchen.

 

Starke Nebenfiguren und Anhs Entwicklung im Mittelpunkt dieses Romans
Kaum im Fokus stehen Anhs Geschwister, die aber gerade als Kinder anhand von wenigen, dafür umso prägnanteren Beobachtungen ihres Verhaltens, in denen sich der noch vollends auszubildende Charakter von Cecile Pin eingefangen wird, durch Anh gekonnt beschrieben werden. Ihre Schwestern Mai und Van tragen gern das Essen zu Tisch, um die besten Stücke naschen zu können, ihr schüchterner Bruder Dao versteckt sich lieber hinter Anh, statt mit den anderen Kindern zu spielen, und das Verhältnis zwischen den Brüdern Thanh und Minh ist von den kleinen Spitzen ihre Gehabes, mit dem sie untereinander konkurrieren, geprägt.
Im Zentrum von Wandering Souls steht die Entwicklung von Anh, bei der ihr Hineinwachsen in die für Thanh und Minh zu übernehmende Mutterrolle auf der für sie so unberechenbaren Reise von Vietnam bis ins Vereinigte Königreich, das ihr zuvor nicht bekannt gewesen ist, wiedergegeben gibt. Dabei hat mich Cecile Pin mit ihrem ungewöhnlichen Porträt einer jungen Frau überzeugt, die auch wenn sie nur einfachen Tätigkeiten als im Akkord arbeitenden Näherin in einer Fabrik nachgeht, Eindruck hinterlassen hat. Im Kontrast dazu setzt die Autorin wiederholt Akzente mit Szenen, in denen sie Momente beschreibt, die das junge Alter ihrer Hauptfigur verdeutlichen, wie beispielsweise das Schlittenfahren im ersten Schnee, den Anh in ihrem Leben erlebt.

 

Kleine Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Die Geschichte, die im Kern dieses Romans erzählt wird, ist derart stark ausgefallen, dass ich mir gewünscht hätte, die Autorin hätte auf das Meiste, das sie kunstvoll drum herum arrangiert hat, verzichtet. Denn das bringt die Intensität, in der Anhs Werdegang anhand der von ihr gemachten Erfahrungen geschildert wird, nur um einen Teil der dabei erzeugten Wirkung, indem der Fokus auf andere Themen gelenkt wird. So hätte ich Wandering Souls als gelungener empfunden, wenn Cecile Pin etwa ihre in kursiv gedruckten Anmerkungen, die kontinuierlich zum Abschluss von Kapiteln mit einfließen, gesammelt als persönliches Nachwort der Autorin ans Ende ihres Romans gestellt hätte, das sich mit der Entstehung dieses Buchs und ihrer in diesem Zusammenhang getätigten Recherche auseinandersetzt.
Besonders gefallen hat mir das Wandering Souls abrundende Glossar, weil dieses recht ausführlich geraten ist und ich das gerade im Hinblick auf exotische Früchte und typisch vietnamesische Gerichte als nützlich angesehen habe. Darüber hinaus hätte ich mir Anhänge gewünscht, die weitergehende Informationen zum historischen Kontext dieses Romans geliefert hätten. Dafür hätten sich beispielsweise der Brief von Margaret Thatcher im Speziellen und ihre Flüchtlingspolitik im Allgemeinen oder eine Zeitachse des Vietnamkriegs sowie eine detaillierte Beschreibung relevanter Operationen anstelle der aus Sicht von Private resp. Sergeant Jackson wiedergegebenen Kapitel, die in unnötiger Weise zusätzliche Figuren einführen, da keine unmittelbare Verbindung zu Anhs Familie besteht, angeboten. Auch hätte dem Roman gut getan, wenn sich Cecile Pin statt Abschnitte aus der Perspektive von Dao nach seinem Tod zu schildern, bei denen es der Autorin an poetischem Talent mangelt, mehr Zeit dabei gelassen hätte, Anhs Familie vor der Katastrophe vorzustellen. Die dazu passenden, wirklich interessanten Seiten, die kulturell bedingte Unterschiede in der Art zu trauern und daraus resultierende Bestattungsriten anhand von besonders gegensätzlich ausgefallenen Beispielen behandeln, wären besser in einen separaten Anhang ausgelagert worden.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: Wandering Souls
  • Herausgeber: Hoffmann und Campe
  • Erscheinungsdatum: 4. Mai 2023
  • Seitenzahl: 240
  • ISBN-10: 3455015700
  • ISBN-13: 978-3455015706
  • Preis: 23 €

 

6. Juni 2023: I’m a Fan von Sheena Patel


Ungewöhnliches Debüt mit inkonsistenter Hauptfigur über eine Dreiecksbeziehung der besonderen Art

 

Inhalt: Obwohl der verheiratete Mann die Affäre mit der namenlosen Erzählerin beendet hat, will sie unbedingt wieder mit ihm zusammen sein. Besessen ist sie jedoch nicht von seiner Gattin, sondern von der Frau, die sie als Geliebte dieses Mannes ersetzt hat. Um zu verstehen, warum er sie für diese Frau verlassen hat, stalkt sie sie online, da sie in den sozialen Medien sehr aktiv ist, und spioniert auch deren Freunde aus.

 

Beschreibung der Hauptfigur und weiterer Beteiligter der Dreiecksbeziehung
"I’m a Fan" wird von Sheena Patel aus Sicht ihrer Hauptfigur geschildert, die zwar selbst in einer Beziehung ist, aber dennoch nur den Mann, mit dem sie eine Affäre hatte, begehrt. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Freund in einer Wohnung in London, für die sie jeden Monat kaum die Miete zusammenbekommen. Ihr Freund plant ihrer beider Zukunft, wenn er an die Rollen- und Aufgabenverteilung denkt, falls sie Kinder hätten. Denn dann würde er Zuhause bei den Kindern bleiben, um sie aufzuziehen, während die Protagonistin dieses Romans weiter arbeiten gehen würde.
Im Gegensatz zu den prekären Umständen, unter denen die namenlose Erzählerin lebt, ist die Geliebte des "Mannes, mit dem sie zusammen sein will", die Tochter eines US-Promis. Sie hat Zehntausende Follower in den sozialen Medien, ist mit anderen Trendsettern befreundet und zelebriert öffentlich ihren luxuriösen Lebensstil. Weil das gerade Mode ist, betreibt sie - nicht etwa weil sie auf das Geld angewiesen wäre - mit ihrer Freundin Val ein kleines Geschäft, in dem sie kostspielige Stücke wie perlenbesetzte Goldringe für 8.000 Pfund oder handgemachte italienische Stiefel für knapp 1.000 Pfund anbietet.

 

Ein eigenwilliger Erzählrhythmus trifft auf einen provokanten Schreibstil und nebenher einfließende soziale Kritik
"I’m a Fan" ist durch den ungewöhnlich sprunghaften, oft recht provokanten Schreibstil von Sheena Patel geprägt, der von der meist sehr kurz geratenen Länge der Kapitel, die besondere, aber bestens dazu passende Überschriften tragen, ergänzt wird. Obwohl die Autorin ihren Figuren Namen verweigert, indem sie stattdessen “der Mann, mit dem ich zusammen sein will”, “die Frau, von der ich besessen bin” oder der Pfirsich genannt werden, bin ich an diesen ganz nah dran gewesen, als ich tief in die Gedankengänge der Protagonistin eingetaucht bin.
Sheena Patel legt ein hohes Tempo vor, wenn sie ihre Geschichte, die sie nicht chronologisch abhandelt, in einem eigenwilligen Erzählrhythmus wiedergibt. Zu Beginn des Romans ist die Beziehung zwischen dessen Hauptfigur und dem "Mann, mit dem sie zusammen sein will” bereits rein platonischer Natur. Denn sie bemüht sich diesem Mann eine gute Freundin zu sein, weil das die einzige Rolle in seinem Leben ist, die noch nicht vergeben ist. Erst im weiteren Verlauf wird von deren kurzer Affäre berichtet, um dann ihre erste Begegnung und die darauf folgenden Annäherungsversuche, die primär von ihm ausgegangen sind, nachzuschieben. Im Hier und Jetzt verliert sich die Ich-Erzählerin in ihren Gedankengängen, indem sie sich ihrer Obsession etwa in ausufernden Was-wäre-wenn-Tagträumen hingibt. Diese stehen im Kontrast zu Abschnitten, in denen eine halbwegs reflektierte Auseinandersetzung mit ihrer Besessenheit und ihrem zu Stalking tendierendem Verhalten erfolgt. Zudem lässt die Autorin in Essay-artigen Kapiteln soziale Kritik mit einfließen, die den von Kapitalismus bestimmten Kunstbetrieb oder Diskriminierung im Alltag anprangern. Der Fokus liegt dabei aber auf den Klassenunterschieden, die sich im vom Wohlstand geprägten Leben der "Frau, von der sie besessen ist" zeigen. Mit ihrer teuren Designer Garderobe, die für sie ebenso selbstverständlich ist wie ihre echten Bio-Nahrungsmittel, grenzt sie sich deutlich vom Milieu der Ich-Erzählerin ab, die nur vom sozialen Aufstieg träumen kann, wenn sie denn endlich mit dem Mann, den sie begehrt, zusammen wäre.

 

Sogartige Wirkung trotz der Inkonsistenzen in der Charakterisierung der Hauptfigur
Im Mittelpunkt von "I’m a Fan" steht die gelungene Beschreibung der Beziehung zwischen der Hauptfigur und dem "Mann, mit dem diese zusammen sein will”. Das reicht von deren Entstehung, die ihren Anfang in seinem Umwerben genommen hat, weil er abhängig von der Bewunderung durch Frauen ist, über deren Entwicklung bis hin zu ihrem obsessiven Verhalten, als ihre Zuneigung erst in Anbetung, dann in Besessenheit umgeschlagen ist. Indem er sie sich für alle Fälle warm zu halten gedenkt, ignoriert er sie phasenweise, um ihr anschließend aber wieder Hoffnungen zu machen. In der Schilderung dieses ambivalenten Verhältnisses zeigen sich die Stärken von Sheena Patels mutigem Schreibstil, mit dem sie Grenzen überschreitet, wenn sie sich nicht um Normen und Konventionen schert. Die besondere Art ihre Geschichte zu erzählen hat mir ein intensives Leseerlebnis beschert, das mich in seinen Bann gezogen hat.
Der sogartigen Wirkung, die "I’m a Fan" auf mich ausgeübt hat, hat das zwar keinen Abbruch getan. Dennoch habe ich die in sich inkonsistente Charakterisierung der Hauptfigur im weiteren Verlauf des Romans zunehmend als Schwäche empfunden. Widersprüche bestehen zwischen den verschiedenen Facetten der Protagonistin, die nach und nach in unterschiedlichen Kapiteln aufkommen. Beispielsweise wollte für mich nicht so recht zusammen passen, dass sie sich von dem Mann, den sie anbetet, von oben herab behandeln lässt und ganz nach dessen Pfeife tanzt, so wie es ihm beliebt. Dagegen stellt sie ihren Freund in der Öffentlichkeit bloß, indem sie ihn vor deren gemeinsamen Freunden oder seinen Eltern erniedrigt, obgleich er davor zu fliehen sucht. Allein unter sich reichen ihre Misshandlungen bis hin zu Schlägen, wenn sie auf ihn einprügelt. Einerseits setzt sich die Ich-Erzählerin in einem Essay-artigen Kapitel mit einer Ausstellung von Abbas Zahedi auseinander. Andererseits rastet sie bei Werken von Paul Klee und in einer Produktion von Pina Bauschs 1980 aus, weil sie nichts versteht und sich dumm dabei vorkommt. Zwar verstärkt Sheena Patel durch die kontrastreiche Erzählweise, die durch die aufeinander treffenden Widersprüche erzeugt wird, die Intensität von "I’m a Fan". Das geht allerdings zulasten der Glaubwürdigkeit der Protagonistin. Besser hätte mir das Buch gefallen, wenn zusätzlich zur Sichtweise der Hauptfigur weitere Perspektiven in diesen Roman integriert worden wären. Dafür hätten sich neben dem Mann, mit dem sie zusammen sein will, und der Frau, von der sie besessen ist, auch ihr Freund sowie ihre Mutter angeboten. Denn das hätte die Einbeziehung anderer Aspekte in die Handlung durch die Betrachtung der Hauptfigur von außen, die wohl oft Diskrepanzen zur Wahrnehmung aus sich selbst heraus aufweist, bei einer in sich stimmigen Charakterisierung der Protagonistin ermöglicht.

 

4,5 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: I’m a Fan
  • Herausgeber: Hanser
  • Erscheinungsdatum: 15. Mai 2023
  • Seitenzahl: 240
  • ISBN-10: 3446276807
  • ISBN-13:  978-3446276802
  • Preis: 20 €

 

2. Juni 2023: City of Dreams von Don Winslow


Nicht ganz so gelungene, da wenig eigenständige Fortsetzung um den Gangster Danny Ryan

 

Inhalt: Danny Ryan will möglichst viel Abstand zwischen sich und Providence in Rhode Island bringen, weil er auf der Flucht ist, nachdem er den korrupten Agenten Jardin erschossen hat und zehn Kilo H, die im Verkauf auf der Straße Millionen eingebracht hätten, im Meer entsorgt hat. Begleitet wird Danny von seinem Vater Marty und Sohn Ian sowie dem kläglichen Rest der einst so stolzen irischen Mafia seiner Heimatstadt, der aus seiner Crew besteht. Auf den Fersen sind Danny die FBI-Agentin Moneta, die auf Rache sinnt, da Jardin ihr Geliebter gewesen ist, und dem seine Schulden über den Kopf wachsenden Peter Moretti, der als Kopf der italienischen Mafia zwar den Krieg gewonnen hat, nun aber in seinen Geldsorgen ertrinkt. Obwohl Danny über keinen Notgroschen verfügt, ihm kein sicherer Fluchthafen bekannt ist und er zu viele Feinde hat, die mit allen Mitteln nach ihm suchen, gedenkt er das seiner Frau Terri auf ihrem Totenbett gegebene Versprechen, ihren Sohn zu beschützen, zu halten. Komme, was da wolle.

Protagonist Danny Ryan und seine ihm verbliebene Gang

“City of Dreams” ist nach “City on Fire” der zweite Teil einer Trilogie von Don Winslow, der genau in dem Punkt beginnt, an dem der Vorgänger geendet hat. Obwohl der Autor am Anfang in zusammengefasster Form zentrale Ereignisse des ersten Bandes wiedergegeben hat, ist mir die Orientierung in diesem Roman zunächst schwer gefallen, indem ich nur mühsam den Überblick behalten konnte. Das lag wohl primär im recht umfangreichen Figurenarsenal begründet, mit dem “City on Fire” ausgestattet ist. In dieser Hinsicht hätte ich ein vorangestelltes Personenverzeichnis als hilfreich empfunden.
Der in der irischen Mafia groß gewordene Danny, der noch unter dem Verlust seiner Frau Terri leidet, die ihrer Krebs-Erkrankung erlegen ist, hat sich in “City of Dreams” über weite Strecken anderen Herausforderungen zu widmen, wenn er sich an die für ihn ungewohnte Rolle als Vater zu gewöhnen hat. Denn seine Verantwortung besteht nun darin, für den kleinen Ian, der bereits seine Mutter verloren hat, da zu sein. Zudem hat er sich um seinen Vater Marty zu kümmern, weil der immer häufiger Aussetzer hat, so dass dessen Diagnose Demenz wenig überraschend kommt. Auch muss Danny seine Gang unter Kontrolle behalten, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, was die Sicherheit seiner Familie gefährden würde. Sorgen bereiten Danny die jungen "Messdiener" Kevin Coombs und Sean South, die im guten wie im schlechten Sinn verrückt sind, indem er auf die Loyalität seines besten Freundes Jimmy Mac Neese, der ein ausgezeichneter Fluchtwagenfahrer ist, und von Ned Egan, dem Leibwächter seines Vaters, zählen kann.

 

Schwächen im Spannungsaufbau nach dem starken Prolog
Nach dem Prolog, der zeitlich deutlich später als der Beginn dieses Romans angesiedelt ist und der wegen seines offen gehaltenen Ausgangs, der die Danny von Seiten neu gewonnener Feinde drohenden Schwierigkeiten anreißt, spannend geraten ist, setzt die eigentliche Handlung ein. Die erst so steil angezogene Spannungskurve tendiert dann gegen Null, wenn Don Winslow bis zum Finale des ersten Teils so gut wie keine Szene einbaut, die das Adrenalin nach oben treiben würde. Denn der Autor stellt in den Mittelpunkt seines Buchs, wie Danny seinem Sohn ein richtiger Vater wird, da er seine Zeit damit verbringt, mit ihm auf den Spielplatz zu gehen, ihn dort rutschen zu lassen oder mit ihm im Pool zu planschen. Dabei hat die in “City of Dreams” erzählte Geschichte durchaus ihre interessanten Komponenten, die aber weniger bei Danny liegen und deren Intensität eher in den darin geschilderten Dramen als in Überfällen, Schießereien, Verfolgungsjagden und Mordanschlägen, die “City on Fire” in seiner Beschreibung des zwischen irischer und italienischer Mafia tobenden Kriegs geprägt haben, begründet liegt.
Hierzu hätte Don Winslow den Fokus seines Romans auf diejenigen seiner Figuren richten sollen, in deren Leben die Tragik die Oberhand gewinnt. Dafür hätten sich etwa die Demenz Erkrankung von Dannys Vater Marty und mehr noch die an ihrem Unglück zerbrechende Familie von Peter Moretti angeboten, zu der seine Frau Celia und deren drei Kinder gehören. Über die Probleme von deren jüngster Tochter, die sich immer weiter zuspitzen, verzweifelt ihre Mutter und weiß sich nicht anders zu helfen, als sie in eine luxuriöse Privatklinik einweisen zu lassen. Ihr Vater bemüht sich zwar, seiner Tochter die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie so dringend braucht, scheitert aber daran, weil er von seinen Geldsorgen abgelenkt ist, die auch die Finanzierung eines Aufenthalts in einer derart teuren Klinik verhindern. Statt in unnötiger Weise an der Vorlage der Aeneis festzuhalten und sich auf seinen Protagonisten Danny zu konzentrieren, hätte der Autor der Tragödie um die Familie Moretti nur mehr Raum geben müssen, damit das darin beinhaltete Drama seine Wucht entfalten kann.

 

Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge
Zudem rückt Don Winslow einen Handlungsstrang, der um die Filmstudios in Hollywood kreist, in den Mittelpunkt seines Romans. Die darüber eingeführte Meta-Ebene, die im Thema des dort gedrehten Films begründet liegt, ist zwar die Grundlage für einige humorvolle Szenen, die die Absurdität der Situation zur Schau stellen. Dadurch wird jedoch der eigentlich diese Trilogie bestimmende Grundton verfehlt, der in "City on Fire" vorgegeben wurde und zu einem Mafia-Epos passt. Abgesehen davon hebt sich "City on Dreams" kaum von seinem Vorgänger ab, wenn dieser Roman zu wenig Eigenständiges beizutragen hat und so eher die Geschichte des ersten Bandes wiederholt wird. Stärker wäre "City on Dreams" ausgefallen, wenn das Buch mehr Nebenfiguren wie der Chicagoer Mafia, die eine Zweigstelle in L.A. eröffnet hat und nun ihre Fühler nach Vegas ausstreckt, oder dem Drogenbaron Popeye Abbarca, der im Prolog als einäugiger Zyklop Eindruck hinterlassen hat, gefolgt wäre statt derart detailliert zu beschreiben, wie Danny die Füße still halten muss, um unsichtbar zu bleiben und nur noch legalen Tätigkeiten nachgehen darf.
Meinem Empfinden nach hat sich Don Winslow anders als in "City on Fire" und der gelungenen Integration eines Zyklopen in die Handlung allzu sehr an der Vorlage der Aeneis sowie weiterer Sagen, die den trojanischen Krieg und daraus resultierende Ereignisse auf Seiten der Griechen behandeln, orientiert. Dadurch steht etwa der Ausgang der Romanze, die sich zwischen Danny und einer Hollywood-Schauspielerin entspinnt, die er während der Dreharbeiten zum Film kennengelernt hat, bereits fest. Besonders deutlich tritt diese Schwäche aber im Drama um die Familie Moretti zutage. Dabei erzählt der Autor die entsprechende griechische Sage nach, ohne jedoch die Wucht der darin beinhalteten Tragödie heraufbeschwören zu können. So ist für mich, weil ich das Original kannte, früh klar gewesen, welchen Verlauf die Geschichte der Familie Moretti nehmen und welche Todesfälle das nach sich ziehen wird. Damit ist der drastische Überraschungseffekt, den Don Winslow wohl durch die Art, in der er dieses Drama wiedergegeben hat, das derart plötzlich seinen Kulminationspunkt erreicht hat, erzielen wollte, bei mir verpufft.

 

4 Sterne ****

 

Allgemeine Angaben zum Buch:

  • Originaltitel: City on Fire
  • Herausgeber: HarperCollins
  • Erscheinungsdatum: 23. Mai 2023
  • Seitenzahl: 368
  • ISBN-10:  3365001697
  • ISBN-13: 978-3365001691
  • Preis: 24 €

Die Die City on Fire-Saga: